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MAGEN-DARM-ERKRANKUNGEN
Wie Nerven unseren Darm steuern: Das enterische Nervensystem
Prof. Michael Schemann von der Technischen Universität München beschäftigt sich in seiner wissenschaftlichen Forschung intensiv mit der nervalen Regulation gastrointestinaler Funktionen. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hat unter seiner Leitung ein interdisziplinäres Team an einer Nachweismöglichkeit des Reizdarmsyndroms aufgrund einer organischen Veränderung geforscht. Mit dem Proteasen-Profiling liegt eine vielversprechende Strategie zur Entwicklung von Reizdarmbiomarkern vor. Im Interview erzählt er über seine Forschung und über die Besonderheiten in der nervalen Steuerung des Darms.
Michael Schemann
SZE: Im Zusammenhang mit der nervalen Darmsteuerung wird vom enterischen oder gastrointestinalen Nervensystem gesprochen? Was ist damit gemeint? Prof. Michael Schemann: Das ist ein komplexes Geflecht von Nervenzellen, die sich in der Darmwand als dünne Schichten zwischen den Muskeln des Verdauungstrakts und unterhalb der Schleimhaut befinden. Die Anzahl der Neurone des enterischen Nervensystems (ENS) ähnelt der des Rückenmarks und bildet die grösste Ansammlung von Nervenzellen ausserhalb des Gehirns. Durch das ENS kontrolliert sich der Darm selbst – unabhängig vom Gehirn. Diese einzigartige Fähigkeit besitzt kein anderes Organ, weder das Herz noch die Lungen oder die Nieren. Deren Aktivität wird vielmehr über spezifische Zentren im Gehirn kontrolliert. Die wenigen Verbindungen zwischen Darm und Gehirn verlaufen über den Sympathikus und Parasympathikus. In der Fachliteratur finden sich für das ENS auch Bezeichnungen wie Darmhirn oder «litte brain of the gut». Vom gastrointestinalen Nervensystem spricht man eher nicht.
Welche Aufgaben übernimmt das ENS? Schemann: Im Prinzip die Kontrolle aller vitalen Funktionen im Verdauungstrakt. Dazu gehören die Darmmotilität mit Kontraktionen der Muskelwand, der Transport über die Schleimhaut, d. h., Sekretion und Absorption, der Blutfluss und auch immunologische Funktionen. Am besten untersucht ist die Motilität. Wenn beispielsweise ein Stück Darm in eine Petrischale gelegt wird, macht dieses isoliert das Gleiche wie im Körper. Die Bewegungen des Darms in der Petrischale kommen erst dann zum Erliegen, wenn man durch Neurotoxine die Arbeit des ENS unterbindet. Das Gehirn ist sehr wahrscheinlich aus dem ENS entstanden. Damit erklärt sich das Phänomen, dass die Ausstattung an Neurotransmitter und Neuropepti-
den von Darm und Gehirn sehr ähnlich sind, auch wenn sie nicht unbedingt dieselben Funktionen haben.
Was sind die Vorteile eines unabhängigen Kontrollsystems? Schemann: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es ergibt beispielsweise keinen Sinn, dass jeder Millimeter eines 7 Meter langen Darms über ein Kontrollzentrum im Gehirn repräsentiert wird. Der Darm transportiert Inhalt von oben nach unten und nimmt fortwährend Substanzen auf und gibt auch welche ab. Es hat sich bewährt, dass der Darm dies lokal reguliert und nicht über ein spezialisiertes Darmzentrum im Gehirn. Die andere Vorstellung könnte rein praktikabler Natur sein: Müsste man ein 7 Meter langes Organ über ein Zentrum versorgen, müssten auch die Nervenfasern irgendwo verlaufen. Das wäre dann eine irre grosse Menge an Fasern. Es hat sich offensichtlich bewährt, die für die Funktion des Darms notwendigen 500 Millionen Nervenzellen in der Darmwand zu belassen. Ansonsten müsste man den Schädel, bildlich gesprochen, schon um einiges grösser machen. Zudem wäre ein solches System sehr störungsanfällig.
