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BIOLOGISCHE ERNÄHRUNG = GESUND?
Mit Engadinerschafen gegen die Verbuschung des Alpenraumes
Erika Hiltbrunner
Der heutige Konsument möchte sich in erster Linie gesund, abwechslungsreich und mit nachhaltigen Produkten ernähren. Nachhaltige Produkte sollten ökologisch, wirtschaftlich verträglich und sozial gerecht sein. Dank unserem Wohlstand hat sich unsere Ernährungsweise zu einer Ersatzreligion entwickelt. Der Konsument wählt und definiert sich und seine Lebensweise über die Nahrung, die er zu sich nimmt. In diesem Kontext ist auch die vegane Ernährung zu sehen. Dank dieser müssen keine Tiere getötet werden. Doch wie lässt sich eine vegane Ernährung in eine auf Grasland basierte schweizerische Landwirtschaft einordnen? Der Beitrag legt Gedanken zur Landnutzung in Berggebieten und zur Ernährung dar.
nen definiert: Wald erfüllt Schutz-, Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen. Der Gebüschwald erfüllt keine dieser Funktionen. Wenn Kantone, vor allem die Gebirgskantone, nach wie vor auf ihren kantonalen Waldgesetzen beharren und das Erlengebüsch beziehungsweise den Gebüschwald gleich Wald setzen, entsteht eine absurde Situation: Das Erlengebüsch schützt nicht vor Lawinen, überwuchert und verdrängt bunte, artenreiche Matten, verbraucht mehr Wasser, reichert das Bodenwasser mit Nitrat an, gibt über den Boden das Treibhausgas Lachgas an die Atmosphäre ab und verhindert zu 100 Prozent die Wiederbewaldung (2–5).
Mit Engadinerschafen die Verbuschung des Alpenraumes durch die Grünerlen stoppen. © Christian Gazzarin
Durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft hat sich die Landnutzung und die Landbedeckung im ganzen Alpenbogen in den letzten Jahrzehnten immens verändert. Immer weniger Bauern auf immer grösseren Höfen bearbeiten das Land. Steile Flächen werden oftmals gar nicht mehr genutzt, und der Wald kehrt zurück. Vielerorts macht sich aber kein Wald breit, sondern undurchdringliches Gebüsch, vor allem auf der Stufe des Bergwaldes. Dieser Gebüschwald besteht im Alpenraum zu über 85 Prozent aus der einheimischen Grünerle (auch Alpenerle genannt) (1). Das eidgenössische Waldgesetz wurde am 1. Juli 2013 mit dem Ziel revidiert, weitere Zunahmen der Waldflächen vor allem im Alpenraum zu verhindern und so artenreiche Wiesen und Weiden zu bewahren. Wald wird im revidierten Gesetz über seine Funktio-
Besonderheiten der Grünerle
Wie kann eine einheimische Art wie die Grünerle so viele ökologisch negative Auswirkungen haben? Die Grünerle ist eine relativ konkurrenzschwache Pflanze, welche sich nur dank der früheren grossflächigen Rodungstätigkeiten des Menschen und der reduzierten Landnutzung in jüngster Vergangenheit rapid ausbreiten kann. So besteht geschichtlich kein Zweifel, dass auch das Urserntal im Kanton Uri, in welchem die Forschungsarbeiten über die Verbuschung durchgeführt werden, über 7000 Jahre lang bewaldet war. Die vom Kloster Disentis im 11. Jahrhundert ins Urserntal geholten Walser rodeten den Wald (6). Das Tal bot danach 850 Jahre lang mit seinen Wiesen, Weiden und Nutztieren eine Lebensgrundlage für kinderreiche Familien. Jeder Quadratmeter war wertvoll. Die alten Protokolle des Talarchives in Andermatt dokumentieren, wie sehr damals um Nutzungsrechte gestritten wurde. Die Grünerlen wurden ausserdem als Brennholz genutzt und wuchsen vor allem in feuchten Bachrunsen und Lawinenstrichen. Die neuesten Schätzungen der Arealstatistik in Kombination mit früheren Analysen der Flächenbedeckung der Grünerlen zeigen, dass sich die Grünerlenfläche im Ursern-
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tal seit 1965 verdoppelt hat und dass das Zuwachsen der Flächen derzeit exponenziell verläuft. Im schweizerischen Alpenraum kommen momentan jedes Jahr rund 1000 Hektar Gebüschwald dazu (1). Die Verbuschung durch die Grünerle stellt somit die rasanteste und massivste Veränderung der Landbedeckung im Alpenraum dar. Folgende Eigenschaften kommen der Grünerle dabei zugute: Frankia-Bakterien im Boden erkennen die Grünerlenwurzeln und gehen mit der Grünerle eine Symbiose ein, indem die Bakterien für die Erlen den sonst inerten Luftstickstoff aufschliessen, in pflanzenverfügbare Stickstoffverbindungen umwandeln und im Gegenzug Photosyntheseprodukte von den Erlen erhalten. Diese Stickstofffixierung ist sehr effizient und wird auch nicht gestoppt, wenn der Grünerle bereits genügend Stickstoff zur Verfügung steht. Das erklärt, warum auch eher magere Wiesen und Weiden in kurzer Zeit in üppigstes Grün unter Grünerlengestrüpp umgewandelt werden können. Alle Pflanzen hängen quasi am Stickstofftropf dieser Symbiose. Vielleicht können vereinzelt die winzigen Samen der Waldbäume im Grünerlendickicht keimen, ein Durchkommen der jungen Baumsämlinge durch dieses Dickicht ist aufgrund der Lichtkonkurrenz allerdings unmöglich. Deshalb verhindern flächige Grünerlenbestände die Rückkehr von Waldbäumen.
