Transkript
MAGEN-DARM-ERKRANKUNGEN
Wissenswertes über Nahrungsmittelintoleranzen – am Beispiel der Laktose
Diana Studerus1), 2), Benjamin Misselwitz3), Mark Fox1), 4)*
Eine Vielzahl von Personen ist von Blähungen, Abdominalschmerzen und Stuhlgangunregelmässigkeiten betroffen. Laktose wird häufig mit diesen Verdauungsproblemen in Zusammenhang gebracht, und Laktoseintoleranz ist – verglichen mit anderen Nahrungsmittelintoleranzen – sehr gut erforscht. In dieser Übersicht werden aktuelle Studien zu den Mechanismen der Laktoseverdauung und -intoleranz vorgestellt. Gleichermassen beleuchtet wird, wie auch andere Kohlenhydrate Verdauungssymptome hervorrufen können. Darüber hinaus werden die Konsequenzen einer Ernährungsanpassung auf das Mikrobiom und wichtige Therapieoptionen dargestellt.
Diana Studerus
Laktose ist die wichtigste Zuckerart in der Milch von Säugetieren – mit Ausnahme von Seelöwen und Walrossen, die eine dünnflüssige, visköse und fettfreie Milch ohne Laktose produzieren (1). Säuglinge sind an eine ausschliesslich milchbasierte Ernährung adaptiert. So zeigen Studien, dass Säuglinge, die mit laktosehaltiger Säuglingsnahrung gefüttert wurden, einen höheren Gehalt an Glukose und Aminosäuren im Blut aufweisen als Säuglinge mit laktosefreier Säuglingsmilch (2). Interessanterweise scheint Laktose auch der einzige Zucker zu sein, der nicht das Risiko für Karies erhöht (3).
Enzymatische Spaltung und Absorption
Die Verdauung und die Aufnahme von Laktose erfolgen im Dünndarm (5, 6). Das Enzym Laktase spaltet Milchzucker in Glukose und Galaktose, die dann aktiv in die Enterozyten aufgenommen werden. Die Aktivität der Laktase ist zum Zeitpunkt der Geburt hoch, nimmt im Kindesalter in den meisten Populationen jedoch langsam ab. Möglicherweise erleichtert dieser Prozess das Abstillen. Bei Individuen mit spezifischen genetischen Mutationen besteht jedoch weiterhin eine hohe Laktaseaktivität («Laktasepersistenz»), was den Konsum grosser Mengen Laktose auch im Erwachsenenalter ermöglicht. Laktasedefizienz (LD) bezeichnet das Fehlen relevanter Laktaseexpression am Bürstensaum des Dünndarms; diese kann primär (genetisch) oder sekundär aufgrund einer Vielzahl von Darmerkrankungen vorkommen. Laktosemalabsorption (LM) meint das Unvermögen, Laktose im Dünndarm zu spalten und zu absorbieren. Es muss jedoch betont werden, dass LD und LM keine Krankheiten, sondern normale Varianten der menschlichen Physiologie sind. Tatsächlich zeigen ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung LD und/ oder LM. Bei Individuen mit Laktoseintoleranz (LI)
treten aufgrund einer LM nach Konsum von Laktose Beschwerden auf (siehe unten).
Laktose als Überlebensvorteil?
Die häufigste Mutation im Laktasegen bei Europäern ist ein C→T-Austausch im Laktasepromotor (LCT13 910: C:T-Allele, «T» für Toleranz). Diese Mutation ermöglicht Laktasepersistenz und Laktoseverdauung auch im Erwachsenenalter. Die Mutation ist dominant, und nur Individuen ohne eine einzige Kopie des T-Allels (bzw. Individuen mit zwei C-Allelen) haben «Laktase-Nichtpersistenz» und verlieren im Kindesalter die Fähigkeit, Laktose zu verdauen. Diese Mutation trat zum ersten Mal vor ungefähr 10 500 Jahren auf und verbreitete sich parallel zur Domestizierung von Nutztieren zügig in Europa und Nordafrika. Diese Mutation bot wahrscheinlich einen relevanten Überlebensvorteil von etwa 4 bis 5 Prozent pro Generation. Das ist beachtlich und entspricht etwa jenem Selektionsvorteil von Mutationen für Schutz vor Malaria in Afrika oder für höhere Sauerstoffaufnahme bei Sherpas in Nepal. Die Fähigkeit, Laktose nach dem Säuglingsalter zu verdauen, machte Milch zu einer wichtigen Quelle für Nahrung (Kalorien, Eiweiss) sowie sauberem Wasser für Erwachsene. Das dürfte besonders während Hungersnöten relevant gewesen sein. Ein Selektionsvorteil durch erhöhte Aufnahme von Vitamin D aus der Milch ist ebenso möglich, insbesondere in Nordeuropa, wo aufgrund einer geringeren UV-Exposition das Risiko eines Vitamin-D-Mangels erhöht ist (4, 7).
Pathophysiologie
Die meisten Personen mit LM haben nach Einnahme einer üblichen Portion Milchprodukte keine oder nur wenig Symptome (Kasten 1), andere jedoch entwi-
Benjamin Misselwitz
Mark Fox
1 Klinik Arlesheim, 4144 Arlesheim 2 Food on Record ®, Ernährungs-
beratung, 4051 Basel 3 Universitätsklinik für Viszerale
Chirurgie und Medizin, Inselspital Bern, Universität Bern 4 Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Universitätsspital Zürich, 8091 Zürich
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2020 15