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SYMPOSIUMSBERICHT
SMP-Symposium 2019
Länger gesund leben – der Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit
Annegret Czernotta
Wie kann man seine Gesundheit so lange wie möglich erhalten? Wie können wir die Gesundheit mit dem, was und wie wir essen und trinken, beeinflussen? Renommierte Experten beleuchteten am Symposium der Schweizer Milchproduzenten (SMP) das Thema «Länger gesund leben» aus verschiedenen Perspektiven.
Ketone, Ketose und die ketogene Ernährung
Lange Zeit hatten Ketone ein schlechtes Image, weil man sie im Urin von Diabetikern entdeckt hatte und für schädlich hielt. Ketone oder Ketonkörper sind wasserlösliche kleine Moleküle, die vorrangig in der Leber aus Fettsäuren hergestellt und ans Blut abgegeben werden. Heute ist bekannt, dass die Bildung dieser Substanzen physiologisch ist. «Wir kommen in Ketose zur Welt», sagte Dipl. oec. troph. Ulrike Gonder, freie Wissenschaftsjournalistin und Autorin am Symposium, «und wir gebären in Ketose.» Denn Ketone sind effiziente Energielieferanten – insbesondere für das Gehirn. Die unbeschränkte und schnelle Ankunft von Ketonen des mütterlichen Kreislaufs beim Fetus ist eine lebenswichtige Anpassung: Sie garantiert die embryonale Hirnentwicklung auch bei Nährstoffdefiziten, und beim Säugling macht das Gehirn immerhin 11 Prozent des Energieumsatzes aus. Die erste Ernährung des Neugeborenen ist deshalb trotz des Kohlenhydratanteils von rund 7 Prozent ketogen: Fette liefern 55 Prozent der Energie, und 16 bis 18 Prozent der Fette bestehen aus mittelkettigen Triglyzeriden (MCT). Aus der Forschung ist zudem bekannt, dass Ketone Brennstoff, aber auch Baustoff und Signalgeber sind. Sie sind nicht nur effiziente Energielieferanten, sondern schützen die Mitochondrien, dienen der Bildung von Cholesterin und gesättigten Fettsäuren im Gehirn. Werden sie richtig eingesetzt und gut zusammengestellt, reichen die möglichen Einsatzgebiete einer ketogenen Ernährung vom Abnehmen über die Diabetes-, die Epilepsie- und die Migränetherapie bis hin Demenzprophylaxe und -therapie und zur supportiven Therapie bei Krebs. Unter ketogener Diät bezieht der Körper seine Energie überwiegend aus Fettabbauprodukten wie Fettsäuren und Ketonköpern. «Eine ketogene Diät
besteht aber nicht nur aus Speck und Eiern, sondern auch aus Gemüse, Salaten, Kräutern, Pilzen, Nüssen und zuckerarmen Früchten», so Ulrike Gonder.
Eine Ernährungsempfehlung für alle?
«Offizielle» Ernährungsempfehlungen richten sich an die gesamte Bevölkerung. Formuliert wurden sie in ihren Grundaussagen vor vielen Jahrzehnten, als die Menschen noch überwiegend schlank waren und in der täglichen Arbeit und im Haushalt körperlich tätig waren. «Die Lebensbedingungen haben sich allerdings geändert, und zusammen mit der ab den 70erJahren zunehmenden Einführung industriell hoch verarbeiteter Nahrungsmittel hat eine Entkoppelung von Energiezufuhr und Verbrauch stattgefunden», so Prof. Nicolai Worm, Buchautor und Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHPG) in Saarbrücken. Eine Ursache für die Entkoppelung von Energieverbrauch zur Energiezufuhr sieht Worm vor allem in der damals ausgelösten Low-Fat-Welle, die in den USA begann und rund 10 Jahre später auch nach Europa schwappte. Das Problem dabei: Die alternativ angebotenen fettarmen, raffinierten Lebensmittel sind reich an Stärke und Zucker. Sie weisen eine sehr hohe Energiedichte auf, haben eine hohe glykämische Last, kosten wenig und bewirken eine starke Sekretion des GIP (glukoseabhängigen insulinotropen Peptiden) und eine schwache GLP-Sekretion (GLP = Glucagon-like Peptide). Diese Konstellation dieser Inkretinhormone fördert einerseits direkt die starke Insulinausschüttung und Fettspeicherung (auch die ektope Fettspeicherung in der Leber) und mindert andererseits die Fettverbrennung. Darüber hinaus wird damit die Magenentleerung beschleunigt, und die Sättigungssignale werden abgeschwächt. Global steigt die Adipositasprävalenz seit 1975 signifikant an. In der Schweiz sind bereits 42 Prozent der Bevölkerung übergewichtig oder adipös (Män-
