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NIERENERKRANKUNGEN
Chronisches Nierenversagen: Körperliches Training während der Dialyse verbessert Leistungskraft
Konstanze Eberhardt
Konstanze Eberhardt, Giuseppe Mungo*, Erik Willems*
Die terminale Niereninsuffizienz geht bei den betroffenen Patienten mit einer fortschreitenden Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit einher. Der Artikel soll anhand verschiedener Studien aufzeigen, dass körperliche Aktivität in einem geringen zeitlichen Umfang während der Hämodialyse positive Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit hat und auch das allgemeine Befinden und die Lebensqualität verbessern kann.
Giuseppe Mungo
Erik Willems
* Institut für Therapien und Rehabilitation Kantonsspital Winterthur
Einleitung
Das Schweizer Dialyseregister (Swiss Renal Registry and Quality Assessment Program, SRRQAP) verzeichnete im Jahr 2015 4453 Patienten mit chronischem Nierenversagen. Das Durchschnittsalter betrug 2015 67,9 Jahre, wobei jeder zweite Patient älter als 70,8 Jahre war (1). Durch den demografischen Wandel in der Schweizer Gesamtbevölkerung, insbesondere durch den prognostizierten Anstieg der 65-Jährigen und Älteren auf 26,4 Prozent im Jahr 2045 (1), wird mit einer jährlichen Zunahme der dialysepflichtigen Patienten gerechnet. Chronisches Nierenversagen ist zu einem grossen Anteil Folge systemischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie und kardiovaskulärer Beschwerden.
Abbildung 1: Ausdauertraining während der Hämodialyse Die Patienten am Kantonsspital Winterthur trainieren während der Hämodialyse an einem Ergometer. Derzeit umrunden die Dialysepatienten die Schweiz virtuell. Die gefahrenen Kilometer werden am Eingang der Dialysestation dargestellt – als Anreiz für alle.
Theorie
Die terminale Niereninsuffizienz (TNI) geht bei den betroffenen Patienten mit einer fortschreitenden Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit einher, wodurch die Patienten auch bei normalen Alltagsbeschäftigungen stark eingeschränkt sein können. Die wichtigsten leistungsmindernden Faktoren bei Hämodialysepatienten (HDP) sind Anämie, Azidose, Störungen des Transports der Glukose im Blut, Hyperkaliämie, urämische Myopathie, Polyneuropathie und Osteopathie (2). Verschiedene wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass • zirka 30 Prozent der HDP an muskulären Schmer-
zen leiden (3) • zirka 70 Prozent der HDP einen dialyseindizierten
bzw. einen generell dialysebedingten Erschöpfungszustand angeben (4) • die körperliche Leistungsfähigkeit durch die Abnahme des VO2-Peaks (maximale Sauerstoffaufnahme) eingeschränkt ist (5) ist. Im Vergleich zu gleichaltrigen Personen, die nicht nierenkrank sind, ist das Aktivitätsniveau der HDP um 35 Prozent reduziert (6). Darüber hinaus zeigte eine brasilianische Studie, dass 47 Prozent der HDP weniger als 5000 Schritte pro Tag machten und nur 21 Prozent das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2018) empfohlene Aktivitätsniveau erreichten (7). Ein HDP verbringt jährlich zwischen 600 und 1000 Stunden, also rund 4 bis 6 Wochen an der Dialyse. In dieser Zeit wird er (zusätzlich) durch die Dialysebehandlung immobilisiert.
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Training bei Dialysepatienten
In wissenschaftlichen Studien wurde weltweit gezeigt, dass körperliches Training signifikant positive Effekte auf die körperliche Leistungsfähigkeit, die Lebensqualität und die soziale Situation der HDP in allen Stadien der Niereninsuffizienz hat (8). Der Dialysezeitraum bietet den HDP die Möglichkeit zur Realisierung eines regelmässigen und kontinuierlichen Bewegungsprogramms unter physiotherapeutischer Betreuung. Das intradialytische Training ist durch folgende Punkte praktikabler und vorteilhafter zur Durchführung strukturierter Trainingsprogramme geeignet als ein extradialytisches Training (9): • bessere Kommunikation zwischen Ärzten, Physio-
therapeuten, Sportwissenschaftern, Ernährungsberatern und den HDP vor Ort • Einbindung vor allem älterer und leistungsschwächerer HDP • höhere Compliance bei der körperlichen Aktivität • bessere Stimmung der HDP durch Abwechslung und Zeitersparnis • Angleichung der körperlichen Aktivität an dialysepflichtigen und nicht dialysepflichtigen Tagen • konstante medizinische und therapeutische Überwachung der HDP während der Trainingseinheiten ist möglich.
Hierbei wird die Belastungsintensität mit der Skala RPE (received perception of exertion) nach Borg erfasst. Für das Krafttraining kommen Gewichtsmanschetten von 1 bis 6 Kilogramm und Therabänder zum Einsatz. Die HDP führen verschiedene vordefinierte Übungen zur Kräftigung der Muskulatur der unteren Extremität durch. Da die HDP während der Dialyse im Bett liegen, findet das gesamte Training liegend statt. Als positive Verstärker kommen wechselnde Events zum Einsatz. Derzeit sind alle Patienten sinnbildlich auf dem Weg, mit dem Velo die Schweiz zu umrunden. Dafür werden die gefahrenen Gesamtkilometer des Ergometertrainings erfasst und in einer Grafik am Eingang der Dialysestation dargestellt – ein Anreiz für alle, ihr Bestes zu geben.
