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KINDER: FRÜH GESUND ESSEN
ARFID: Mehr als nur wählerisch beim Essen
Annegret Czernotta
Einige extrem wählerische Esser können eine Essstörung haben, die als vermeidende/restriktive Essstörung (ARFID= avoidant restrictive food intake disorder) bekannt ist. In den meisten Fällen beeinträchtigt wählerisches Essen nicht das Gewicht, das Wachstum oder die Aktivitäten im Alltag. Treten allerdings Funktionsbeeinträchtigungen oder Mangelerscheinungen aufgrund eines so extrem wählerischen Essens auf, bedarf es möglicherweise einer Behandlung.
Wählerisches Essen ist in der Kindheit weitverbreitet. Zwischen 13 und 22 Prozent der Kinder im Alter von drei bis elf Jahren gelten zu einem bestimmten Zeitpunkt als wählerische Esser. Während sich dieses wählerische Essverhalten bei den meisten Kindern mit der Zeit auswächst, behalten 18 bis 40 Prozent diese wählerische Art und Weise bis ins Jugendalter bei (1, 2). Dabei meiden die Betroffenen viele Nahrungsmittel, weil sie deren Geschmack, Geruch, Beschaffenheit oder Aussehen nicht mögen (3).
Neue Ernährungs- und Essstörung im DSM-5
ARFID ist eine neue Diagnose, die mit der Veröffentlichung des Diagnostic and Statistical Manual, 5. Ausgabe (DSM-5, [4] im Jahr 2013 eingeführt wurde. Vor dieser neuen Kategorie erhielten Menschen mit ARFID die Diagnose «Essstörung ohne anderweitige Spezifizierung» (EDNOS = eating disorder not otherwise specified) oder die Diagnose «Essstörung im Säuglings- oder Kindesalter». Infolgedessen ist ARFID nicht so bekannt wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa. Dennoch kann sie schwerwiegende Folgen haben. ARFID wird auch als «Nahrungsmittelneophobie» beschrieben, wobei Schwierigkeiten bestehen, sich auf neue Lebensmittel einzulassen. Das kann zu einer eingeschränkten Ernährung führen, wodurch wiederum der Energie- und Nährstoffbedarf nicht ausreichend gedeckt wird. Im Gegensatz zu Personen mit Anorexia nervosa essen Betroffene mit ARFID jedoch nicht restriktiv aufgrund von Sorgen über ihr Gewicht oder ihre Körperform. ARFID tritt in der Regel auch nicht nach einer bislang normalen Ernährungsweise auf, wie das bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa der Fall ist. Vielmehr sind Personen mit ARFID in der Regel bereits ihr ganzes Leben von restriktiven Essgewohnheiten betroffen. Eltern berichten oft, dass ihre Kinder mit ARFID Schwierigkeiten bei der Umstellung von Säuglingskost auf Mischkost gehabt hätten und
eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Texturen wie «matschig» oder «knusprig» aufzeigten. Um die Kriterien für ARFID zu erfüllen, darf die Nahrungseinschränkung weder aufgrund eines Nahrungsmangels oder einer kulturell sanktionierten Praxis (z. B. ein religiöser Grund für die Ernährungseinschränkung) noch aufgrund eines medizinischen Problems erfolgen. Darüber hinaus muss die Diagnose ARFID folgenden Kriterien genügen (5): • signifikante Gewichtsabnahme (oder das Ausblei-
ben der erwarteten Gewichtszunahme bei Kindern) • signifikantes Ernährungsdefizit • Abhängigkeit von Sondenkost oder oralen Nah-
rungsergänzungsmitteln • Schwierigkeiten, sich im täglichen Leben aufgrund
von Scham, Angst oder Unzulänglichkeiten zu engagieren.
Wer entwickelt ARFID?
Daten über die Prävalenz von ARFID fehlen. Bekannt ist, dass die Störung häufiger bei Kindern und Jugendlichen und weniger häufig bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen vorkommt. ARFID kann jedoch während der gesamten Lebensspanne auftreten und betrifft beide Geschlechter. Die ersten Anzeichen zeigen sich am häufigsten in der Kindheit. Die meisten Erwachsenen mit ARFID scheinen seit ihrer Kindheit ähnliche Symptome zu haben. Wenn ARFID in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auftritt, ist die Störung meist mit einem negativen ernährungsbedingten Erlebnis wie Ersticken oder Erbrechen verbunden. Patienten mit ARFID haben im Durchschnitt ein geringeres Körpergewicht und sind deshalb einem ähnlichen Risiko für medizinische Komplikationen ausgesetzt wie Patienten mit Anorexia nervosa (5). Die Wahrscheinlichkeit, dass ARFID-Betroffene eine Angststörung entwickeln, ist zudem erhöht – das im
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Gegensatz zu Patienten mit Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa, die eher zu Depressionen neigen (5). Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, ARFID zu entwickeln, bei Betroffenen mit Erkrankungen aus dem Autismusspektrumbereich oder mit ADHS erhöht (5).
