Transkript
Können Milchprodukte beim Abnehmen helfen?
ERNÄHRUNG
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Nicole Rüfenacht, David Fäh
Zur Prävention und Behandlung der Adipositas wird empfohlen, den Verzehr von Lebensmitteln mit hoher Energiedichte zu verringern. Eine Bachelorthesis der Berner Fachhochschule (BFH) beschäftigte sich damit, was das für den Genuss von Milchprodukten bedeutet.
In den vergangenen 40 Jahren hat sich in der Schweiz die Prävalenz von Adipositas vervierfacht. Sie stellt somit sowohl ein grosses gesundheitliches als auch soziales und wirtschaftliches Problem dar (1). In der S3-Leitlinie zur Prävention und Behandlung der Adipositas heisst es: «Um Übergewicht und Adipositas zu verhindern, sollte empfohlen werden, den Verzehr von Lebensmitteln mit hoher Energiedichte zu reduzieren und den mit geringer Energiedichte zu erhöhen» (2). Milchprodukte haben aufgrund des variierenden Wassergehalts stark unterschiedliche Energiedichten, die von gering (Milch, Magerquark, Naturejoghurt); moderat (Weichkäse, gezuckerter [Rahm-]Quark und [Rahm-]Joghurt); bis hoch (Hart käse, Mascarpone) reichen (3, 4). Folglich sind Milchprodukte für Übergewichtige und Adipöse zumindest teilweise ungeeignet. Unter Umständen können sie Übergewichtigen und Adipösen jedoch helfen, erfolgreicher abzunehmen.
Warum gerade Milchprodukte?
Die genauen Wirkmechanismen von Milchprodukten im Körper von Übergewichtigen und Adipösen sind noch weitgehend ungeklärt. Verschiedene hilfreiche Wirkungen werden vermutet. So reichern sich beispielsweise bei der Herstellung von Milchprodukten technologisch bedingt Proteine in den Endprodukten an (z. B. Joghurt, Quark, Käse). Die hohen Proteingehalte können Übergewichtigen und Adipösen helfen, die Sattheit zu verlängern. Dadurch können zum Beispiel energiereiche Zwischenmahlzeiten vom Speiseplan verdrängt werden. Weiter wird vermutet, dass das Mikrobiom (Bakterien und andere Darmbewohner) im Zusammenhang mit Adipositas steht (5). Es kann durch die Ernährung, besonders durch den Konsum von Probiotika und Präbiotika, positiv beeinflusst werden (6). Die noch lebenden Bakterien in fermentierten Milchprodukten (z. B. Joghurt, Kefir und Käse) könnten somit einen positiven probiotischen Effekt auf das Mikrobiom haben. Ebenso könnten die in Milchprodukten vorhandenen Oligosaccharide präbiotisch wirken. Ein weiterer Vorteil von fermentierten Milchprodukten ist, dass in
der Milch vorhandene Kohlenhydrate durch die Fermentation in Milchsäure abgebaut werden. Dadurch könnte bei der Verdauung der Insulinantwort-fördernde Stoffwechselweg via Glukose umgangen werden – was für Übergewichtige und Adipöse potenziell wichtig sein kann. Diese Gründe gaben Anlass zu einer vertieften Recherche zum Thema Milchprodukte und Gewichtsabnahme.
Systematische Literaturrecherche
Die Bachelorthesis der BFH fokussierte bei der systematischen Literaturrecherche auf systematische Reviews, Metaanalysen von randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) und Metaanalysen von Beobachtungsstudien (Umbrella-Review Design). Eingeschlossen waren deutsch- und englischsprachige Studien mit: • erwachsenen Frauen oder Männern mit Überge-
wicht oder Adipositas (mit oder ohne Komorbiditäten) • einer Intervention mit Milch oder Milchprodukten aus Kuhmilch • Interventionen mit und ohne Energierestriktion. Schliesslich konnten 11 Arbeiten eingeschlossen werden. Zur Bewertung der Studienqualität wurde das System aus Aromataris et al. übernommen und angepasst (7, 8). 7 Arbeiten wurden mit einer guten und 4 Arbeiten mit einer genügenden Studienqualität bewertet. Die Bachelorarbeit basiert auf 6 Metaanalysen von RCT, 3 Metaanalysen von Beobachtungsstudien mit unterschiedlichen Studiendesigns und 2 systematischen Reviews. Da die verschiedenen Studiendesigns unterschiedliche Evidenzgrade aufwiesen, wurde ein Evidenzklassensystem angewendet. Die Evidenzklassen wurden nach «The joint World Health Organization/United Nations Food and Agriculture Organization Expert Consultation», zitiert in Grosso et al., definiert, ins Deutsche übersetzt und adaptiert (9). Die Gesamtheit an Evidenz einer Intervention wurde anhand des Evidenzklassensystems der geltenden Evidenzklasse zugeordnet. In Tabelle 1 ist als Beispiel dargestellt, welche Studiendesigns und Qualitätskriterien für das Erreichen der Evidenzklasse «Überzeugend» erreicht sein mussten.
