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PARENTERALE ERNÄHRUNG
Hunger und Sättigung bei parenteraler Ernährung
Physiologischer Hintergrund, aktuelle Datenlage und praktische Tipps
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Larissa Bürki, Marina Martin
Larissa Bürki
Wie beeinflusst eine parenterale Ernährung (PE) das Hungergefühl? Fühlt sich ein parenteral ernährter Patient satt? Ist seine Nahrungsaufnahme aufgrund der PE reduziert? Mit diesen Fragen, die im praktischen Alltag der Ernährungsberatung/-therapie immer wieder auftauchen, hat sich die Fachgruppe für enterale und parenterale Ernährung des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberater/innen (SVDE) auseinandergesetzt.
Marina Martin
Die Fachgruppe für enterale und parenterale Ernährung des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberater/innen (SVDE) hat sich während zweier Jahre mit den eingangs erwähnten Fragen beschäftigt. Der vorliegende Artikel umfasst sowohl die Fachexpertise der Fachgruppenmitglieder als auch die aktuelle Datenlage. Fachliche Unterstützung bekam die Fachgruppe dabei von Dr. med. Reinhard Imoberdorf, Stv. Direktor Department Medizin, Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur. Eine abschliessende Antwort auf die genannten Fragen kann dieser Artikel nicht geben. Er soll jedoch fachliche Hintergründe zur Physiologie von Hunger und Sättigung erläutern, die aktuelle Datenlage zur parenteralen Ernährung in Zusammenhang mit Hunger und Sättigung aufzeigen sowie Denkanstösse geben, welche im Praxisalltag genutzt werden können.
Energiehomöostase und Appetitverhalten
Hunger und Sättigung sind überlebenswichtig. Für die Steuerung sind hauptsächlich Hirnstamm und Hypothalamus zuständig. Diese sammeln mithilfe von Botenstoffen, Rezeptoren und Sinneswahrnehmungen Informationen zur aktuellen Energieversorgung und zu den vorhandenen Energiespeichern. Das ermöglicht es dem Hirn, ein Gleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch herzustellen – die Energiehomöostase (1). Eine wichtige Rolle bei der Energiehomöostase spielen Signale aus dem Magen-Darm-Trakt. Die Magendehnung hat nur einen kleinen Einfluss auf die Regulierung von Hunger und Sättigung. Eine viel grössere Rolle spielt der Dünndarm. Spezifische Nahrungsbestandteile, wie beispielsweise Fettsäuren, können Si gnale auslösen, welche das Sättigungsgefühl beein-
flussen. Bei einer Aufnahme von langkettigen Fettsäuren in den Dünndarm tritt ein vorzeitiges Sättigungsgefühl auf, die Probanden essen weniger. Wird die gleiche Menge Fett intravenös verabreicht, bleibt diese Wirkung aus; Appetit und Sättigung werden nicht beeinflusst (2). Dieses Beispiel zeigt, dass Hunger und Sättigung nicht nur durch mechanische Reize in Magen und Darm, sondern auch durch Hormone ausgelöst werden. Beteiligt an diesem Mechanismus sind zahlreiche Hormone wie beispielsweise Insulin, Gastrin, Sekretin, Ghrelin, Glucagon-like peptide 1 (GLP-1) und Cholezystokinin (CCK) (2, 1). Jedes Hormon hat seine eigene spezifische Aufgabe im Hunger- und Sättigungsgeschehen. Es bestehen komplexe Interaktionen zwischen diesen Hormonen, welche bis heute nicht restlos geklärt sind. So meldet zum Beispiel ein abfallender Blutzuckerspiegel Hunger, während bei hohem Blutzuckerspiegel vermehrt Insulin ausgeschüttet und damit das Sättigungszentrum aktiviert wird (3, 4). Das würde bedeuten, dass die PE, welche über das Blut verabreicht wird, die Hormone und somit das Hunger- und Sättigungsgefühl mitbeeinflusst. Nicht beeinflusst durch die PE wird wohl GLP-1, da dieses Hormon nahrungsabhängig im Verdauungstrakt produziert wird und seine Ausschüttung den Speisebrei im Dünndarm voraussetzt (2, 5). Beim Hormon Leptin, welches in den Fettzellen produziert wird, wird davon ausgegangen, dass es von der PE mitbeeinflusst wird. Es informiert die hypothalamischen Zentren über die Energievorräte, indem es im Hypothalamus orexigene und anorexigene Signalwege steuert. Es vermittelt dem Gehirn somit Sättigung, wodurch das Hungergefühl gehemmt wird. Der postoperative Stressmetabolismus kann möglicherweise ebenfalls eine erhöhte Leptinserumkonzentration aufweisen, wodurch der Hunger vermindert wird (1, 6).
