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EDITORIAL
«Die Milchproduktion nutzt das Grünland effizienter als die Fleischproduktion»
Vor 30 Jahren schrieb ich meine Dissertation zum Thema Biodiversität und Nachhaltigkeit. Das Ziel war, ein Feuchtgebiet auf natürliche Weise zu erhalten und die Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten zu fördern, denn sich selbst überlassen, verlanden, verbuschen und verarmen solche Zonen sehr schnell. Anstelle der Maschinen, die bisher die Mäharbeiten getätigt hatten, wurde mit dem Schottischen Hochlandrind eine robuste Rinderrasse eingesetzt, die der drohenden Überhandnahme durch Schilfrohr und Weiden zu Leibe rückte und invasive Pflanzen wie die Goldrute massiv dezimierte. Das Projekt war ein Erfolg, bis heute arbeiten diese Rinder dort zugunsten der Artenvielfalt, und viele verschollen geglaubte Pflanzen und Tiere sind in der vielfältig strukturierten Landschaft wieder aufgetaucht und haben sich inzwischen etabliert. Heute sind Biodiversität und Nachhaltigkeit die Schlagworte des Jahres. Das Artensterben ist dramatisch, und es werden Gründe gesucht, weshalb dem so ist. Eine Ursache wird in der hoch technisierten und intensivierten Landwirtschaft gefunden, die mit monotonen Ackerflächen, eintönigen Wiesen und Weiden sowie der Massentierhaltung keinen Platz mehr lässt für die ursprünglich bei uns heimische Fauna und Flora. Und da die Landwirtschaft die Lebensmittel für uns Menschen produziert, muss in diesem Zusammenhang auch unsere Ernährungsweise hinterfragt und überprüft werden. Insbesondere die tierischen Produkte haben eine hohe Umweltwirkung zur Folge und sollten zugunsten von pflanzlichen Lebensmitteln in deutlich geringerem Masse konsumiert werden (Beitrag Zimmermann et al., Seite 6 f). Rein rechnerisch zeigen sich hier in den verschiedenen Szenarien mas-
sive Einsparungen der Umweltwirkungen von bis zu 75 Prozent, wenn der Konsum von Fleisch und Milchprodukten um mehr als die Hälfte reduziert wird. In dieser Ausgabe geht es um die Milch, das heisst die Milchproduktion, den Milchkonsum, den Nährgehalt verschiedener Milchersatzprodukte im Vergleich und um Erkrankungen, die mit dem Milchkonsum einhergehen können. Die Beiträge zeigen, dass Milch eine ganz besondere Stellung einnimmt: Die Milchproduktion ist zwar mit hohen Umweltwirkungen verbunden, sie nutzt das Grünland aber effizienter als die Fleischproduktion und erhöht damit den Selbstversorgungsgrad des Inlandkonsums an Nahrungsenergie und steht in Einklang mit den schweizerischen Ernährungsempfehlungen. Die Milch ist ein komplexes Lebensmittel mit einer grossen Vielfalt an Nährstoffen und einer sehr hohen Nährstoffdichte. Wir sind noch weit weg davon, all die Wirkmechanismen und Interaktionen der Milchinhaltsstoffe sowie die Wechselwirkungen der verschiedenen Lebensmittel auf den Menschen zu verstehen. Dafür braucht es einen systemischen Ansatz, auf den sich Agroscope fokussiert. Aber dennoch ist eines klar: Vielfalt und Abwechslung sowohl in der Natur als auch in unserer Ernährung kann nur ein Gewinn sein. Schon kleine Umstellungen können eine grosse Wirkung haben, wie die wenigen Rinder in der Petite Camargue Alsacienne oder eben eine an die Empfehlungen der Lebensmittelpyramide angepasste Ernährung zeigen. Kleine Schritte bringen uns vorwärts, aber wir müssen sie tun – und zwar jetzt.
Barbara Walther
Barbara Walther, PH. D. Agroscope E-Mail: barbara.walther@ agroscope.admin.ch
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2019 1