Transkript
ERNÄHRUNG
menuCH – wie ernährt sich die Schweiz?
Sabine Rohrmann1, Giulia Pestoni1, Jean-Philippe Krieger1, David Faeh1,2, Janice Sych3, Angeline Chatelan4, Murielle Bochud4
1 Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich 2 Department Gesundheit – Ernährung und Diätetik, Berner Fachhochschule 3 Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation, ZHAW School of Life Sciences and Facility Management, Wädenswil 4 Centre universitaire de médecine générale et santé publique (Unisanté), Département d’Epidémiologie et systèmes de santé, Université de Lausanne
Mit der Erhebung menuCH liegen erstmals repräsentative Daten zur Ernährung der Schweizer Bevölkerung vor. Sie bestätigen ältere Erkenntnisse, liefern aber insgesamt mehr Details auch zu den kulturellen Unterschieden. Vor allem aber zeigt die menuCH-Studie, dass die Ernährung der Schweizer Bevölkerung unausgewogen ist.
Einleitung
Eine landesweite Erhebung der Ernährung der Be völkerung fehlte bis zum Jahr 2015 in der Schweiz. Informationen zur Ernährung auf nationaler Ebene existierten lediglich auf Basis der alle 5 Jahre durch geführten Gesundheitsbefragungen (SGB; seit 1992), die jedoch rudimentär waren und nur einzelne As pekte, wie z. B. die Anzahl Tage pro Woche, an denen Früchte und Gemüse konsumiert werden, erfassten (1, 2). Studien, die eine detaillierte Ernährungs erhebung umfassten, waren zudem regional begrenzt, wie CoLaus (3), Bus Santé (4) oder SAPALDIA (5). Die detaillierte und für die Schweiz repräsentative menuCH-Studie sollte diese Lücke schliessen (6).
Methodik
Die menuCH-Studie wurde zwischen Januar 2014 und Februar 2015 durchgeführt (7). Ziel waren die Erfassung der Ernährung und des Essverhaltens, eine ausführliche anthropometrische Erhebung sowie die Erhebung weiterer Angaben zu sozioökonomischen und zu Lebensstilfaktoren (8). Angefragt wurden 13 606 Personen im Alter zwi
schen 18 und 75 Jahren (8). 5496 Personen wurden kontaktiert, 2086 Personen erklärten sich zur Teil nahme bereit (38%). Von diesen nahmen 2057 Per sonen an zwei 24-Stunden-Erinnerungsprotokollen teil und wurden in Auswertungen zur Ernährung einbezogen. Die Stichprobe ist für die Schweizer Bevölkerung bezüglich Alter und Geschlecht für jede Sprachregion repräsentativ. Damit liefert die menuCH-Studie Ergebnisse für die gesamte Schweiz wie auch getrennt für die einzelnen Sprachregionen. Zur Erhebung der Ernährung wurde das computer gestützte 24-Stunden-Erinnerungsprotokoll «Globo Diet®» eingesetzt. Wie bei Chatelan et al. beschrieben, wurde das erste 24-Stunden-Erinnerungsprotokoll im Studienzentrum zusammen mit Ernährungs beratern erhoben, das zweite im Abstand von 2 bis 6 Wochen per Telefon (8). Die in den 24-Stunden-Er innerungsprotokollen berichteten Lebensmittel wur den mit der Schweizer Nährwertdatenbank (9) ver knüpft, um die Aufnahme an Energie, Makro- und Mikronährstoffen zu berechnen. Informationen über Ernährungsgewohnheiten, soziodemografische und Lebensstilfaktoren wurden mit einem Fragebogen erhoben, und anthropometrische Variablen wurden direkt in den Studienzentren gemessen.