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PARENTERALE ERNÄHRUNG
(C) Fachgruppe für enterale/parenterale Ernährung SVDE
Viele Faktoren beeinflussen, ob wir hungrig oder satt sind. Welche Rolle spielt dabei die parenterale Ernährung? Welche anderen Einflussfaktoren gibt es? Diesen Fragen ging die Fachgruppe für enterale und parenterale Ernährung nach.
Physiologische und psychologische Aspekte
Essen und Trinken haben als primäres Ziel, den Körper mit Energie, Nährstoffen und Flüssigkeit zu versorgen. In der Überflussgesellschaft kommen vielfältige sekundäre Motive hinzu: hedonistische, emotionale, ökonomische und soziale (7). In einer Krankheitssituation gibt es weitere Faktoren, die sich auf Hunger und Sättigung auswirken können. So kann die Grunderkrankung selbst bereits das Hunger- und Sättigungsempfinden verändern (z. B. bei Tumorleiden). Schmerzen sowie psychische Belastungen wie beispielsweise Trauer, Angst und Depressionen können zu Inappetenz führen. Beeinflusst wird die Nahrungsaufnahme auch durch den Spitalalltag, welcher möglicherweise einen veränderten Tagesrhythmus sowie eine ungewohnte Kost und Essumgebung mit sich bringt. Je nach Erkrankung und Therapie kommen Nüchternzeiten, angepasste Kostformen, Nebenwirkungen von Medikamenten oder körperliche Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Obstipation und/oder Geschmackseinschränkungen hinzu.
Magere Studienlage
Die Studienlage bezüglich Hunger und Sättigung unter PE ist sehr mager. Einzelne Studien können ausfindig gemacht werden, sind jedoch meist älteren Datums. Ausserdem sind die Aussagen der Studien sehr heterogen. So konnten beispielsweise Studien an Affen und Ratten zeigen, dass bei vollständiger Deckung des Kalorienbedarfs durch PE kaum mehr Nahrung oral aufgenommen wurde. Auch 3 Wochen nach Beendigung der vollständigen PE war der Appetit noch unterdrückt (8, 9). Studien im Humanbereich fallen ebenfalls sehr unterschiedlich aus. So zeigen einige, dass die PE den Appetit beziehungsweise den Hunger und somit die orale Nahrungsaufnahme verringert. Andere Studien an Menschen zeigen jedoch genau das Gegenteil. Nämlich dass die PE die orale Ernährung und auch das Hunger- und Sättigungsgefühl nicht beeinflusst (5, 6). Die genaue Begründung dafür scheint aber noch zu fehlen. Einige Studien haben sich zusätzlich der Fragestellung angenommen, ob die einzelnen intravenös verabreichten Nährstoffe (Glukose, Fett, Aminosäuren) einen unterschiedlichen Einfluss auf das Hunger- respektive das Sätti-
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Kasten 1:
Fallbeispiel Kind
Es handelt sich um einen ehemals zu früh geborenen Knaben (geboren in der 27. Schwangerschaftswoche). Seit der Geburt ist er aufgrund seiner Grunderkrankung, einer kongenitalen Natriumverlustdiarrhö, auf eine PE angewiesen. Im Alter von 7 Monaten konnte er mit nächtlicher Heim-PE (HPE) aus der Klinik austreten. Beim Austritt aus der Klinik enthielt seine HPE rund 600 kcal, was damals 80 Prozent seines Energiebedarfs ausmachte. Oral durfte er ad libitum Muttermilch trinken. Die Beikosteinführung fand 1 Monat später im Alter von 8 Monaten statt. Er hat diese sehr gut toleriert, gern gegessen, gastrointestinal gut vertragen, und die orale Nahrung konnte gesteigert werden. Die HPE enthielt in dieser Zeit die gleiche Kalorienmenge wie noch bei Austritt. Wiederum 2 Monate später konnte bei gutem Erfolg der Nahrungsaufnahme die HPE auf etwa 50 Prozent seines Energiebedarfs reduziert werden. Daraufhin konnte der Knabe seine orale Aufnahme von Brei und Fingerfood nochmals steigern. Aufgrund eines Infekts und eines darauffolgenden Gewichtsverlusts musste 1 Monat später die PE erhöht werden (auf 90% seines Energiebedarfs), woraufhin der Patient kaum mehr oral gegessen hat. Eindrücklich schilderte die Mutter danach, dass der Knabe am Morgen (nach der HPE) keinen Appetit mehr verspürt habe und erst am späteren Nachmittag oder gegen Abend (wenn die HPE 8 bis 10 Stunden gestoppt war) wieder Hunger und Appetit angegeben und zu essen begonnen habe. Diese Appetitlosigkeit von mehreren Stunden nach der HPE ist geblieben und dauert bis heute an.