Welche Verbindung gibt es zwischen Kopf und Bauch? Schemann: Zwischen dem Verdauungstrakt und dem zentralen Nervensystem bestehen zahlreiche Interaktionen. Signale des ZNS können Darmfunktionen verändern, und Nachrichten vom Darm wiederum beeinflussen das Gehirn. Untersuchungen in den letzten Jahren haben gezeigt, dass es eine bidirektionale Kommunikation zwischen dem Gastrointestinaltrakt und dem Gehirn gibt – die sogenannte Darm-Hirn- bzw. Hirn-Darm-Achse. Im sogenannten limbischen System werden Informationen aus dem Darm verarbeitet. Das Gehirn arbeitet hierbei
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500 Millionen Nervenzellen im Darm bilden das autonom arbeitende enterische Nervensystem (ENS): hirnähnliche Funktionen auch bekannt als «Bauchhirn» reguliert vitale Darmfunktionen
Ein Blick in die Darmwand zeigt das filigrane Geflecht des ENS
1 cm
1 mm
0,1 mm
Abbildung 1: Blick in die Darmwand auf das enterische Nervensystem Die Bilder zeigen von links nach rechts eine immer stärkere Vergrösserung. Die violette Färbung zeigt das wabenförmige Netzwerk des enterischen Nervensystems in einem intakten Darmrohr von zirka 3 cm Länge. Ein Knotenpunkt dieser Wabenstruktur zeigt das mittlere Bild. Hier erkennt man einzelne Nervenzellen in einem Ganglion, deren Farbgebung die Koexpression unterschiedlicher Transmitter zeigt. Im Bild ganz rechts sind einzelne Nervenzellen mit ihren Forstsätzen zu sehen.
mehr als Monitor im Unterbewusstsein, ohne dass es fundamental in die Regulation der Darmfunktionen eingreifen kann.
Was ist das Bauchgefühl? Schemann: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Aber die diesbezüglichen Volksweisheiten dazu sind sehr stark verankert, obwohl es kein wissenschaftliches Korrelat gibt. Es geht im eigentlichen Sinn bei diesem Bauchgefühl um die Intuition und intuitive Entscheidungen. Ursprünglich kommt die Vorstellung eines Bauchgefühls aus der Antike, da man damals glaubte, dass der Magen das zentrale Organ für intuitive Entscheidung ist. Irgendwann ist daraus durch Abstraktion der Begriff «Bauchgefühl» entstanden. Dahinter steht das biologische Konzept der Interozeption, d. h. der Einfluss von Organfunktionen auf das Gehirn: Unser Verhalten wird von aussen, aber auch von Meldungen aus dem Inneren bestimmt. Dadurch entsteht dann eine Art «Gefühlsteppich», der unsere Entscheidungen beeinflussen könnte. Allerdings warten wir noch darauf, dass zum Beispiel mittels Gehirnimaging diese Interaktionen zweifelsfrei sichtbar werden.
Wie entsteht dann der Zusammenhang zwischen Stress, psychischen Erkrankungen und dem Darm? Schemann: Stress wirkt sich auf den ganzen Körper aus, nicht nur auf den Darm. Der Darm entscheidet aber beispielsweise nicht, ob jemand depressiv wird oder nicht. Vielmehr stellt sich die Frage, ob ein depressiv Erkrankter schon vorher unter Darmfunktionsstörungen litt oder erst nach der Depression. Oder treten beide Symptome gleichzeitig auf ? Anamnestisch lässt sich das nicht zweifelsfrei eruieren.
Bereich zugeordnet. Die Betroffenen haben Thoraxschmerzen und Symptome eines Herzinfarktes, die allerdings durch Reflux entstehen. Die Zusammenarbeit von Kardiologen und Gastroenterologen braucht es dann, damit Betroffene die richtige Diagnose erhalten. Denn die Störung liegt im Ösophagus, nicht im Herzen.
