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Nahrungsverweigerung – was steckt dahinter?
Mirja Katrin Modreker
Was tun, wenn Nahrung und Flüssigkeit vehement abgelehnt werden? In der Onkologie,
der Geriatrie und der Palliativmedizin kommt ein solches Verhalten häufig vor. Für das betreu-
ende Team und auch die Angehörigen bedeutet das eine grosse Herausforderung, insbe-
sondere wenn die Kommunikation eingeschränkt ist. Hier müssen alle Beteiligten differen-
ziert vorgehen und ergründen, ob diese Entscheidung bewusst getroffen wurde oder ob
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behandelbare Gründe dahinterstecken.
Besonders bei schwer kranken und älteren Menschen ist man im Praxisalltag häufig mit dem Problem der Nahrungsverweigerung konfrontiert. Meist schildern die Angehörigen und/oder die Pflegekräfte hierzu ihre Sorgen. Da Essen und Trinken bekanntlich viel mehr als nur Nahrungsaufnahme ist, kann sich eine mit Konflikten aufgeladene Situation zwischen Patienten und Betreuenden aufbauen.
Man unterscheidet folgende Patientengruppen: 1. Kognitiv klar orientierte Patienten, die sich zum
Beispiel aufgrund weit fortgeschrittener (nicht) onkologischer Erkrankungen bewusst für den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) entscheiden. Laut der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist der FVNF als eigene Handlungskategorie einzuordnen, weder als Suizid noch als Therapieverzicht zu werten (1). 2. Patienten, die aus somatischen Gründen (Dysphagie, Schmerzen) sowie wegen fehlenden Appetits Nahrung ablehnen (z. B. bei fortgeschrittenen onkologischen Erkrankungen).
Fallbeispiel: Betagte Patientin mit Abwehrhaltung
Eine 91-jährige Patientin mit zunehmend kognitivem Abbau kommt trotz Pflegedienst und familiärer Unterstützung in ihrem Alltag nicht mehr zurecht. Nachdem sie zweimalig in der Nacht auf der Strasse desorientiert aufgefunden worden ist, zieht sie in eine Pflegeeinrichtung. Sie lebt sich dort gut ein, der kognitive Abbau schreitet zunehmend voran. Sie zeigt in ihrer Umgebung Freude am Leben. Zwei Jahre später muss sie mehrfach im Krankenhaus behandelt werden. Als sie dann einen schweren Schlaganfall erleidet, baut sie körperlich rasant ab. Durch die Hemiparese sind weder das Gehen noch die Armfunktion möglich, die Sprachfunktion ist beeinträchtigt. Trotz einer geriatrischen Frührehabilitation können nur marginale Erfolge in der Funktionsverbesserung erzielt werden. Auffällig ist zudem, dass sich die Patientin zunehmend emotional zurückzieht. Bereits im Krankenhaus lehnt sie des Öfteren das Essen ab. Die reduzierte Trinkmenge wird durch Infusionen kompensiert. Bei Rückkehr in die Pflegeeinrichtung lehnt sie nun fast immer vehement die Nahrung ab, beisst die Lippen zusammen, wendet den Kopf ab. Die Betreuer und die Familie machen sich Sorgen. In den Gesprächen mit dem Hausarzt wird die Gesamtsituation erörtert.
Best Supportive Care: Man ist sich einig, dass die Abwehrhaltung der Patientin als Zeichen dafür gedeutet werden kann: Sie kann und will so nicht mehr leben. Man beschliesst, ein palliatives Therapieprozedere im Sinne einer Best Supportive Care einzuleiten. Unter guter Symptomkontrolle lebt die Patientin noch einige Tage bis zu ihrem Tode.
3. Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Anorexie, Depression).
4. Patienten mit deutlichen kognitiven Einschränkungen (z. B. fortgeschrittener Demenz).
5. Patienten in der Finalphase. Die Übergänge können fliessend sein, die Patienten können auch mehreren Gruppen zugeordnet werden.
Weiteres Vorgehen
Zuerst sollte die Differenzierung zwischen FVNF und den anderen genannten Gründen erfolgen: Ein gut orientierter, einwilligungsfähiger Patient, der sich aufgrund einer fortgeschrittenen, final endenden Erkrankung bewusst entscheidet, Essen und Trinken aufzugeben, um so den Tod herbeizuführen, wird das klar artikulieren. Medizinische Abklärung Wichtig ist abzuklären, ob organische, behandelbare Ursachen für die ablehnende Haltung vorliegen, zum Beispiel: • Schleimhautschäden im Mund? Ulzera? Rhagaden? • Schlecht/falsch sitzende Zahnprothese? Druck-
stellen durch die Prothese? • Ösophagusschäden? Gastritis? Ulcus ventriculi
(ÖGD)? • Dysphagie (FEES-Untersuchung)? Mit erfolgreicher Behandlung der Erkrankungen ist wieder eine ungestörte Nahrungsaufnahme möglich. Patienten mit fortgeschrittener onkologischer Erkrankung zeigen häufig fehlenden Appetit, erschwert werden kann das durch die Nebenwirkungen der Chemotherapie und/oder der Medikation. Generell sollte immer eine Medikamentenanamnese erfolgen, da viele Arzneimittel zu einer Appetitminderung führen können (vgl. Kasten). Zudem sollte man nach psychiatrischen Grunderkrankungen fahnden: Depression, Anorexie, Demenz. Schwierig wird es bei Patienten mit deutlichen kognitiven Defiziten, bei denen die Kommunikation eingeschränkt ist. Hier ist man auf die Fremdanamnese und die gute Beobachtungsgabe der Betreuenden an-
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Medikamente, die in besonderem Masse zu einer Appetitminderung führen können
• Opioide (auch in Verbindung mit Übelkeit) • Chemotherapie • Antidepressiva (SSRI, trizyklische Antidepressiva) • Antibiotika • Theophyllin • Digitalispräparate • Neuroleptika • Antikonvulsiva etc.
