Transkript
ERNÄHRUNG DES BETAGTEN MENSCHEN
«Oftmals ist Essen das Highlight des Tages!»
Interview mit Christoph Roos, CURAVIVA Schweiz
Mangelernährung frühzeitig zu erkennen, ist eine vordringliche Aufgabe in Alters- und Pflegeheimen. Damit dies möglich wird, brauchen die Mitarbeiter eine fundierte Aus- und Weiterbildung. Christoph Roos ist Bildungsbeauftragter Gastronomie bei CURAVIVA Schweiz. Im Gespräch macht er deutlich, dass der Anspruch an gesundes Essen im Alter nicht immer mit den Bedürfnissen des betagten Menschen übereinstimmt.
Christoph Roos
SZE: Welche Aufgaben haben Sie als Bildungsbeauftragter Gastronomie? Christoph Roos: Ich bin bei CURAVIVA Weiterbildung als Weiterbildungsverantwortlicher für den Fachbereich Gastronomie zuständig. Das Spektrum umfasst Fachkurse, Inhouse-Angebote sowie den Lehrgang Heimköchin/Heimkoch. In den Pflegeheimen sind es umfassende Ernährungsthemen, angefangen bei der Planung eines ausgewogenen Angebots, den diversen Kostformen bis hin zu den komplexeren Themen Demenz oder Mangelernährung, die für die Weiterbildung relevant sind. Einen hohen Anspruch haben wir auch hinsichtlich des heterogenen Ausbildungsniveaus der in einer Heimküche beschäftigten Mitarbeitenden. Wir bieten Weiterbildungen für gelernte Fachkräfte an, aber auch für ungelernte Küchenmitarbeitende mit Migrationshintergrund oder Teilzeitmitarbeitende, beispielsweise in Kinderkrippen.
Welche Bedeutung hat die Ernährung des betagten
Menschen in Mitgliederheimen von CURAVIVA
Schweiz?
Roos: Die Ernährung hat einen hohen Stellenwert. Ins-
besondere steht die Mangelernährung im Fokus, denn
sie ist assoziiert mit erhöhter Morbidität und Mortali-
tät. Im Durchschnitt verbleiben betagte Menschen zwei
Jahre in den Institutionen. Eine übliche Biografie
könnte folgendermassen aussehen: Eine 80-
«Manger est souvent le moment fort de la journée!»
jährige Frau tritt mit einem Risiko für Mangelernährung in die Institution ein, weil sie nach dem Tod des Mannes vor ein paar Jah-
Mots-clés: cuisinier en institution – biographie alimentaire – systèmes de répartition des aliments – rôle professionnel – particularités culinaires
ren nicht mehr regelmässig kocht und kaum mehr soziale Kontakte zu anderen Menschen möglich sind. Das Alleinsein fördert die Appetitlosigkeit, sie mag nicht mehr essen. Das Risiko der Mangelernäh-
Identifier précocement les carences alimentaires est une tâche prioritaire chez les personnes âgées et dans les maisons de retraite. Pour ce faire, les collaborateurs ont besoin d’une forma-
rung liesse sich in der Institution durchaus verringern – aber das ist ein recht schwieriger Prozess, und verschiedene Aspekte müssen mit einbezogen werden.
tion adéquate. Christoph Roos est chargé de la formation en Gastronomie chez CURAVIVA Suisse. Dans un entretien, il montre que les exigences d’une alimentation saine chez la personne âgée ne correspondent pas toujours avec les besoins des personnes âgées.
Was macht es so schwierig? Roos: Eine Mangelernährung verlangt zunächst immer sehr gut funktionierende interdisziplinäre Prozesse rund um die Betroffenen. Aus Sicht der Küche gibt es zwar Interventionsmöglichkeiten, diese sind je-
doch, einzeln betrachtet, begrenzt. Wir empfehlen in unserem «Leitfaden Mangelernährung» unter anderem, die Energie- und Eiweissdichte in den Speisen zu erhöhen. Suppen können mit Milch statt mit Wasser angesetzt, Saucen mit Rahm und Butter energiereicher gemacht werden. Es ist jedoch zu bedenken, dass auch ein optimal angereichertes 4-Gänge-Menü für die notwendige Proteinmenge möglicherweise nicht ausreicht, weil die Portionengrösse bei alten Menschen weit unter dem Volumen liegt, das es brauchen würde, um der Mangelernährung substanziell entgegenzuwirken. Und dann müssen wir auch bedenken, wo genau der betagte Mensch im Leben steht: Betagte Menschen haben eine Essensbiografie und sind mündig. Wir können nicht grenzenlos in dieses Bedürfnis nach Selbstbestimmung eingreifen und Essen vorschreiben.
