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EDITORIAL
Essen ist sinnstiftend und macht Politik
«Ich esse, also bin ich», könnte man heute in Anlehnung an den Philosophen René Descartes sagen («Cogito ergo sum»). Es geht nicht mehr darum, dass wir uns satt essen, und der männliche Bauch ist kein Statussymbol mehr. Essen ist für die einen sinnstiftend, ja mittlerweile fast zu einem Religionsersatz geworden. Für die anderen geht es beim Essen um die Nachhaltigkeit der Landwirtschaft und der Landschaft. Die englische Soil Association prägte den Slogan «Eat the landscape». Andere wiederum wollen mit dem Essen kleinbäuerliche Betriebe aus der Region unterstützen oder fördern Kooperativen in tropischen Ländern. Essen drückt auch eine veränderte Einstellung gegenüber Tieren aus. Sie sind nicht mehr Produkte oder Objekte, sondern Mitgeschöpfe. Im Extremfall sogar Schwestern oder Brüder, sodass das Töten Mord und das Essen von Fleisch Kannibalismus ist. Und schliesslich machen viele die Erfahrung, dass sie mit einer abwechslungsreichen, gesunden und ausgewogenen Ernährung ihre Gesundheit und ihr Lebensgefühl verbessern. Vor 43 Jahren, als ich mein Landwirtschaftsstudium an der ETH begann, war die Meinung des Bauernverbands zum Biolandbau, dass es nur eine Milch gäbe und diese weiss sei. Um wie viel spannender ist es heute, sich mit der unendlichen Vielfalt von Ideen und kreativen Initiativen rund um die Ernährung
und die Landwirtschaft auseinanderzusetzen. Ist das nicht der beste Weg, sich über den ökonomischen Wert der Lebensmittel Gedanken zu machen? Denn diese sind viel zu billig, während gleichzeitig immer mehr Anforderungen an sie gestellt werden. Das Übel, dass der Preis von Lebensmitteln vom eigentlichen Wert abgekoppelt ist, begann im frühen 18. Jahrhundert in Manchester, dem Zentrum der industriellen Revolution. Die zahlreichen Baumwollspinnereien und die ersten Dampfmaschinen für Fabrikgüter brauchten billige Arbeitskräfte, um über den Hafen von Liverpool in die ganze Welt exportieren zu können. Die Stadtregierung begann, die Landwirtschaft zu subventionieren, damit die Arbeiter billigere Lebensmittel hatten. Gemäss dem englischen Professor für Ernährungspolitik, Tim Lang, wollte man damit im Grunde die boomende Industrie fördern. Im 20. Jahrhundert hat sich die Idee der Subventionen verstetigt, weil die beiden Kriege die sichere Ernährung der kriegsgeplagten Menschen erschwerte. Vielleicht ist die heutige Wertediskussion übers Essen der erste Schritt, dass die Gesellschaft auch über den ökonomischen Wert der Lebensmittel nachdenkt – und der Staat mit Direktzahlungen nicht die Preise tief halten muss?
Prof. Urs Niggli
Prof. Urs Niggli Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) E-Mail: urs.niggli@fibl.org
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4|2019 1