Tabelle
Vergleich der Empfehlungen der SGE mit den Ergebnissen von menuCH; nach (8)
Lebensmittelgruppe
SGE-Empfehlung menuCH-Ergebnisse
Süssigkeiten, salzige Snacks,
1 Portion/Tag
alkoholische Getränke
4 Portionen/Tag
Tierische Fette
≤ 10 g/Tag
3-mal mehr
Pflanzliche Fette
25 g/Tag
12 g/Tag
Fleisch, Fisch, Eier, Tofu
1 Portion/Tag
1,5 Portionen/Tag (zu viel Fleisch)
Milch und Milchprodukte
3 Portionen/Tag
2 Portionen/Tag
Getreideprodukte und Kartoffeln 3 Portionen/Tag
2,4 Portionen/Tag
Früchte und Gemüse
5 Portionen/Tag
3,3 Portionen/Tag
Nicht alkoholische Getränke
1–2 Liter/Tag
1,7 Liter/Tag
Die wichtigsten Ergebnisse
Im Folgenden werden ausgesuchte und bisher ver öffentlichte Ergebnisse zusammenfassend dargestellt. Lebensmittelverzehr: Chatelan et al. gingen in der ersten Auswertung der menuCH-Daten der Frage nach, ob und in welcher Form sich die Schweizer Bevölkerung an die Ernährungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) (10) hält (8). Lediglich der Konsum von Getränken wie Wasser, Kaffee und Tee entspricht den Empfeh lungen (Tabelle), während Süsses, Salziges und al koholische Getränke bei Weitem mehr konsumiert werden als empfohlen; auch wird zu viel Fleisch ge gessen. Dagegen liegt der Konsum von Milchproduk
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ten, Hülsenfrüchten sowie von Früchten und Gemüse unter den Empfehlungen. Weniger als 1 Prozent der Studienteilnehmer ernährte sich gemäss den Emp fehlungen (8). In einer tiefergehenden Analyse der Daten zeigte sich, dass 72 Prozent der Befragten ver arbeitetes Fleisch konsumierten, mit einem täglichen mittleren Verzehr von 43 g (11). Dabei wurde am meisten Wurst konsumiert (18 g), danach folgten Schinken (11 g) und Speck (2 g). «Andere» Arten von verarbeitetem Fleisch (z. B. Chicken Nuggets, Grillspiesse, verzehrfertige Sauce Bolognese) wurden zu 12 g pro Tag verzehrt. Pro 1000 kcal Energieauf nahme assen Männer mehr verarbeitetes Fleisch als Frauen, mehr Personen in der deutschsprachigen Schweiz als in der französischsprachigen, adipöse Personen mehr als Normalgewichtige und Raucher mehr als Nichtraucher. Ernährungsmuster: Lebensmittel werden nicht iso liert verzehrt – jeder Mensch hat Vorlieben und Abneigungen, hat Ernährungsgewohnheiten, die ge prägt sind von Erziehung, Kultur und Traditionen. So lassen sich häufig Muster im Lebensmittelkon sum erkennen. Dabei kann man grob zwei Gruppen unterscheiden: Ernährungsmuster, die statistisch auf Basis der in der untersuchten Bevölkerung verzehr ten Lebensmittel gebildet werden («datengetrieben»), und existierende Ernährungsscores, die auf Ernäh rungsempfehlungen beruhen. Traditionelle Ernährungsmuster: In einer Studie, die mittels Faktor- und Clusteranalyse Ernährungsmus ter bestimmte, zeigten sich unter den menuCH-Stu dienteilnehmenden die Muster «Traditionell schwei zerisch» (hohe Aufnahme an Milchprodukten und Schokolade), «Westliches Muster 1» (hohe Aufnahme an Süssgetränken und Fleisch), «Westliches Muster 2» (hohe Aufnahme an Alkohol, Fleisch und stärkehal tigen Lebensmitteln) und «Gesundes Muster» (hohe Aufnahme an Fisch, Früchten, Gemüsen, zugesetzte Fette). Interessanterweise wurde das «Gesunde Mus ter» in den lateinischen Sprachregionen häufiger be folgt als in der deutschsprachigen Schweiz (12). Bauchumfang und Frühstück: Ein Zusammenhang mit dem Bauchumfang fand sich für die Art/Zu sammensetzung des Frühstücks. Personen mit ei nem «gesunden Frühstück» (Früchte, Getreideflo cken, Nüsse, Joghurt) hatten im Durchschnitt einen niedrigeren Bauchumfang als Personen mit einem «traditionellen Frühstück» (weisses Brot, Butter, süsse Aufstriche) oder solche mit einem «westlichen Frühstück» (gezuckerte Getreideflocken, Milch) (13). Dieser Effekt war aber nicht nur auf die Art des Frühstücks, sondern auch auf die übrige Ernährung im Lauf des Tages zurückzuführen. Eine weitere Auswertung zeigte, dass ein «gesundes Frühstück» generell mit einer höheren Qualität der Ernährung einhergeht im Vergleich zu einem «traditionellen Frühstück» mit Brot und süssen Aufstrichen (14). Ein Drittel der Studienteilnehmer nahm kein Früh stück ein; diese hatten im Vergleich zu Personen mit einem «traditionellen Frühstück» eine etwas schlech tere Qualität der Ernährung insgesamt.
