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BIOLOGISCHE ERNÄHRUNG = GESUND?
Verarbeitungsmethoden von Lebensmitteln im Wandel der Zeit
Daniel Kofahl
Bei Essen und Trinken geht der Trend unvermindert in Richtung Natur und Natürlichkeit. Doch was ist damit gemeint? Oft geht es darum, ökologische Umweltbelastungen zu reduzieren. Dabei gilt es, im Einzelfall abzuwägen und auch den Optimismus gegenüber den kulturellen und technisch-technologischen Innovationen nicht zu verleugnen.
Der Mensch ist organisch nicht darauf festgelegt, nur ein einziges, spezielles Kostregime zu pflegen. Die Ernährung des Menschen ist – sofern er sich nicht in einer absoluten Mangelsituation befindet – das Resultat von Entscheidungen. Einerseits persönlichen, andererseits vor allem aber kulturell geprägten Entscheidungen. Es ist Menschen möglich, sehr viele verschiedene Dinge aus unterschiedlichen Motiven als essbar oder als nicht essbar zu definieren (1). Dabei sind es nicht nur die sogenannten individuellen Vorlieben, die den einen eher zum Apfel und den anderen lieber zur Banane greifen lassen. Es sind auch die im Laufe der Sozialisation erlernten kulturellen Beschreibungen und Bewertungen, welche die Produkte einordnen, symbolisch aufladen und sie zum Objekt der Begierde oder der Abneigung werden lassen. Wer in einer Kultur aufwächst, die das Regionale und die Heimat wertschätzt, würde als Berner dem Apfel wohlwollend gegenüberstehen, denn dieser symbolisiert die räumliche Nähe. Wer hingegen in einer Kultur aufwächst, die das Exotische präferiert und vielleicht sogar das, was in der unmittelbaren Umgebung zu finden ist, als langweilig oder provinziell abtut, bei dem hat die Banane einen symbolischen Mehrwert im Vergleich zum Apfel, der gleichzeitig sogar noch abgewertet wird. Solche Beschreibungs- und Bewertungskulturen umgeben uns vielfach in der Gegenwart.
Erste Verarbeitungsmethoden
Die Geschichte der Verarbeitungsmethoden – und damit der Entscheidungen – beginnt in jenem Moment, in dem Menschen zum Verzehr mehrere Objekte zur Verfügung stehen, das heisst, de facto in der Steinzeit. Wenn es gut lief, assen die Menschen zu jener Zeit unterschiedliche Beeren, Hülsenfrüchte, Kleintiere, wild gelegte Eier, wildwachsendes Getreide oder sogar etwas Honig. Beim Vorliegen mehrerer Produkte besteht die Möglichkeit, diese zusammen oder einzeln zu essen. Zudem stellt sich nicht nur die «ob»-Entscheidung der Kombination, sondern auch die «in welchem Verhältnis». Hinzu kommt die erste grosse Konsistenzver-
änderung des Produkts, bevor es im Mund ohnehin zermahlen wird: Es konnte gestampft werden. Diese sehr rudimentäre Kulturtechnik der Lebensmittelbearbeitung verändert also das Ausgangsprodukt auf eine Weise, die manch einer in späteren Beobachtungen durchaus als erste «Gewalt» gegen das Produkt deuten wird: Man zerstöt es in seiner Ursprungsform und erhofft sich dadurch einen Zustand grösserer Schmackhaftigkeit oder Verdaubarkeit. In der Moderne ist genau diese formverändernde Bearbeitung von Produkten ein grosses Thema geworden. Mit der Einführung des Gebrauchs von Feuer zum Kochen wird die Möglichkeit, Lebensmittel zu verarbeiten und in ihrer Form zu modifizieren, noch einmal um ein Vielfaches gesteigert. Es handelte sich zu jener Zeit aber um eine Technik, die nicht wirklich verstanden wurde. Immer wieder kam es zu Feuerbrünsten, die für zahlreiche Tote und sogar für die Vernichtung ganzer Städte verantwortlich war. Eine Zerstörungskraft also, die man bei hochmodernen Lebensmitteltechnologien, etwa der Grünen Gentechnik, bislang nicht beobachten kann. Dennoch wird das Feuer, diese ebenso zerstörerische wie transformatorische Verarbeitungstechnik, bis heute vielfach eingesetzt. Sie ist die Grundlage der Leitunterscheidung zwischen Fleischessern auf der einen Seite und Rohköstlern auf der anderen Seite. Letztere lehnen es ab, ihre Lebensmittel diesem Behandlungsprozess zu unterziehen, und schwören darauf, dass die optimale Ernährung jene ist, die mit dieser fragwürdigen Technik besser nicht in Berührung kommt.