mitteln, die den bereits verzehrten sehr ähnlich sind, und setzt sich langsam fort zu unähnlicheren Nahrungsmitteln. Menschen mit ARFID müssen oft 50 Mal ein Lebensmittel probieren bis es nicht mehr als ungewohnt empfunden wird.
ARFID-Typen
Im DSM-5 werden verschiedene Arten der Vermeidung oder der Einschränkung im Rahmen von ARFID aufgeführt (4). Dazu gehören • Einschränkungen mit einem offensichtlichen Man-
gel an Interesse am Essen oder an Lebensmitteln • die sensorisch basierte Vermeidung von Lebens-
mitteln (z. B. lehnt die Person bestimmte Lebensmittel aufgrund von Geruch, Farbe oder Textur ab) • die Vermeidung von Nahrungsmitteln, die mit den befürchteten Folgen des Essens wie Ersticken oder Erbrechen zusammenhängen (oft aufgrund negativer Erfahrungen in der Vergangenheit).
Assessment
Da es sich bei ARFID um eine weniger bekannte Erkrankung handelt, kann es sein, dass diese Erkrankung auch von Gesundheitsfachpersonen nicht erkannt wird und es dadurch zu Verzögerungen in der Diagnostik und Behandlung kommt. Eine Diagnose von ARFID setzt ein gründliches Assessment voraus, welches folgende Aspekte umfassen sollte: • detaillierte Ernährungsanamnese • Beurteilung der kindlichen Entwicklung mittels
Wachstumskurven • Familienanamnese • frühere Interventionsversuche • vollständige psychiatrische Anamnese und Beurtei-
lung. Darüber hinaus müssen medizinische Gründe für die Ernährungsdefizite ausgeschlossen werden.
Quelle: https://www.verywellmind.com/what-is-arfid-4137232 Literatur zum Beitrag: 1. Nicely TA, Lane-Loney S, Masciulli E, Hollenbeak CS, Ornstein RM: Prevalence and characteristics of avoidant/restrictive food intake disorder in a cohort of young patients in day treatment for eating disorders. J Eat Disord 2014; 2(1): 21. 2. Thomas JJ, Lawson EA, Micali N, Misra M, Deckersbach T, Eddy KT: Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder: a Three-Dimensional Model of Neurobiology with Implications for Etiology and Treatment. Curr Psychiatry Rep 2017; 19(8): 54. 3. Merck Manual Professional Version: Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder (ARFID). Updated March 2018. 4. American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 5th ed. Washington, DC; 2013. 5. Fisher MM, Rosen DS, Ornstein RM, et al.: Characteristics of Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder in Children and Adolescents: A «New Disorder» in DSM-5. J Adolesc Health 2014; 55(1): 49–52. 6. Ornstein RM, Essayli JH, Nicely TA, Masciulli E, Lane-loney S: Treatment of avoidant/restrictive food intake disorder in a cohort of young patients in a partial hospitalization program for eating disorders. Int J Eat Disord 2017; 50(9): 1067–1074.
Behandlung
Eltern sind oft ängstlich, wenn ihre Kinder Schwierigkeiten mit dem Essen haben, und können sich in Machtkämpfe, die das Essen betreffen verstricken. Für ältere Jugendliche und Erwachsene kann sich ARFID auf Beziehungen auswirken, da das Essen mit Gleichaltrigen belastend sein kann. Gegenwärtig gibt es keine evidenzbasierten Behandlungsrichtlinien für ARFID. Je nach Schweregrad bedarf es einer Unterstützung, wie beispielsweise einer stationären Behandlung. In gewissen Fällen wird eine enterale Ernährung notwendig. Eine im Jahr 2017 publizierte Studie zeigt, dass viele Patienten mit ARFID gut auf eine teilstationäre Behandlung reagieren – vergleichbar mit Patienten, die eine andere Essstörung haben (6). Wenn die Patienten medizinisch stabil sind, beinhaltet die Behandlung von ARFID oft die Vermittlung von Fähigkeiten zur Angstbewältigung, begleitet von einer schrittweisen Einführung neuer Nahrungsmittel durch «food chaining»: Das beginnt bei Nahrungs-
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