Nicole Rüfenacht David Fäh
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2020 15
ERNÄHRUNG
Evidenzklasse Überzeugend
Definition
Klasse 1a) (hoch): Übereinstimmung von Metaanalysen von randomisierten, kontrollierten Studien und Metaanalysen von Beobachtungsstudien (alle Typen)
Klasse 1b) (tief): Metaanalysen von randomisierten, kontrollierten Studien sind gegensätzlich zu Metaanalysen von Beobachtungsstudien
Tabelle 1: Qualitätskriterien für das Erreichen der Evidenzklasse «Überzeugend»
Hilfreich zum Abnehmen – in Kombination mit Kalorienrestriktion
Die Bachelorthesis zeigte Folgendes auf: Werden während einer Energierestriktion von 500 kcal pro Tag vermehrt Milchprodukte in die Ernährung eingebaut, kann im Vergleich zum Konsum von keinen oder nur wenigen Milchprodukten mit einem zusätzlichen Gewichtsverlust von rund 1 kg und einer zusätzlichen Reduktion des Bauchumfangs von rund 2 cm gerechnet werden. Es ist ausserdem davon auszugehen, dass die zusätzliche Gewichtsabnahme einen Verlust an Fettmasse darstellt. Diese Angaben wurden aus Studien mit einer Dauer von 2 bis 12 Monaten abgeleitet. Wie gross der gesamte Gewichtsverlust durch die Energierestriktion ausfällt, konnte durch die Analyse der untersuchten Arbeiten nicht beantwortet werden. Ebenfalls kann noch nicht abschliessend gesagt werden, welche spezifischen Milchprodukte (Milch, Joghurt, Käse) die Gewichtsabnahme besonders fördern. Es besteht bis jetzt keine klare Evidenz, die den Vorzug bestimmter Milchprodukte begründen würde. Um während einer Energierestriktion von 500 kcal eine Gewichtsreduktion von 1 kg mehr zu erzielen, müssen täglich 1 bis 5 Milchprodukte konsumiert werden. Diese Empfehlungen stehen im Einklang mit den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung. Jedem gesunden Menschen wird empfohlen, täglich 3 Portionen Milchprodukte zu verzehren. Die Empfehlungen sollen über 1 Woche hinweg betrachtet eingehalten werden (10). Das bedeutet, dass auch Tage mit einem Konsum von 1 oder 5 Milchprodukten durchaus vertretbar sind, wenn sie sich abwechseln.
Evidenzklasse Ergebnisse
Intervention mit Milchprodukten
mit Energierestriktion (–500kcal/Tag) ohne Energierestriktion
1a) Überzeugend
1b) Überzeugend
Intervention < 12 Monate:
• Senkung des Körpergewichts um 1 kg
• Senkung der Fettmasse um 1 kg
• Senkung des Bauchumfangs um 2 cm
Intervention > 12 Monate:
• unerforscht
Intervention 1 bis 36 Monate:
• Zunahme des Körpergewichts um 0,5 kg
• Senkung der Fettmasse um 0,1 kg
• Senkung des Bauchumfangs um 1 cm
Tabelle 2: Übersicht der Ergebnisse zu Interventionen mit Milchprodukten (8, 11–15)
Das grosse Aber
Werden vermehrt Milchprodukte in eine Ernährung ohne Energierestriktion eingebaut, ist eher eine Gewichtszunahme mit gleichzeitiger minimaler Abnahme der Fettmasse und des Bauchumfangs zu beobachten. Jedoch sind diese Ergebnisse – im Gegensatz zu den Ergebnissen mit Energierestriktion – mit grosser Heterogenität behaftet. Ein Konsum von durchschnittlich 3 Milchprodukten pro Tag ist im Rahmen einer gesunden Ernährung empfohlen. Ein vermehrter Milchproduktekonsum ohne Energierestriktion darf jedoch nicht als generell gültige Methode zum Abnehmen angepriesen werden (8, 10). Ebenso bleibt die Frage offen, ob bei den Studien mit Energierestriktion der Effekt einer grösseren Gewichts-, Fettmassen- und Bauchumfangsreduktion bestehen bleibt, wenn Studien mit einer Interventionsdauer von über 1 Jahr durchgeführt und ausgewertet würden. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse zum Milchproduktekonsum mit und ohne Energierestriktion noch einmal zusammenfassend gegenübergestellt.