Erfahrungen der HDP mit intradialytischem Training
Für diese Publikation wurden einzelne Patienten an der Hämodialyse nach ihren Erfahrungen in Bezug auf das intradialytische Training allgemein, die möglichen Auswirkungen auf den Alltag und das allgemeine Bewegungsverhalten befragt. Drei kurze Zusammenfassungen dienen dabei als beispielhafte Rückmeldungen:
Training während der Dialyse am KSW
Das intradialytische Training am Kantonsspital Winterthur (KSW) wird nur nach ärztlicher Verordnung durchgeführt. Es beinhaltet ein personalisiertes Ausdauer- und Krafttraining. Das 30 bis 45-minütige Ausdauertraining wird mit dem Ergometer durchgeführt. Dabei werden Fahrradergometer genutzt, welche für den Einsatz im Patientenbett geeignet sind. Sie haben einen Elektromotor, der es ermöglicht, sowohl aktiv als auch passiv zu trainieren. Aber auch eine Mischform aus aktiv und passiv ist möglich. Somit können auch besonders schwache Patienten an dem Training teilnehmen.
Abbildung 2: Krafttraining während der Hämodialyse Für das Krafttraining kommen Gewichtsmanschetten und Therabänder zum Einsatz. Die Patienten führen verschiedene vordefinierte Übungen zur Kräftigung der Muskulatur der unteren Extremität durch.
Herr B., 62 Jahre Herr B. findet die Trainingsmöglichkeit während der Hämodialyse sehr gut. Vor Trainingsbeginn konnte er keine 200 Meter ohne Pause gehen, das ist nun wieder möglich. An dialysefreien Tagen bewegt sich Herr B. derzeit zirka 30 Minuten in Form eines Spaziergangs ausser Haus. Er laufe jetzt wieder gern, da er weniger Schmerzen habe, sagt er. An den dialysefreien Tagen ist er mit der Haushaltsführung beschäftigt. Nach einer längeren Trainingspause bemerkt er die Abnahme der Kraft in der unteren Extremität, was ihn dann auch im Alltag einschränkt. Herr K., 66 Jahre Die Belastung während des intradialytischen Trainings hängt bei Herrn K. stark von seiner Tagesform ab. Ist während der Hämodialyse viel Wasser zu ziehen, fühlt er sich bereits vor dem Training müde. Er spürt generell eine körperliche Erschöpfung nach dem Training. Herr K. bemerkt auch nach einem Jahr Training keine wesentliche Verbesserung der Beinkraft, obwohl die Belastungsintensität in diesem Zeitraum deutlich gesteigert wurde. Dennoch würde er das intradialytische Training anderen HDP weiterempfehlen. Herr K. geht mit seiner Frau bei entsprechenden Witterungsverhältnissen am Rollator spazieren, jedoch höchsten 20 bis 30 Minuten, und das an dialysefreien Tagen. Fr. B, 82 Jahre Fr. B. findet es sehr gut, dass beim Training auf das tagesaktuelle Befinden eingegangen und die Belastung entsprechend angepasst wird. Ihr Blutdruck ist
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während und nach der Hämodialyse deutlich besser seit Trainingsbeginn. Nach einem Sturz im vergangenen Jahr und einer damit verbundenen Trainingspause von sechs Wochen war der Trainingsrückstand und der Kraftverlust in der unteren Extremität für sie deutlich spürbar. Auch ihr Mann habe festgestellt, dass sie seit der Trainingsaufnahme viel besser gehen könne; das Treppensteigen falle ihr deutlich leichter. Sie habe allgemein wieder viel mehr Energie, was es ihr auch ermögliche, wieder im Garten zu arbeiten. Regelmässige Bewegung in Form von ausgedehnten Spaziergängen und Ausflügen beschränken sich bei Frau B. auf das Wochenende. Unter der Woche kümmert sie sich um die täglichen Arbeiten im Haushalt.
Korrespondenzadresse: Erik Willems Kantonsspital Winterthur Institut für Therapien und Rehabilitation Brauerstrasse 15 Postfach 834 8401 Winterthur E-Mail: erik.willems@ksw.ch
Literatur: 1. Ambühl, PM: Aktuelle Erkenntnisse zur Schweizer Dialyspopulation. Medizin Aktuell 2017, 22–26. Bundesamt für Statistik. (2015). Abgerufen am 3. 3 2020 von www.bfs. admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/zukuenftige-entwicklung/schweiz-szenarien.html 2. Daul AE: Körperliches Training und Dialyse. Der Nephrologe 2011, 6(6), 537–547. 3. Davison SN: Pain in hemodialysis patients: prevalence, cause, severity, and management. Am J Kidney Dis 2003, 42(6), 1239–1247. 4. Keller C, Geberth S: Praxis der Nephrologie 2011, (3. Ausg.). Berlin: Springer. 5. Daul AE, Schäfers RF, Daul K, Philipp T: Exercise during hemodialysis. Clinical Nephrology. Vol. 61, Suppl. 1, 2004, 26–30. 6. Johansen KL, Chertow GM, Ng AV, Mulligan K, Carey S, Schoenfeld PY, Kent-Braun JA: Physical activity levels in patients on hemodialysis and healthy sedentary controls. Kidney Int 2000, 57(6), 2564–2570. 7. Gomes EP, Reboredo MM, Carvalho EV, Teixeira DR, d’Ornellas LF, Ferreira Filho GF et al.: Physical Activity in Hemodialysis Patients Measured by Triaxial Accelerometer. Biomed Res Int 2015, 645645. 8. Heiwe S, Jacobson SH: Exercise Training in Adults with CKD: A Systematic Review and Meta-analysis. Am J Kidney Dis 2014, 64(3), 383–393. 9. Chang Y, Cheng SY, Lin M, Gau FY, Chao YFC: The effectiveness of intradialytic leg ergometry exercise for improving sedentary life style and fatigue among patients with chronic kidney disease: A randomized clinical trial. Int J Nurs Stud 2010, 47(11), 1383–1388.
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