Kasten 2:
Fallbeispiel Erwachsener
Der 64-jährige Patient leidet an einem wenig differenzierten Plattenepithelkarzinom des Mundbodens. Bei St. n. Tumorresektion wurde er zur Deckung einer Speichelfistel sowie eines Weichteildefekts hospitalisiert. Bei Eintritt bestand die orale Nahrungsaufnahme aus maximal 1 Joghurt pro Tag. Via perkutaner Gastroenterostomie (PEG) verabreichte er sich 500 ml Sondennahrung (SN) pro 24 Stunden. Dadurch deckte er 55 Prozent seines Energie- und Proteinbedarfs. Der Patient tolerierte keine grössere Menge als 500 ml SN – weder durch die Anpassungen von Verabreichungszeit und -geschwindigkeit noch durch einen Produktewechsel. Da eine bedarfsdeckende orale oder enterale Ernährung nicht möglich war, wurde entschieden, eine Heim-PE (HPE) einzuleiten. Bei Austritt deckte der Patient 100 Prozent des Energie- und 90 Prozent des Proteinbedarfs ab, wobei 75 Prozent über die HPE und der Rest per os/enteral gedeckt wurden. 3 Wochen nach Austritt berichtete der Patient, dass er die Nährstoffzufuhr via PEG steigern wolle, weil er ein starkes Hungergefühl habe. Dieses verminderte sich, nachdem er sich versuchsweise 250 ml Trinknahrung via Sonde verabreicht hatte. Es wurde ein Aufbau mit SN gestartet. Erfreulicherweise gab der Patient diesmal eine gute Toleranz der SN an. Die HPE wurde gestoppt, und der Patient ist nun komplett via PEG ernährt und beklagt keinen Hunger mehr.
gungsgefühl haben. Auch hier gibt es keine eindeutigen Resultate (12 –16). Murray et al. konnten zeigen, dass die intravenöse Gabe von Kohlenhydraten und Proteinen zu verminderten Ghrelinspiegeln führte (11). Lipidinfusionen beeinflussten die Ghrelinspiegel nicht, jedoch zeigten sich verminderte PeptidYY-(PYY-)Spiegel. Nebst den Hormonspiegeln wurde auch das subjektive Hungerempfinden der 6 Probanden erfasst. Trotz veränderter Hormonspiegel zeigte sich bei allen Infusionen kein signifikanter Einfluss auf das Hungergefühl.
