Transkript
PROTEINE
Brauchen wir im Alter mehr Protein?
Paolo Colombani
Nahrungsprotein gehört zu den zurzeit kontrovers diskutierten Nährstoffen, insbesondere bei den Empfehlungen fürs Alter. Die aktuelle Forschung setzt ein grosses Fragezeichen hinter dem Referenzwert für das Protein im Alter.
Die evidenzbasierte Medizin ist «der gewissenhafte, explizite und vernünftige Gebrauch der aktuell besten Evidenz, um Entscheidungen über die Betreuung individueller Patienten zu treffen». Die entsprechenden Empfehlungen sollen dabei auf systematisch erfolgter Forschung basieren und müssen bei Aufkommen neuer Evidenz aktualisiert werden (1). In der Ernährung tut man sich immer wieder schwer mit der Erneuerung bestehender Empfehlungen. Entsprechend lautete noch vor zwei Jahren ein Aufruf in der Zeitschrift «Lancet»: «Wann schliessen die Strategien im Gesundheitswesen endlich zur modernen Ernährungswissenschaft auf?» (2) Nahrungsprotein gehört zu den derzeit kontrovers diskutierten Nährstoffen, insbesondere bei den Empfehlungen fürs Alter. Laut D-A-CH-Referenzwerten sollen es ab 65 Jahren täglich 1,0 g/kg Körpermasse sein, während für die restlichen, nicht schwangeren oder nicht stillenden Erwachsenen 0,8 g/kg ausreichen (3). Für die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ist hingegen ein Referenzwert von 0,83 g/kg für alle Erwachsenen gültig, mit Ausnahme der Schwangeren und Stillenden (4). Mehr und mehr Forscher sind mit dieser Empfehlung für ältere Erwachsene nicht einverstanden. Die vielfältigen Gründe für die lauter werdende Kritik wurden kürzlich zusammengestellt und können dort nachgelesen werden (5). Wesentlich ist, dass die postprandiale muskuläre Proteinsynthese (MPS) im Alter nachlässt. Sie führt zu einer verminderten Nutzung einer gegebenen Menge an Nahrungsprotein. Während für junge Erwachsene eine Proteinportion (d.h. der Proteingehalt pro Mahlzeit) von 0,24 g/kg für die Optimierung der postprandialen MPS ausreicht, braucht es bei älteren Erwachsenen 0,4 g/kg – sofern die Proteinqualität beziehungsweise der Gehalt an essenziellen Aminosäuren, insbesondere Leucin, hoch ist. Bei niedriger Proteinqualität kann die nötige Proteinmenge enorm ansteigen, wie folgendes Beispiel zeigt. Molkenprotein ist reich an Leucin sowie den restlichen essenziellen Aminosäuren und gilt generell als ideale Proteinquelle für die MPS. Setzt man beispielsweise das trendige Hanfprotein anstatt Molkenprotein ein, braucht es die doppelte Proteinmenge, um den gleichen Gehalt an Leucin und den restlichen essenziellen Aminosäuren zu erhalten (6). Übersetzt bedeutet dies: Für einen älteren Erwachsenen von 70 kg wären pro Mahlzeit etwa 30 g Molkenprotein nötig,
bei Hanfprotein aber 60 g, um die MPS maximal zu stimulieren. Bei drei Hauptmahlzeiten pro Tag ergibt dies 90 beziehungsweise 180 g Protein, entsprechend 1,3 beziehungsweise 2,6 g/kg Körpermasse. Obige und weitere Überlegungen, insbesondere aber dass die ideale muskuläre Funktion nur bei hoher Proteineinnahme erhalten bleibt, führten zu einer Empfehlung von mindestens 1,2 bis 1,6 g/kg pro Tag für ältere Personen (5, 7). Zusätzlich ist die Proteinportion möglichst häufig mengenmässig zu optimieren. Die Erneuerung der Proteinempfehlung für das Alter wurde schon vor 20 Jahren angeregt (8). Es dauert aber oft mehrere Dekaden, bis lange getragene Empfehlungen modifiziert werden. Prominentes Beispiel ist das Nahrungscholesterin. Während Jahrzehnten empfahl man eine Einschränkung, um das LDL-Cholesterin zu senken. Dann urteilte 2014 die American Heart Association, dass es dafür keine ausreichende Evidenz gäbe, und Nahrungscholesterin wurde über Nacht zum «nutrient of no concern» (9). Es bleibt die Hoffnung, dass es bei den Empfehlungen zum Protein im Alter zu einer schnelleren Aktualisierung kommt.
Korrespondenzadresse: Dr. Paolo Colombani Dentenbergstrasse 45 3076 Worb E-Mail: consulting@colombani.ch
Literatur: 1. Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM et al.: Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 1996; 312: 71–72. 2. Mozaffarian D: Foods, nutrients, and health. Lancet Diab Endo 2017; 5: 85–88. 3. DGE, ÖGE, SGE. D-A-CH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (ger). Neustadt an der Weinstrasse: Neuer Umschau Buchverlag. 2. Auflage, 4. aktualisierte Ausgabe, 2018. 4. EFSA Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies (NDA): Scientific opinion on dietary reference values for protein. EFSA J., 2012; 10: 2557. 5. Traylor DA, Gorissen SHM, Phillips SM: Perspective: protein requirements and optimal intakes in aging: Are we ready to recommend more than the recommended daily allowance? Adv Nutr 2018; 9: 171–182. 6. Gorissen SHM, Crombag JJR, Senden JMG et al.: Protein content and amino acid composition of commercially available plant-based protein isolates. Amino Acids 2018; 50: 1685–1695. 7. Phillips SM, Chevalier S, Leidy HJ: Protein «requirements» beyond the RDA: implications for optimizing health. Appl Physiol Nutr Metab 2016; 41: 565–572. 8. Campbell WW, Trappe TA, Wolfe RR et al.: The recommended dietary allowance for protein may not be adequate for older people to maintain skeletal muscle. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001; 56: M373–380. 9. Eckel RH, Jakicic JM, Ard JD et al.: 2013 AHA/ACC guideline on lifestyle management to reduce cardiovascular risk: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines. Circulation 2014; 129: 76–99.
Interessenkonflikt: Paolo Colombani berät eine breite Anzahl von Lebensmittelindustrien, Branchenverbänden und Behörden bei wissenschaftlichen Fragen, inkl. diverser Aspekte zur idealen Proteinzufuhr.
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2019 19