Ängste, Sorgen und Visionen
Ein Mann, der diese Unterscheidung in seinem Lebenswerk ausgesprochen penibel sortiert hat, ist der Ernährungsforscher Werner Kollath (1892–1970), der als wissenschaftlicher Begründer der Vollwertkost gilt. 1942 verfasste er sein modernisierungskritisches Standardwerk «Die Ordnung der Nahrung», in der er alle möglichen Dinge, die man essen könnte, aufgrund ihres Verarbeitungsgrads in «gute» Lebensmittel (lebende Nahrung) und «schlechte» Nahrung (tote Nah-
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Industriell gefertigte Lebensmittel
Die Verfechter einer «natürlichen», am liebsten unverarbeiteten Produktpalette an Lebensmitteln treffen einen Nerv vieler Menschen in der Moderne, denn man ist beständig damit konfrontiert, dass auf einmal fast alles möglich und vor allem auch fast alles irgendwie veränderbar erscheint. Wie kann man sich vor unerwünschten Illusionen, ja auch vor bösen Täuschungen schützen? Täuschungen, wie sie etwa im Film «Brust oder Keule», einem Klassiker des Kulinarischen Kinos von 1976, so vortrefflich inszeniert worden sind: Plastikhähnchen und Gummisalat, Nahrungsmittel aus Petroleum verarbeitet, fertig vorgekaut zubereitet, werden dort gezeigt (4). Claude Zidi entwickelte in diesem Film die ultimative Dystopie der hochmodernen Ernährungsindustrie. Die in «Brust oder Keule» dargestellten Techniken wirken heutzutage im Übrigen kaum noch visionär. Die Entwicklung der Lebensmitteltechnologie ermöglicht immer neuere und ausgefeilte Produktionsmethoden: Formschinken, Klebefleisch oder Analogkäse. Inzwischen sind die «Visionen» aus «Brust oder Keule» längst
Gegenstand der industriellen Lebensmittelproduktion. Der Physiker Thomas Vilgis hat darauf hingewiesen, dass die Assoziation industrieller Methoden der Lebensmittelverarbeitung – etwa Hochdruckverfahren oder Bestrahlung – mit Lebensmittelbetrug oder gar Gift in den allermeisten Fällen unhaltbar sind. «Kein Mensch», so Vilgis «stirbt an industriell hergestelltem Analogkäse, er besteht lediglich aus Fett, Protein, Stärke, Wasser und Emulgatoren, wie also viele natürliche Lebensmittel auch. Aus rein analytischer und naturwissenschaftlicher Sicht ist Analogkäse in manchen Anwendungen sogar ein sinnvolles Produkt, denn dieser Kunstkäse hat als Designerprodukt eine ganze Reihe positiver physikalischer Eigenschaften, die für Fertigpizzen in heissen Öfen bei unkontrollierbarer Temperatur ideal sind (…) In diesem Sinne ist Analogkäse anderen Käsearten sogar überlegen» (3, 4). Auch in Bezug auf die Lebensmittelsicherheit und die Haltbarkeit, selbst von Biofertigprodukten, die in Supermärkten und Discountern zu finden sind, spielen industrielle Verarbeitungsmethoden eine so gewichtige Rolle, dass ohne sie diese Form der «ökologischen» Ernährung nicht zu bewerkstelligen wäre. Zumindest wenn es sich nicht nur um ein Nischensegment, sondern um einen Massenmarkt handeln soll.