Welche Landschaft ist gewünscht?
Heute stellt sich den Bewohnern dieses und vieler anderer Alpentäler die Frage: Welche Landschaft wollen wir (7)? Gibt es Wege aus der Sackgasse, die durch den Erlenbusch beziehungsweise durch den Rückzug des Menschen entstanden ist? Setzt sich bei der Bevölkerung der Wunsch durch, dieses vom Mensch verursachte Unwesen der Grünerle wieder in seine Schranken zu weisen und so entweder dem Bergwald eine Chance zu geben oder das Weideland zurückzuholen? Hilft es, den Busch einfach abzuhacken? Schlägt man der «Hydra» den Kopf ab, wachsen ihr beziehungsweise der Grünerle zehn Köpfe nach, weil alle schlafenden Knospen der Grünerle austreiben. Statt sich händisch mit den Grünerlen anzulegen, bringt hier der Einsatz der alten Robustrasse Engadinerschaf einen grossen Mehrwert: Diese vor dem Aussterben gerettete Schafrasse liebt Erlenrinde und schält vom Frühjahr bis Mitte Sommer die Rinde von Grünerlen – konventionelle Schafrassen wie das Weisse Alpenschaf fressen hingegen nur Gras. Geschälte Erlenbüsche sterben und treiben dadurch nicht mehr aus. Das Engadinerschaf ist zutraulich,
robust und fruchtbar. Bestens geeignet, um das Grünerlendickicht zu öffnen und wieder in Grasland umzuwandeln. Zudem ist das Fleisch des Engadinerschafs reich an Omega-3-Fettsäuren, weniger fett, und der oftmals unangenehme Schafgeschmack ist nicht vorhanden. Beweidung von verbuschtem Bergland mit Engadinerschafen schafft somit die Voraussetzung, entweder Wald oder Weide wiederherzustellen. Doch welche Flächen lohnen weitere Weidenutzung, wenn im Tiefland das Gras wegen zunehmend trockener Sommer vertrocknet ist? Auf welchen Flächen bauen die nächsten Generationen wieder Bergwald auf, der auch Verkehrswege schützt? Solche Entscheide müssen von mehreren Generationen getragen werden. Die triviale Feststellung, dass der Mensch nicht grasen kann und Alpland und Grünland insgesamt nur über Tiere nutzbar ist, relativiert so manche gut gemeinte, aber weltfremde Vorstellung, dass es eine gute Sache sei, Nutztiere gänzlich zu verbannen und vegan zu leben. Ein Leben in den Bergen auf Basis regionaler Ressourcen – und das gilt für alle Berggebiete der Erde – ist ohne Grünlandnutzung undenkbar.
Korrespondenzadresse: Erika Hiltbrunner Botanisches Institut Universität Basel Schönbeinstrasse 6 4056 Basel E-Mail: erika.hiltbrunner@unibas.ch Literatur: 1. Brändli UB: Schweizerisches Landesforstinventar, Ergebnisse der dritten Aufnahme 2004–2006. Swiss Federal Institute for Forest, Snow and Landscape Research, Birmensdorf and Federal Office for the Environment, 2010, Bern. 2. Bühlmann T, Hiltbrunner E, Körner C: Alnus viridis expansion contri- butes to excess reactive nitrogen release, reduces biodiversity and constrains forest succession in the Alps. Alpine Botany 2014, 124: 1–5. 3. Bühlmann T, Körner C, Hiltbrunner E: Shrub Expansion of Alnus viridis drives former montane grassland into nitrogen saturation. Ecosystems 2016, 19: 968–985. 4. Bühlmann T, Caprez R, Hiltbrunner E, Körner C, Niklaus PA: Nitrogen fixation by Alnus species boosts soil nitrous oxide emissions. Eur J Soil Sci 2017, 68: 740–748. 5. Van den Bergh T, Körner C, Hiltbrunner E: Alnus shrub expansion increases evapotranspirationin the Swiss Alps. Reg Environ Change 2017, doi:10.1007/s10113-017-1246-x 6. Renner-Aschwanden F: Landschafts- und Waldgeschichte des Urserntals. In: Historisches Neujahrsblatt Uri 2013, 2014: 11–36. 7. Hunziker M, Felber P, Gehring K, Buchecker M, Bauer N, Kienast, F: Evaluation of landscape change by different social groups. Results of two empirical studies in Switzerland. Mountain Res Develop 2008, 28: 140– 147.
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