Transkript
«Sag mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist»*
EDITORIAL
Die Ernährung ist ein physiologisches Grundbedürfnis des Menschen. Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin beschäftigen sich mit der Frage, worauf eine «gesunde» Ernährung abzielt und wie sie aussehen sollte. Lange Zeit stand dabei die Suche nach einer Ernährung im Fokus, die qualitativ und quantitativ geeignet ist, alle für das (Über-)Leben notwendigen Stoffe sowie die notwendige Energie zuzuführen. Inzwischen ist unstrittig, dass Ernährung und Gesundheit nicht nur im Sinne einer Mangelvermeidung verbunden sind. Biochemisch-molekularbiologische, physiologische und epidemiologische Erkenntnisse der letzten 30 bis 40 Jahre ermöglichten es bekanntermassen, die Anforderungen an eine langfristig gesunderhaltende und präventiv wirksame Ernährungsweise zu formulieren und Empfehlungen für die Praxis abzuleiten. So nehmen denn auch die D-A-CH-Empfehlungen für sich in Anspruch, auf Basis der vorliegenden Daten die «richtige» Ernährung zu vermitteln. Doch nicht erst beim Blick auf Fachgesellschaften anderer Länder wird deutlich, dass identische Daten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen können. Das betrifft die Relationen der Hauptnährstoffe, aber auch zahlreiche andere Aspekte, und unterstreicht, dass Wissenschaft im Fluss ist und Erkenntnisse sich ändern. Teilen der Bevölkerung erscheint die durch unterschiedliche, oft widersprüchliche Aussagen hervorgerufene Kakophonie als Indiz für ein völlig unzureichendes Wissen. Das beflügelt zwei Strömungen: das Abwenden von Ernährungsempfehlungen jedweder Art («die sind sich ohnehin uneinig, also ist es egal, was ich esse») und die Hinwendung zu «neuen», zumindest aber in ihrer Aussage klaren, plausiblen und manchmal auch einfachen Botschaften.
Von Fasten über Vegetarismus, Paläoernährung oder SIRT-Food bis zu «Superfood» und Insekten reicht das Spektrum der in letzter Zeit intensiv diskutierten Ansätze. Diese Ernährungstrends sind Themen dieses Schwerpunktheftes. Sie fordern heraus, nicht zuletzt auch in der Ernährungsberatung. «Sag mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.» Der fast 200 Jahre alte Aphorismus des französischen Gourmets, Schriftstellers und gelernten Juristen Jean-Anthelme Brillat-Savarin verdeutlicht, dass Essen immer auch Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung und persönlicher Werte ist. Die Vielfalt aktueller Ernährungs- und Lebensmitteltrends widerspiegelt denn auch, was Essen für Menschen ausdrückt. Werden Alternativen zur etablierten Ernährung gesucht, dann spielen dabei weltanschaulich-religiöse, ethische, gesundheitliche, soziale und ökologische Aspekte eine Rolle. Dass das breite Spektrum von Motiven und Erklärungen zu völlig unterschiedlichen Ernährungsweisen und Entwicklungen beiträgt, kann dabei nicht verwundern. Einige Ernährungstrends entsprechen nicht der «etablierten» Wissenschaft oder provozieren zumindest Widerspruch. Gerade deshalb muss der Appell lauten, dass wir uns mit diesen Trends unvoreingenommen, ergebnisoffen und faktenbasiert auseinandersetzen. Kontroverse ist ein zentrales Merkmal von Wissenschaft und muss es auch bleiben – andernfalls wäre sie dogmatisch. Dogmen aber beachten nicht die Realität und sind nur schwer zu überwinden, auch und gerade wenn es um Ernährung geht. Suchen wir also im Sinne der Wissenschaft die Kontroverse – und hinterfragen dabei auch immer wieder unsere eigene Sicht der Dinge.
Prof. Andreas Hahn
Prof. Dr. Andreas Hahn Leibniz-Universität Hannover (LUH) Institut für Lebensmittelwissenschaft und Humanernährung Am Kleinen Felde 30 D-30167 Hannover E-Mail: hahn@nutrition.uni-hannover.de
* Zitat von Jean-Anthelme BrillatSavarin (1755–1826), Gastrosoph und Schriftsteller, Aphorisme IV, 1826
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2019 1