Wie sieht das bei psychischen Erkrankungen aus? Welche Rolle spielt da der Darm? Schemann: Als Missing Link wird heute die Mikrobiota angesehen. Wie kann beispielsweise etwas, das sich im Darm befindet, auf das Verhalten wirken? Momentan stellt man sich das so vor, dass Mediatoren direkt oder indirekt von der Mikrobiota gebildet werden, die dann einen Einfluss auf die Nerven haben und das Verhalten beeinflussen. Das ENS wird dabei als Interface gebraucht, da nur wenige Nerven der Darm-Hirn-Achse bis tief in die Schleimhaut ziehen. Die Nervenfasern des ENS tun dies aber und können dadurch Informationen aus der Schleimhaut an Nerven der Darm-Hirn-Achse weiterleiten (1). Diese Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse ist derzeit ein Riesenhype. Ich bin diesbezüglich eher skeptisch. Denn 99 Prozent der Studien werden an Tiermodellen durchgeführt, die eher artifiziell sind, da sie zum Beispiel häufig an vollkommen keimfreien Tieren durchgeführt werden. Es gibt meines Wissens nach nur eine Humanstudie von Kirsten Tillich und Emeran Mayer von der UCLA, in der Probanden in einem Studienarm einen probiotischen Joghurt essen und dann geschaut wird, ob sich dadurch die Reaktionen auf Bilder, die unterschiedliche Emotionen erzeugen, ändern. Bislang ist aber noch unklar, wie sich diese Ergebnisse auf den Alltag übertragen lassen.
Worin besteht die Verbindung zwischen Neurologie und Gastroenterologie, und was bedeutet Neurogastroenterologie? Schemann: Neurogastroenterlogen beschäftigen sich insbesondere mit den funktionellen Darmstörungen wie Reizdarm und Reizmagen. Diese Erkrankungen gehen mit Störungen der nervalen Kontrolle einher. Auch der nicht kardiale Thoraxschmerz wird diesem
Parkinson-Patienten haben schon früh MagenDarm-Beschwerden. Wären diese Veränderungen dann wie Frühmarker, und wie könnte man diese erfassen? Schemann: Die Spezifität solch einer Früherkennung wird kontrovers diskutiert. Konsens ist allerdings, dass weit vor den neurologischen Veränderungen gastroenterologische Probleme bestehen – in der Re-
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Abbildung 2: Schematische Darstellung der Darm-Hirn Verbindungen Entlang der Darm-Hirn-Achse
(Rottöne) werden Informationen vom Darm in Richtung Rückenmark und Gehirn geschickt (sensorische Ner-
ven). Die Hirn-Darm-Achse (Grüntöne) sendet Signale vom Gehirn bzw.
Rückenmark zum Darm (motorische Nerven). Die Darm-Hirn-Achse
besteht aus sympathischen und parasympathischen Nerven. Während der Sympathikus Darmfunktionen hemmt,
hat der Parasympathikus eher eine stimulierende Wirkung. Wichtig ist, dass beide Nerven die Funktionen nur indirekt beeinflussen, da sie das enterische Nervensystem als Interface (violett gefärbte Nervenzellen im
Magen und Darm). Die Nerven der Darm-Hirn Verbindungen summieren sich auf wenige
100.000, sind primär sensorisch (siehe Dicke der Pfeile) und werden zahlenmässig von den 500 Millionen Nervenzellen des enterischen Nerven-
systems bei weitem übertroffen.
Gehirn
HirnDarmAchse
Ganglion nodosum
Rückenmark
Parasympathikus Sympathikus
Spinal ganglion
DarmHirnAchse
Darm
Enterisches Nervensystem
gel eine Obstipation. Die Betroffenen leiden demnach zuerst unter Magen-Darm-Störungen, erst später treten die zentralen Ausfälle auf. Das trifft zumindest auf zirka ein Viertel bis ein Drittel der Betroffenen zu. Der Zusammenhang dieser beiden Störungen hat den deutschen Anatomen Heiko Braak zu der Hypothese veranlasst, dass Parkinson eine gastroenterologische Erkrankung ist, also aus dem Darm heraus entsteht. Viele Studien nutzen das zur Früherkennung; in Darmbiopsien nachgewiesene Lewy-Bodies erhärten die Diagnose. Aber Parkinson ist nur ein Beispiel. Der Darm als Ursache für neurologische Erkrankungen wird auch im Zusammenhang mit Multipler Sklerose, Autismus oder Prionenerkrankungen gesehen. Die ersten Proteinfehlfaltungen bei BSE zum Beispiel sind viel früher im Darm erkennbar als im Gehirn. Der Darm kann dabei sowohl Bystander als auch Verursacher sein.