Wäre eine Ergänzung mit Trinknahrung möglich? Roos: Trinknahrung oder Trinksupplemente sind dann sinnvoll, wenn die Nahrungsaufnahme durch übliche und angereicherte Speisen den Bedarf nicht deckt. Der Einsatz von Trinksupplementen sollte jedoch mit der Ernährungsberatung und/oder dem behandelnden Arzt erfolgen.
Sie haben die Bedeutung eines Tischsettings bereits angesprochen. Welche Möglichkeiten lebt CURAVIVA Schweiz vor? Roos: Es gibt unterschiedliche Speiseverteilsysteme und verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten von Essund Trinksettings, die alle einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Bewohner beim Essen haben: Es gibt den Tablettservice, das Essen wird dann einzeln verteilt, oder der Koch schöpft direkt am Tisch oder fährt mit einem Essenswagen durch den Speiseraum. Dann gibt es Pflegewohngruppen, die selbst kochen. Eine mir bekannte Institution hat den Speiseservice komplett neu ausgerichtet, und das mit grossem Erfolg: Dort schöpfen die Küchenmitarbeitenden direkt am Essenstisch aus dem Essenswagen. Der Wagen – eine Spezialanfertigung – ist hierfür extra tiefer gelegt, sodass die Bewohner vom Stuhl aus all die Speisen sehen und auswählen können. Die Bewohner können sagen, wie viel sie essen möchten und können verschiedene Beilagen zusammenstellen. Das ist natürlich eine tolle sinnliche Wahrnehmung, die appetitanregend ist und zum Essen
24 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2018
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animiert. Zudem fühlen sich die Bewohner ernst genommen und können auch unmittelbar eine Rückmeldung geben. Für die Küchencrew hat es den Vorteil, dass sie nahe bei ihren Gästen ist und deren Bedürfnisse direkt mitbekommt. Die Speisen werden so automatisch in der richtigen Menge und auf bedarfsgerechte Art produziert. Ein Gewinn fürs Gemüt der Bewohner, für die Wirksamkeit der Küchenmitarbeitenden, und auch ein Gewinn, wenn es darum geht, Lebensmittelresten zu verhindern.
Welchen Stellenwert hat die Essbiografie im Pflegeheim? Wie kommen Köche überhaupt an diese Informationen? Roos: Die Essbiografie ist wichtig und ein zentrales Element, wenn es um die Ernährung im Alter geht. Bei einem Heimeintritt nimmt die Pflege allgemeine Fakten rund um das Thema Ernährung auf. Sie fragt nach Lieblingsgerichten, Abneigungen, Allergien und so weiter. Aber es braucht zusätzlich die Initiative der Küche, um auch die sozialen Dimensionen der Essbiografie der Bewohner zu erfassen. Wenn möglich, sollte deshalb der Küchenchef zu den Bewohnern gehen und mit ihnen über das Essen sprechen. Da könnte es beispielsweise um das Tischsetting gehen. Hat man in der Familie am Tisch geredet, oder musste es still sein? Was gab es an Feiertagen zu essen? Die Fakten können mit der Pflege zusammengetragen werden, sodass ein ganzes Bild der Essprägungen und eine umfassende Essbiografie als Fundament für eine bewohnerorientierte Angebotsplanung entstehen. Durch diesen Austausch zwischen Küche und Pflege wird zudem eine Interdisziplinarität gelebt, die eine optimale Versorgung der Bewohner gewährleistet.