Diskussion und Schlussfolgerung
Eine allgemeingültige und eindeutige Schlussfolgerung kann aus diesen Erkenntnissen nicht gezogen werden. Die Studienlage ist kontrovers, und die Daten aus den Tierstudien lassen sich nur schwer auf den Menschen übertragen. Das möglicherweise deshalb, weil die psychologischen und sozialen Faktoren wie gewohnte und geregelte Essenszeiten, Gelüste, Gerüche, Appetit, Essen in Gesellschaft usw. eine deutlich grössere Rolle spielen. Auch das Fallbeispiel aus der Pädiatrie (siehe Kasten 1) lässt aus denselben Gründen darauf schliessen. Kleinkinder richten sich eher nach ihren inneren und weniger nach äusseren Reizen, wobei Hunger und Sättigung eventuell einfacher beurteilbar sind. Das Fallbeispiel aus der Erwachsenenmedizin (siehe Kasten 2) zeigt hingegen, dass die äusseren Faktoren hier eher einen Einfluss auf Hunger und Sättigung zu haben scheinen. Das Gefühl, essen zu wollen, und das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme scheinen hier ausgeprägter. Dennoch ist eine pauschale Beurteilung kaum möglich, da Hunger und Sättigung komplexe physiologische Vorgänge und gleichzeitig sehr subjektiv wahrgenommene Phänomen sind. Um den Patienten gerecht zu werden, muss deshalb weiterhin ein individueller Ansatz gewählt werden, bei dem auf die persönlichen Bedürfnisse und Empfindungen eingegangen werden kann. Hierzu ist es sinnvoll, die Ernährungsberatung beizuziehen.
Korrespondenzadresse: Marina Martin BSc in Ernährung und Diätetik Universitätsspital Zürich, Klinik für Endokrinologie, Diabeto logie und klinische Ernährung Rämistrasse 100, 8091 Zürich Telefon +41 44 255 39 69 E-Mail: marina.martin@usz.ch, www.endokrinologie.usz.ch Larissa Bürki MSc nutr. med. Fachexpertin APD Intensivmedizin Stv. Leiterin Ernährungsberatung Universitäts-Kinderspital Zürich Abteilung Gastroenterologie und Ernährung Telefon +41 44 255 83 53 E-Mail: Larissa.buerki@kispi.uzh.ch Interessenkonflikt: keine.
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Referenzen: 1. Nüsken KD, Jarz H: Steuerung von Appetit, Hunger und Sättigung. In: Ledochowski M (Hrsg) Klinische Ernährungsmedizin. 2010: Springer, Wien. 2. Steinert RE, Beglinger C: Akteure der ersten Stunde: Bedeutung des Magen-Darm-Traktes für Hunger und Sättigung. Aktuelle Ernährungsmedizin 2009; 34 (Suppl 1): 10–13. 3. Langhans W, Geary N: Overview of the physiological control of eating. Forum Nutr 2010; 63: 9–53. 4. Woods SC et al.: Pancreatic signals controlling food intake; insulin, glucagon and amylin. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 2006; 361(1471): 1219–1235. 5. Vila G, Riedl M: Ein Hormon stellt sich vor: «Glucagon-like Peptide 1». Journal für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel – Austrian Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 2010; 3(4): 36–37. 6. Hernández C et al.: Influence of surgical stress and parenteral nutrition on serum leptin concentration. Clin Nutr 2000; 19(1): 61–64. 7. Ellrott T: Psychologische Aspekte der Ernährung. Diabetologie 2013; 8: 57–70. 8. Hansen BW et al.: Effects of enteral and parenteral nutrition on appetite in monkeys. JPEN 1977; 1(2); 83–88. 9. Bodoky G et al.: Effects of different types of isocaloric parenteral nutrients on food intake and metagolic concomintants. Physiol Behav 1995; 58(1): 75–79. 10. Reifen R et al.: Effect of parenteral nutrition on oral intake. J Pediatr Endocrinol Metab 1999; 12(2): 203–205. 11. Murray CD et al.: The effect of different macronutrient infusions on appetite, ghrelin and peptide YY in parenterally fed patients. Clin Nutr 2006; 25(4): 626–633. 12. Sriram K et al.: Suppression of appetite by parenteral nutrition in humans. J Am Coll Nutr 1984; 3(4): 317–323. 13. Gil KM et al.: Parenteral nutrition and oral intake: effect of glukose and fat infusions. JPEN J Parenter Enteral Nutr 1991; 15(4): 426–432. 14. Jordan HA et al.: Hunger and satiety in humans during parenteral hyperalimentation. Psychosom Med 1974; 36(2): 144–155. 15. Stratton RJ, Elia M: The effects of enteral tube feeding and parenteral nutrition on appetite sensations and food intake in health and disease. Clin Nutr 1999; 18 (2): 63–70. 16. McCutcheon NB et al.: Hunger and appetitive factors during total parenteral nutrition. Appetite 1989; 13(2): 129–141.
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