Innovationen und Reinnovationen
Auch die Debatten um Tierethik oder zu hohen Fleischkonsum zeigen, dass es ethisch und ökologisch unproblematischer ist, wenn anstelle von in Massentierhaltung produziertem Käse und ressourcenintensivem Fleisch, für das Tiere gehalten oder geschlachtet werden, verarbeitete Alternativen wie Analogkäse oder Kunstfleisch, sogenanntes Clean Meat, aus dem Labor verzehrt werden. Vorausgesetzt, sie sind nicht gesundheitsschädlich oder gesundheitsschädlicher als die Originale, geschmacklich ansprechend und der Verbraucher weiss, was er zu sich nimmt und dass er nicht getäuscht wird. Dabei geht es nicht nur um die reine «Prozessebene», sondern um Food-Design. Lebensmittel werden nicht nur irgendwie bearbeitet, sondern sie werden im Verarbeitungsprozess von Rohmaterialen längst designt. Grundzutaten werden mit Absicht so verändert, dass sie nicht mehr an das Ursprungsprodukt erinnern. Dies kann auch geschehen, weil man gegenüber dem Ausgangsprodukt irgendwelche Vorbehalte hat. Das Fischstäbchen ist dafür das beste Beispiel. Gerade Kinder, aber auch zahlreiche Erwachsene aus dem Binnenland, die mit Fisch an sich nichts anfangen können oder sogar einen gewissen Ekel vor Fischen haben, können über dieses verarbeitete Produkt, das der Form nach – und manche sagen ja auch, dem Geschmack nach – überhaupt nicht mehr an einen Meeresbewohner erinnert, an das Fischessen herangeführt werden. Ob das nun schlecht ist, weil überhaupt Fisch gegessen wird oder weil ein nicht authentisches Fischprodukt verzehrt wird, oder ob das nun gut ist, weil es vielleicht ein Brückenprodukt ist und man später dann einen eventuell eher sogar fangfrischen Fisch isst, liegt im Bewertungsmassstab des Be-
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obachters begründet. Der Verzehr von Insekten, die inzwischen als nachhaltige Proteinquelle angesehen werden, wird den mit ihnen noch fremdelnden Konsumenten erleichtert, indem sie in Riegeln unsichtbar gemacht werden. Die intensive Auseinandersetzung des Essenden mit dem Verzehrten soll so gerade unterbunden werden.
Modifikation von Form, Textur und Art
Eine ganz andere Art des Food-Designs finden wir, wenn wir uns die Speisen anschauen, wie sie aus den gehobenen Küchen den Weg auf den Teller der Essenden finden. Es ist eine an die Handwerkskunst angelehnte Verarbeitung der Zutaten und der einzelnen Speisen, die spielerische, aber auch gekonnte Modifikation von Form, Textur und Art der Gerichte. Was fraglos auch in der bürgerlichen Küche längst gang und gäbe ist, wurde in der Haute und der Nouvelle Cuisine und zuletzt freilich in der Molekularküche auf die Spitze getrieben. Besonders die Molekularküche wagte die Vermählung industrieller und hoch technischer Methoden mit der Gourmetküche und so mit qualitativ hoch bewerteten Produkten. In der Schweiz ist es vor allem der Sternekoch Stefan Wiesler, der mit seiner sogenannten avantgardistischen Naturküche die Symbiose zwischen radikaler Natürlichkeit und radikaler Künstlichkeit in einem aussergewöhnlichen Verarbeitungsprozess zu vollziehen versucht. Interessant für die Ernährungskultur der Gegenwart ist, dass solche Innovationen nicht in der Erlebniswelt der Hochküche verbleiben, sondern sich zum Beispiel als brauchbare Einflüsse in einem verbesserten Speisenangebot für von Schluckbeschwerden geplagte Senioren wiederfinden können. Doch Innovationen müssen gar nicht immer Hightech sein. Es können auch Reinnovationen sein, also die Wiederentdeckung traditioneller Speisen und Zubereitungsformen, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten sind. Allgemein bekannt ist hier die Nose-To-Tail-Bewegung, die darauf aufmerksam macht, dass von einem geschlachteten Tier nicht nur die Filetstücke, sondern nahezu alles verarbeitet und verzehrt werden kann. Das reduziert einerseits die Verschwendung von Ressourcen, andererseits steigert es die Palette kulinarischer Möglichkeiten und gustatorischer Erlebnisse. Dazu passend kam 2016 Jahr das vielfach ausgezeichnete Werk «From Leaf to Root» auf den Markt, herausgegeben von drei Schweizern, der Food-Journalistin Esther Kern, dem Koch Pascal Haag und dem Fotografen Sylvan Müller. Auch dieses Buch will die Verarbeitung von Lebensmitteln durch Reinnovationen weiter ausweiten, und zwar die vergessenen oder verschmähten Bestandteile pflanzlicher Produkte, wie zum Beispiel das Karottengrün, Blumenblätter, Melonenschalen und vieles mehr.