Die Leiterkrankung bei Störungen im ENS ist das Reizdarmsyndrom. Wie äussert sich die Erkrankung in Bezug auf die Reizweiterleitung, und warum fehlen bislang spezifische Behandlungsmethoden? Schemann: Beim Reizdarm gibt es viele Ursachen, deshalb die breite respektiv wenig spezifische Terminologie. Im Endeffekt ist häufig die nervale Regulation der Muskulatur und/oder der Darmschleimhaut gestört. Über die Verbindung ENS-Darm-HirnAchse entstehen dann die Bauchschmerzen als eines der Leitsymptome. Ursächlich kann aber auch eine Störung im Gallensäuremetabolismus sein. Wir kennen heute mehr als 20 pathophysiologisch relevante Faktoren. Ich denke, in 20 bis 30 Jahren wird es den Reizdarm als Begriff nicht mehr geben, sondern aufgrund der spezifisch zu ermittelnden Ursachen werden wir differenziertere Krankheitsbezeichnungen haben.
Könnte beispielsweise das Proteasen-Profiling eine vielversprechende Strategie zur Entwicklung von Reizdarmbiomarkern sein? Schemann: Das ist eine berechtigte Hoffnung. Wichtiger auslösender Mechanismus der Erkrankung ist eine veränderte Aktivität der Nerven in der Darmwand. Die daran beteiligten Faktoren sind Botenstoffe, die in der Darmwand, insbesondere in der Schleimhaut, freigesetzt werden. Deshalb lösen Schleimhautbiopsie-Überstände von Reizdarmpatienten eine erhöhte Nervenaktivität aus, während Überstände von gesunden Probanden keinerlei Wirkung zeigen. Wir konnten zeigen, dass die Nervenaktivierung der Reizdarmüberstände von Proteasen abhängt, die einen ganz bestimmten proteaseaktivierten Rezeptor stimulieren, nämlich vom Typ 1, kurz auch PAR1 genannt. Im Gegensatz dazu spielte PAR1 keine Rolle bei der nervenstimulierenden Wirkung der Überstände von Colitis-Patienten, die sich gerade in Remission befanden, also bei denen die Erkrankung «ruhte». Daraufhin haben wir uns mit den Proteinen in den Überständen beschäftigt und herausgefunden, dass es ein Rreizdarmspezifisches Proteinmuster, insbesondere ein reizdarmtypisches Proteaseprofil gibt. Mithilfe der Proteomanalyse konnten 204 Proteine identifiziert werden, deren Konzentration in den Reizdarmüberständen gegenüber den Biopsien von gesunden Probanden oder Colitis-Patienten unterschiedlich hoch waren. Darunter waren vier Proteasen, die ausschliesslich in den Überständen von Reizdarmpatienten erhöht waren. Deshalb könnte das Proteasen-Profiling eine vielversprechende Strategie zur Entwicklung von Reizdarmbiomarkern sein (2). Allerdings ist die Umsetzung in die Praxis noch sehr schwierig und zu aufwendig. Wir versuchen deshalb derzeit diese Biomarker über die Stuhlmessung zu erfassen. Das ist weniger bzw. gar nicht invasiv.
Korrespondenzadresse: Prof. Michael Schemann LS Human Biology TU München Liesel-Beckmann-Strasse 4 D-85354 Freising E-Mail: schemann@wzw.tum.de
Referenzen: 1. Cryan JF, Dinan TG: Mind-altering microorganisms: the impact of the
gut microbiota on brain and behaviour. Nat Rev Neurosci 2012; 13: 701–712. 2. Buhner S, Kahne H, Hartwig K et al.: Protease signaling through protease activated receptor 1 mediate verve activation by mucosal supernatants from irritable bowel syndrome but not from uncreative colitis patients: Plos One 2018; DOI; 10.1371/journal. Pone. 0193943.
Buchtipp: Paul Enck, Thomas Frieling, Michael Schemann Darm an Hirn Verlag Herder ISBN: 978-3-451-03193-9
Bilder Michael Schemann
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