Abgeleitete Implikationen
• Übergewichtigen und Adipösen, die während 2 bis 12 Monaten eine Energierestriktion von täglich 500 kcal planen, kann der tägliche Konsum von 1 bis 5 Portionen Milchprodukten nahegelegt werden, um eine zusätzliche Gewichtsabnahme von etwa 1 kg herbeizuführen.
• Ohne Energierestriktion ist durch vermehrten Milchproduktekonsum keine Gewichtsabnahme zu erwarten.
• Die Evidenzlage ist generell dürftig. Es braucht qualitativ hochstehende RCT mit ausreichend Teilnehmern und einer Interventionsdauer von mehr als einem Jahr, um den Umfang und die Nachhaltigkeit der Gewichtsveränderung durch Milchprodukte während einer Energierestriktion zu bestätigen.
• Es besteht bis jetzt keine klare Evidenz, die den Vorzug bestimmter Milchprodukte begründen würde.
Autoren: Nicole Rüfenacht Berner Fachhochschule BFH Studierende Ernährung und Diätetik BSc Bernstrasse 49 3122 Kehrsatz Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. David Fäh FMH Prävention und Gesundheitswesen Master of Public Health Berner Fachhochschule Departement Gesundheit / Ernährung und Diätetik Finkenhubelweg 11 3008 Bern E-Mail: david.faeh@bfh.ch
Interessenkonflikte: keine
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Referenzen 1. OECD (2019), The Heavy Burden of Obesity: The Economics of Prevention, OECD Health Policy Studies, OECD Publishing, Paris, https://doi. org/10.1787/67450d67-en. 2. Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V. Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur «Prävention und Therapie der Adipositas»: Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V., Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG); 2014. 3. Rolls BJ. Dietary energy density: Applying behavioural science to weight management. Nutr Bull 2017; 42(3): 246–253. 4. Schweizer Nährwertdatenbank. Available from: URL: https:// naehrwertdaten.ch/de/ 5. Bertram F et al.: Die Bedeutung des Mikrobioms für die Adipositas. Gynäkologe 2017; 50(2): 111–119. 6. Bergheim I, Glei M. Darmmikrobiom und Ernährung. Gastroenterologe 2015; 10(2): 116–121. [https://doi.org/10.1007/s11377-014-0966-4] 7. Aromataris E et al.: Summarizing systematic reviews: methodological development, conduct and reporting of an umbrella review approach. Int J Evid Based Healthc 2015; 13(3): 132–134. 8. Rüfenacht N. Abnehmen mit fermentierten Milchprodukten: Was sagt die Evidenz? Ein Umbrella-Review. Gesundheit, Berner Fachhochschule 2020. 9. Grosso G et al.: Coffee, caffeine, and health outcomes: an umbrella review. Annu Rev Nutr 2017; 37: 131–156. 10. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE). Schweizer Lebensmittelpyramide: Empfehlungen zum ausgewogenen und genussvollen Essen und Trinken für Erwachsene; 2014 [cited 2020 June 8] Available from: URL: http://www.sge-ssn.ch/media/sge_pyramid_long_D_2014.pdf 11. Abargouei AS et al.: Effect of dairy consumption on weight and body composition in adults: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled clinical trials. Int J Obes (Lond) 2012; 36(12): 1485–93. 12. Stonehouse W et al.: Dairy intake enhances body weight and composition changes during energy restriction in 18–50-year-old adults – a meta-analysis of randomized controlled trials. Nutrients 2016; 8(7): 394. 13. Chen M et al.: Effects of dairy intake on body weight and fat: a meta-analysis of randomized controlled trials. Am J Clin Nutr 2012; 96(4): 735–747. 14. Geng T et al.: Effects of dairy products consumption on body weight and body composition among adults: an updated meta-analysis of 37 randomized control trials. Mol Nutr Food Res 2018; 62(1). 15. Benatar JR et al.: Effects of high and low fat dairy food on cardio-metabolic risk factors: a meta-analysis of randomized studies. PLoS ONE 2013; 8(10): e76480.
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