Vulkanausbrüche, Unwetter, gefährliche Tiere, selbst die «innere Natur des Menschen» sollte zivilisiert werden. War dies alles ungezähmt, hatte man es mit Wildnis, Gefahren, ja manchmal gar mit dem Teufel selbst zu tun. Heute gibt es nur noch wenige Bereiche, in denen man die Natur nur wenig schätzt, etwa beim Alter, wenn man Falten, Rheuma oder Demenz bekommt, dann will fast jeder den natürlichen Alterungsprozess aufhalten. Bei Essen und Trinken hingegen geht der Trend unvermindert in Richtung Natur und Natürlichkeit – ohne dass man oft genau sagen kann, was gemeint ist. Nicht selten ist eigentlich gemeint, ökologische Umweltbelastungen zu reduzieren, zum Beispiel indem der Ressourceninput in die Lebensmittelproduktion verringert wird. Dabei gilt es, im Einzelfall abzuwägen und auch den Optimismus gegenüber den kulturellen und technisch-technologischen Innovationen nicht zu verleugnen. Der Umgang der Menschen mit der Natur ist selbst längst ein kultureller, ein wissenschaftlicher geworden. Das gilt es auch in Bezug auf die Ernährung der Menschen in der Gegenwart zu akzeptieren. Es heisst im Übrigen keineswegs, dass man nicht auch eine Sahnetorte aus der Kuchenmanufaktor einer tiefgefrorenen aus dem Conveniencesortiment vorziehen oder lieber als zur All-in-one-Fertigtrinkmahlzeit zum Birchermüesli greifen soll. Es heisst nur, Natur und Kultur auch in der Lebensmittelverarbeitung als fortwährendes Wechselverhältnis zu begreifen.
Korrepondenzadresse: Dr. Daniel Kofahl Ernährungssoziologe APEK – Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur Bergstrasse 44 D-4295 Trier E-Mail: kofahl@APEK-Consult.de Literatur: 1. Kofahl D: Die Komplexität der Ernährung in der Gegenwartsgesellschaft – Soziologische Analysen von Kultur- und Natürlichkeitssemantiken in der Ernährungskommunikation. Kassel University Press. 2014. 2. Kollath W: Sinn und Aufgaben einer Ernährungslehre vom Natürlichen. In: Diaita Nr. 5, Jahrgang 7, 1961, S. 1–15. 3. Luhmann N: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1997. 4. Vilgis T (2013): Von Tricatel ins el Bulli – eine technocineastische Wegbeschreibung Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi el Bulli – Cooking in Progress (2011)/Regie: Gereon Wetzel Thomas Vilgis. In Kofahl, Daniel, Fröhlich, Gerrit, Alberth, Lars (Hrsg.): Kulinarisches Kino – Interdisziplinäre Perspektive auf Essen und Trinken im Film. Bielefeld: Transcript. S. 83–98.
Fazit: Kulturelle Natürlichkeit
Begriffe wie Natur und Natürlichkeit werden heutzutage fast immer erst einmal positiv bewertet. Das ist nicht selbstverständlich. So galt die Natur jahrhundertelang als etwas, das es zu überwinden galt, etwas, das furchteinflössend und bedrohlich gewesen ist:
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