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ner 52%, Frauen 33%). «Bei vielen kommen noch Schlafmangel und chronischer Dysstress hinzu, die das Problem der Fettleibigkeit verstärken», führte Nicolai Worm aus. Das gekoppelt mit Fehlernährung und muskulärer Inaktivität, wirkt sich auf die Insulinresistenz aus. Sie bedingt eine Hyperinsulinämie, die wiederum der nicht alkoholischen Fettleber, dem metabolischen Syndrom, Prädiabetes und Typ-2-Diabetes zugrunde liegt, die alle wiederum das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs und Demenzerkrankungen deutlich steigern. Insulin ist zudem ein Wachstumshormon, nicht nur für Muskeln, sondern auch für Fett- und Krebszellen! Dabei sei nicht entscheidend, ob jemand übergewichtig sei, sondern wo das Fett sitzte, so Prof. Worm: «Jemand kann schlank sein, aber ektopes Fett abdominal erhöht das Risiko einer Insulinresistenz.» Das therapeutische Vorgehen bei Insulinresistenz und Folgeerkrankungen umfasst eine Änderung des Lebensstils mit dem Ziel, Körperfett abzubauen, womit die Insulinsensitivität wieder gefördert wird: tägliche anstrengende muskuläre Aktivität, am besten im Sonnenlicht, und dazu eine auf Dauer kalorisch knappe naturbelassene Kost, gepaart mit ausreichend Ruhe und Schlaf. «Insulinresistente müssen sich ihre stärke- und zuckerhaltigen Speisen immer erst durch körperliche Aktivität verdienen», so Nicolai Worm. Es empfiehlt sich ein Teil- oder weitgehender Austausch von Brot und Backwaren, Kartoffeln, Reis, Nudeln und Süsswaren gegen Gemüse, Salate, Pilze, Beeren und Früchte. Im Austausch sollte der Proteinanteil durch hochwertige Proteinträger erhöht, aber auch der Fettanteil angehoben werden. Umgekehrt gilt: Je schlanker und je körperlich aktiver eine Person ist, desto insulinsensitiver ist diese Person, und umso weniger metabolische Probleme werden durch Stärke und Zucker ausgelöst. Diese einfachen Prinzipien sollten auch bei der Abgabe von Ernährungsrichtlinien berücksichtigt werden. Entsprechend liefert die ideale moderne Kost eine niedrige Energiedichte, gleichzeitig aber eine hohe Nährstoffdichte, und sie ist möglichst naturbelassen. Das Flexi-Carb-Konzept integriert diese Forderungen und ermöglicht eine flexible Anpassung an die individuellen Lebensbedingungen.
Labels für die Entscheidungsfindung
Wenn Konsumenten die Gesundheit von verarbeiteten Produkten wie Frühstückszerealien, salzigen Snacks oder Getränken beurteilen müssen, fehlt ihnen oft Wissen, um empfehlenswerte von nicht empfehlenswerten Lebensmitteln zu unterscheiden. Konsumenten benutzen daher häufig einfache Entscheidungsregeln: Als gesund wahrgenommene Zutaten (z. B. Früchte) oder als ungesund wahrgenommene Zutaten (z. B. Schokolade) bestimmen, wie gesund ein Produkt eingeschätzt wird. Eine solche heuristische Entscheidungsstrategie führte aber nicht zwingend zu schlechten Entscheidungen, sagte Prof. Michael Siegrist von der ETH Zürich. So zeigt eine Untersuchung von Bucher & Siegrist aus
dem Jahr 2013, dass Kinder den Nährwert oder die Gesundheit von 21 Getränken ebenso gut wie ihre Eltern einordnen können. Hahnenwasser wurde als das gesündeste, ein Red Bull von beiden als das ungesündeste Getränk eingeschätzt. Das heisst, bereits Kinder unterscheiden, ob Getränke Zucker oder Koffein enthalten und wie hoch der Fruchtanteil ist. Nährwertkennzeichnungen könnten bei der Entscheidung am Verkaufspunkt motivieren, gesündere Produkte zu wählen. Die Evidenz, dass Nähr wertkennzeichnungen aber tatsächlich zu einer gesünderen Ernährung führen, ist laut Prof. Siegrist aber weiterhin unklar.