gewiesen. Bei Patienten mit Demenz sollten deshalb folgende Fragen abgeklärt werden: • Liegen organische Gründe vor? Wie weit man die
Diagnostik bei dieser sehr vulnerablen Gruppe führen will, muss kritisch geprüft werden, zumal die Patienten häufig nicht verstehen, was bei der Untersuchung geschieht. • Dysphagieabklärung: Da auch bei Patienten mit einer demenziellen Erkrankung sowie mit M. Parkinson ein erhöhtes Risiko für eine Dysphagie vorliegt und eine nicht erkannte Schluckstörung schwerwiegende Folgen haben kann (Aspirationen, Pneumonie etc.), empfiehlt sich, soweit möglich, eine logopädische Abklärung auch mit einer FEES-Untersuchung. • Verkennen die Patienten die Nahrungsmittel als solche? • Werden bestimmte Nahrungsmittel, Getränke abgelehnt? Hier ist die Biografiearbeit wichtig: Welche Speisen hat der Patient schon immer bevorzugt beziehungsweise abgelehnt? • Auch die Umgebungssituation spielt eine Rolle: Liegt eine ruhige Atmosphäre vor? Bekommt der Patient Hilfestellung und Unterstützung? Zu beachten ist, dass auch Essapraxie, Nahrungsablehnung, Dysphagie, allgemeiner Rückzug, Anorexie, Abulie sowie Desinteresse an der Nahrung Symp tome der fortgeschrittenen Demenz sind (2).
Diagnostik auf Mangelernährung
Da eine unzureichende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, vor allem bei den beschriebenen Patientengruppen, schnell zur Mangelernährung führen kann, sollten hier Screenings erfolgen, für den ambulanten Bereich zum Beispiel MUST, MNA-SF® oder MNA®.
Behandlungsoptionen • Behandlung der zugrunde liegenden somatischen
Erkrankung nach diagnostischer Abklärung • Dysphagie: Konsistenzanpassung der Nahrung,
logopädische Betreuung (Schlucktraining), aufrechte Körperhaltung bei der Nahrungsaufnahme • Psychiatrische Erkrankung: Behandlungspläne aufstellen (vgl. entsprechende Literatur) • Medikation optimieren • Flüssigkeitszufuhr bei drohender Exsikkose • Therapie der Mangelernährung
• Eine Sondersituation ist die Finalphase. Die Symptomkontrolle (inklusive Mundpflege) und die Begleitung auch der Angehörigen sollten Priorität haben. Eine Flüssigkeitszufuhr im Finalstadium ist hinsichtlich der Symptomlinderung umstritten.
Wie kann man Patienten mit demenzieller Erkrankung und Nahrungsverweigerung noch helfen: • eine ruhige entspannte Atmosphäre bieten • Unterstützung beim Essen geben • gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie ermöglichen • Patienten nicht zum Essen drängen • Lieblingsspeisen anbieten • Fingerfood ermöglichen • verloren gegangene Tischmanieren akzeptieren • bei Dysphagie: angepasste Kostform, Begleitung
beim Essen, aufrechte Oberkörperhaltung.
PEG-Anlage bei Demenz?
Die aktuellen Leitlinien der ernährungsmedizinischen Fachgesellschaften sprechen sich bei fortgeschrittenerer Demenz klar gegen die Anlage einer PEG zur Ernährung aus. Ein Überlebensvorteil liess sich nicht belegen, die Komplikationsrate ist zudem erhöht. Inwieweit eine PEG-Ernährung hier zur Lebensqualität beiträgt, ist fraglich. Wird ersichtlich, dass der Patient mit dem Leben abgeschlossen hat, nicht mehr essen und trinken will (vgl. Fallbeispiel) und ein Konsens im Betreuerteam besteht, sollte man ein palliatives Therapieprozedere einleiten. Das schliesst nicht aus, dem Patienten lieb gewordene Speisen oder Flüssigkeit anzubieten, jedoch ohne zu drängen. Hier kommt der «Genuss» ins Spiel (z. B. Schokolade), aber auch die Symptomlinderung (z. B. bei trockenem Mund). In unklaren Situationen oder bei unterschiedlicher Meinung von Betreuerteam und Angehörigen kann eine ethische Fallbesprechung sehr hilfreich sein.
Dr. med. Mirja Katrin Modreker Chefärztin der Geriatrie Krankenhaus Land Hadeln, D–21762 Otterndorf E-Mail: mirjakatrin.modreker@khlh.de Interessenkonflikte: Honorarvorträge für MSD, Novartis, Stipendium des Forschungskollegs Geriatrie der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Merksätze
• Bei der Nahrungsverweigerung unterscheidet man verschiedene Gruppen. Die wichtigste Differenzierung: Patienten, deren Erkrankung weit fortgeschritten ist und die sich bewusst für den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) entscheiden.
• Abzuklären ist immer, ob es um organische und behandelbare Ursachen geht, wie Schleimhautschäden im Mund, eine Gastritis oder eine Dysphagie.
• Screenings auf Mangelernährung sollten erfolgen. • Hat ein Patient offensichtlich mit dem Leben abgeschlossen, sollte man ein palliatives Vorgehen
einleiten.
Literatur: 1. Radbruch L et al.: Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für
Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. 2. Frühwald T (2019): 29 Die PEG-Sonde bei Patienten mit fortgeschrit-
tener Demenz – macht sie Sinn? In: Likar R et al. Ethische Herausforderungen des Alters. W. Kohlhammer Verlag 1. Auflage. S. 325
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