Sind es Heimköche denn überhaupt gewohnt, mit den Klienten zu kommunizieren? Roos: Für viele Köche hängt der Wechsel von der klassischen Gastronomie in eine soziale Institution damit zusammen, dass sie sich einen besseren Verdienst und geregelte Arbeitszeiten wünschen. Inwiefern sich die Tätigkeit als Koch in einer Institution jedoch von der Berufsrolle in der klassischen Gastronomie unterscheidet, ist dabei den wenigsten bewusst. Die soziale Dimension der Heimküche ist so bedeutend, dass die Berufsleute neben der Fachlichkeit zwingend auch über ein ausgeprägtes Mass an Sozialkompetenzen verfügen sollten. Die Fähigkeit, zu den Bewohnern Kontakt herzustellen, und eine ganz auf die Bedürfnisse der Bewohner abgestimmte Art zu kochen, gepaart mit einem umfassenden Verständnis für Ernährung und der Fähigkeit, bereichsübergreifend zusammenarbeiten zu können, sind zentrale Faktoren für die Arbeitsgestaltung. In der klassischen Gastronomie sind diese Tugenden keine Steckenpferde. Essen ist aber das Highlight des Tages! Diese Wirkungsweise könnten Köche in den Institutionen auf eine positive Art ausspielen. Im Heim sollte man die Gäste persönlich kennen, denn man kocht für sie über Jahre. Da ist es schon fast eine Pflicht, dass man die Bedürfnisse der Betagten kennt!
Was ist CURAVIVA Schweiz?
CURAVIVA Schweiz ist der Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Als nationaler Verband vertritt CURAVIVA Schweiz auf Bundesebene die Interessen und Positionen von über 2600 Mitgliederinstitutionen aus den Bereichen Menschen im Alter, erwachsene Menschen mit Behinderung sowie Kinder und Jugendliche. Mit der aktiven Unterstützung und Förderung seiner Mitglieder setzt sich CURAVIVA Schweiz für möglichst optimale Rahmenbedingungen der Mitarbeitenden und eine entsprechend hohe Lebensqualität der Bewohnenden in den Mitgliederinstitutionen ein. www.curaviva.ch
Werden diese Aspekte in der Weiterbildung angesprochen? Roos: Die Interdisziplinarität ist für uns ein ganz wichtiges Thema, weil sie letztlich ausschlaggebend für die Lebensqualität der Bewohner ist. Denn alle Disziplinen sind einzeln super, die Frage ist eher, wie man gut zusammenarbeiten kann, damit die Bedürfnisse der Bewohner gleichsam im Rahmen der Möglichkeiten erfüllt werden können. Und das geht eben nur gemeinsam. Im Bereich der Mangelernährung bieten wir ein- bis zweitägige Kurse an. Die Teilnehmenden lernen Neues über das Erkennen und das Behandeln von Mangelernährung, aber auch darüber wie der Informationsaustausch verbessert werden kann, wie ein Screening auf Mangelernährung funktioniert, welche Bedeutung Nahrungs- und Trinkprotokolle haben und wie diese im regelmässigen Austausch mit der Pflege genutzt und wie Massnahmen ergriffen werden können.
Sind auch verschiedene Religionen und Kulturen ein Thema in der Ausbildung? Roos: Wir thematisieren die konkreten kulinarischen Eigenheiten der verschiedenen Religionen und Kulturen nicht explizit, weisen aber darauf hin, dass sich gerade hinsichtlich der Essbiografie Möglichkeiten für die Heimküche ergeben. In der Praxis kenne ich vor allem in städtischen Regionen kulturell homogene Wohngruppenmodelle von Senioren mit Migrationshintergrund. Ein spannendes Beispiel hierzu aus einer italienischstämmigen Wohngruppe: Die Betagten kochten mit Unterstützung teilweise noch selbstständig und bestimmten die Menüplanung mit. Aufgrund ihrer Essbiografie wünschten sie sich häufiger Pasta oder Pizza, wohl auch immer kombiniert mit Suppe und Salat. Ironischerweise setzten sich die Angehörigen zum Teil sehr vehement zur Wehr, mit den Argumenten: geringe Qualität und einseitige Ernährung. In solchen Situationen kollidiert die Selbstbestimmung der Betagten mit den Erwartungen ihres Umfeldes, oft auch auf der Grundlage von Schuldgefühlen von Kindern, sich nicht persönlich um die Eltern kümmern zu können. An einem runden Tisch mit allen Beteiligten konnten die Bedürfnisse ausgesprochen und die Erwartungen geklärt werden. Essen hat eben immer und in jedem Fall mit Emotionen zu tun.
Sehr geehrter Herr Roos, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Christoph Roos CURAVIVA Weiterbildung Bildungsbeauftragter Gastronomie CURAVIVA Schweiz Abendweg 1, Postfach 6000 Luzern 6 E-Mail: c.roos@curaviva.ch
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