Die Rolle von Fasten, Spermidin und Autophagie bei Langlebigkeit
Alterungsprozesse sind komplex. Sie sind beeinflusst durch unsere Genetik, die sich im Laufe des Jahres nicht verändert, vom Altern an sich und vom Lebensstil, der einen riesigen Einfluss auf die Lebenserwartung hat und die Häufigkeit verschiedener Erkrankungen beeinflusst. «Eine gesunde Lebensweise ist deshalb die beste Prävention gegen viele Erkrankungen», so Dr. Slaven Stekovic vom Institut für molekulare Biowissenschaften in Graz am SMP-Symposium. Insbesondere Fasten scheint ein effizientes Mittel zu sein, um alterbedingte Prozesse zu verzögern. Fasten reduziert Entzündungen im Darm, reguliert die IL12- und die IL-10-Achse, reguliert Ghrelin im mesolimbischen System und reduziert das Hungergefühl. In Studien reduziert es sogar die Nebenwirkungen der Chemotherapie und führt zu einem langsameren Tumorwachstum und mehr Fettabbau. «Fasten zwingt unseren Körper, die Energie und verfügbare Moleküle möglichst effizient zu nutzen. Dadurch wird die Autophagie eingeschaltet», so Dr. Stekovic. Autophagie heisst ursprünglich «sich selbst fressen» und beschreibt einen Stoffwechselprozess, der defekte Zellteile in Energie und molekulare Bausteine umwandelt. Dadurch kann die Zelle auch bei Nahrungs knappheit ohne grosse Einschränkungen weiter funktionieren. Die Autophagie hat einen positiven Nebeneffekt: Unnötige Moleküle (z. B. defekte Proteine und kaputte Zellteile) werden abgebaut, damit aus ihnen Energie gewonnen werden kann. Somit wird die Zelle von potenziell schädigenden Molekülen befreit, was die Funktion und die Lebens dauer der Zelle positiv beeinflusst. So führt die Erhöhung der Autophagierate im Gehirn durch das Fasten oder auch durch sogenannte Fasten-Mimetika – Stoffe, die das Fasten nachahmen können (z. B. Spermidin) – zu einer Risikosenkung von Demenz erkrankungen. Periodisches Fasten ist zudem ein natürlicher Zustand des Körpers. «Erst durch den heutigen Lebensstil mit durchgehend verfügbaren Lebensmitteln hat sich dieser verändert», hielt Stekovic fest. Zurzeit liegen Studien zu verschiedenen Arten des Fastens vor: Beim Alterate Day Fasting (ADF) wird beispielsweise jeden zweiten Tag das Essen weggelas-
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sen. Studien an gesunden Nichtdiabetikern und nicht übergewichtigen Probanden zeigen, dass das Cholesterol oder die mehrfachgesättigten Fettsäuren sinken. Auch die kardiale Gesundheit wird verbessert, insbesondere deshalb, weil die Fettmasse reduziert wird. Welche Fastenart passt, muss ausprobiert werden. Neben ADF gibt es die Mosley-Diät mit zwei Tagen Fasten pro Woche. Bei der 8-Stunden-Diät wird in 8 Stunden die gesamte Nahrung aufgenommen und dann 16 Stunden gefastet.
Wenn der Mensch vergisst, was er is(s)t
«In Altersinstitutionen ist die Küche eng mit der Pflege verwoben», sagte Koch, Diätkoch und Küchenchef Markus Biedermann, der Altersinstitutionen aus eigener beruflicher Erfahrung kennt. Oft bedarf es grosser Kreativität und Anstrengung beider Seiten, damit der Bewohner zu seinen Kalorien kommt. Markus Biedermann nannte diesbezüglich das Beispiel einer demenziell erkrankten Bewohnerin, die krankheitsbedingt motorisch unruhig war und sich kaum zum Essen hinsetzen konnte: «Sie lief den ganzen Tag, und man hatte den Eindruck, dass sie während des Gehens die Fäden ihres Pullovers ass.» Biedermann kam auf die Idee, ihr eine «Fressjacke» zu nähen. Auf dieser wurden ganz viele Taschen aufgenäht, in die Nahrungsmittel wie
Käse, Nüsse usw. gelegt wurden. «So nahm die Bewohnerin Kalorien zu sich und konnte gleichzeitig ihren Bewegungsdrang ausleben.» Für Markus Biedermann richtet sich das Konzept der Esskultur nach den verbliebenen Fähigkeiten der Bewohner und berücksichtigt deren Wünsche und Kompetenzen. Angeregt werden sollen insbesondere die Sinne. So sei es wichtig, dass jede Tageszeit ihren Geruch habe. Es beispielsweise morgens nach Brot und Kaffee rieche. Auch das Anrichten der Speisen sei entscheidend: «Das sagt etwas über die Wertschätzung des Gegenübers aus!» Pürierte Kost soll den Appetit anregen und schmackhaft aussehen wie auch einen Wiedererkennungswert haben. Sogenanntes Finger food bietet den Bewohnern die Möglichkeit, ihre Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten, bevor den Bewohnern das Essen eingegeben wird. Biedermann hat auch kleine Gerichte unmittelbar am Bett der pflegebedürftigen Heimbewohner gekocht und verwendete Lebensmittel, die biografischen Erinnerungswert haben könnten, wie Speck oder Zwiebeln. «Kochen Sie, was die Bewohner gern haben. Fragen Sie nach gewünschten Gerichten. Sie sind überrascht, was noch alles angegeben wird», sagte Biedermann abschliessend.
Quelle: SMP-Symposium 2019, Länger gesund leben – der Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit, Bern, 3. September 2019
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