Zwei häufig verwendete Scores, die die Ernährungs qualität beurteilen, sind der Alternate Healthy Eating Index (AHEI) und der Mediterranean Diet Score (MDS) (15). Personen aus der französischsprachigen Schweiz und dem Tessin hatten eine höhere Ernäh rungsqualität als Personen aus der deutschsprachigen Schweiz; daneben waren auch hier Geschlecht, Alter, Körpergewicht, Bildung und körperliche Aktivität Faktoren, die mit der Ernährungsqualität zusammen hingen.
Nachteile der menuCH-Studie
Die Ernährung wurde mithilfe von 24-Stunden-Er innerungsprotokollen erhoben. Damit kann eine Aussage über die Ernährung bestimmter Bevölke rungsgruppen gemacht werden, es können jedoch keine Rückschlüsse auf Ernährungsweisen wie bei spielsweise die einer veganen oder vegetarischen Ernährungsweise gezogen werden. Die Berechnung der Aufnahme an Mikronährstoffen wird durch den geringen Umfang der Schweizer Nährwertdaten bank eingeschränkt (9). Hier wäre die Kombination von 24-Stunden-Erinnerungsprotokollen mit einem (kurzen) Ernährungshäufigkeitsfragebogen oder einer Lebensmittelliste eine geeignetere Erhebungs methode (16, 17). Der Stichprobenumfang von rund 2000 Personen lässt ebenfalls kaum Rückschlüsse auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu, wie Schwangere und Stillende, die einen besonderen Nährstoffbedarf haben. Nicht erfasst wurden ausserdem Personen, die keine der drei Landessprachen sprechen. Auch wenn die Stichprobe repräsentativ für die Schweiz ausgewählt wurde, war die Wahrscheinlich keit für die Teilnahme bei den Angefragten unter schiedlich. Ein Vergleich der Teilnehmenden mit den Nichtteilnehmenden zeigte, dass sich diese bezüglich Alter und Zivilstand sehr ähnlich waren; jedoch wa ren Teilnehmende häufiger Frauen und Personen mit Schweizer Nationalität (8).
Ausblick
Die bisherigen Auswertungen der menuCH-Studie geben einen guten Einblick in das Ernährungsver halten der Schweizer Bevölkerung. Einige Ergebnisse bestätigen ältere Erkenntnisse, liefern aber mehr Details. Andere Ergebnisse, wie zu den Ernährungs mustern, sind für die Gesamtschweiz neu. Wün schenswert für die Zukunft ist eine Kontinuität in der Datenerhebung. Sie dient dazu bessere Aussagen über die Veränderung des Ernährungsverhaltens zu erhalten. Durch die Verwendung kombinierter Erhe bungsmethoden, z. B. auch mittels Smartphones oder Biomarkern, liesse sich der Lebensmittelkonsum zu dem besser abgebilden.
Die Daten von menuCH sind für Forschende auf Anfrage beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) frei verfügbar: https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/lebensmittel-und-ernaehrung/ ernaehrung/menuch.html
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Sabine Rohrmann Epidemiologie chronischer Krankheiten Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention (EBPI) Universität Zürich Hirschengraben 84 8001 Zürich E-Mail: sabine.rohrmann@uzh.ch
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