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ERNÄHRUNG DES BETAGTEN MENSCHEN
Ernährung für Betagte – eine interdisziplinäre Herausforderung
Hotellerie, Pflege und Ernährungsberatung greifen ineinander
Rudolf Kägi
Im Akutspital ist die Ernährung hochbetagter Patienten eine besondere Herausforderung. Verbunden mit der Erhaltung der Funktionalität, der Mobilität und der Autonomie, bekommt die Ernährung im Alter einen Logenplatz, und es kommt auf das ganze Orchester (Ärzte, Ernährungsberatung, Küche etc.) an, ob im Akutspital und danach eine gute Ernährung für ältere Menschen sichergestellt werden kann. Wie komplex die Zusammenarbeit selbst in einer Institution sein kann, zeigen die Interviews von Experten und Expertinnen im Bereich der Hotellerie, der Pflege und der Ernährungsberatung-/therapie am Universitätsspital Zürich.
«Besonders Sorge tragen wir der Proteinverdichtung und der Konsistenz der Nahrung.»
Rudolf Kägi ist Gruppenleiter der Patientenküche am Universitätsspital Zürich. Im Gespräch unterstreicht er die grosse Bedeutung einer individuell angepassten Ernährung für geriatrische Patienten.
SZE: Welchen Stellenwert nimmt die Ernährung für die geriatrischen Patienten am USZ ein? Rudolf Kägi: Insgesamt versorgen wir am USZ 12 geriatrische Patienten in der Klinik für Geriatrie und 15 bis 25 geriatrische Patienten im Zentrum für Alterstraumatologie. Dazu machen hochbetagte Patienten etwa 10 Prozent der am USZ hospitalisierten Patienten in vielen Fachdisziplinen aus. Daher nimmt die Bedeutung zu. Sorge tragen wir insbesondere der Proteinverdichtung und der Konsistenz der Nahrung.
Was bedeutet das? Kägi: Die Makronährstoffe haben eine grosse Bedeutung bei der Ernährung älterer Menschen. Die Suppe ist beispielsweise immer energieverdichtet, das heisst, wir fügen Proteine hinzu. Bei der Konsistenz achten wir darauf, dass wir püriertes Essen liefern, das appetitlich aussieht und schmeckt. Die Verordnung für energieverdichtetes Essen und auch die angepasste Konsistenz erfolgen auf ärztliche Anordnung, ebenso die Verordnung für Spezialkost wie laktosefreie Ernährung oder Spezialdiäten bei Nahrungsmittelallergien. Die Hotellerie fragt auf der Station täglich, was die Patienten essen möchten, und ist aktiv in die Betreuung involviert. Eine wichtige Rolle spielen auch
die Zwischenmahlzeiten. Für das Znüni liefern wir Proteindrinks oder stichfesten Joghurt, bei Vorliebe für Salziges Käse und Früchte. Das Mittagessen ist wiederum energieverdichtet, und die Konsistenz bei Bedarf angepasst.
Woher stammen die Lebensmittel, die püriert werden? Kägi: Das sind die gleichen frisch servierten Speisen, die püriert werden. Wir fügen zusätzlich Proteine und Maltodextrin hinzu, damit die Kost energieverdichtet ist.
Ist die Mangelernährung oder die Vermeidung von Mangelernährung in der Hotellerie ein wichtiges Thema? Kägi: Bei uns kochen Diätköche, die im Bereich Mangelernährung geschult sind. Dank Frau Prof. BischoffFerrari wird die Ernährung bei älteren Patienten in unserer Küche am USZ regelmässig thematisiert und verbessert. Proteinreiches und schmackhaftes Essen ist ein zentraler Pfeiler der geriatrischen Frührehabilitation, die in der Klinik von Prof. Bischoff-Ferrari am USZ parallel zur akutmedizinischen Behandlung umgesetzt wird. Auch das Hotelleriepersonal auf den Abteilungen ist dahingehend geschult, Teil des Behandlungsteams zu sein, und wirkt unterstützend bei der Bestellung der Speisen und Zwischenmahlzeiten, die der Patient gern isst. Essen ist Lebensqualität.
26 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2018
ERNÄHRUNG DES BETAGTEN MENSCHEN
«Auf den Essenskarten haben wir ein Tellerdiagramm erstellt.»
Corinne Steinbrüchel-Boesch ist Pflegeexpertin ANP* in der Klinik für Geriatrie am Universitätsspital Zürich mit zwölf Betten. Als ANP verknüpft sie Theorie und Praxis und sorgt für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Wie wichtig dies ist, zeigt sich in der Ernährung des betagten Menschen im Akutspital.
Wie pflegeaufwendig sind die Patienten? Corinne Steinbrüchel-Boesch: In den Aktivitäten des täglichen Lebens waren viele Patienten vor Spitaleintritt noch recht selbstständig. Zentral ist für uns die Frührehabilitation zur Vermeidung von Einbussen in der Selbstständigkeit. Die Pfeiler unserer Behandlung basieren nebst der medizinischen Behandlung auf der Physiotherapie, der Mobilisation und der Aktivierung durch das Pflegepersonal und der Ernährung. Das heisst, wir mobilisieren sehr schnell und mehrmals am Tag. Dies und die Ernährung sind wichtig, damit der Muskelabbau gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann.
Wie gut sind die Mitarbeitenden bezüglich Ernährung informiert? Steinbrüchel-Boesch: Zu Einstellungsbeginn werden alle Mitarbeitenden in der Pflege bezüglich Ernährung geriatrischer Patienten geschult. Das heisst: Bedeutung der Mikro- und Makronährstoffe im Alter. Das Einführungsgespräch findet mit der ANP statt; jährlich findet zudem eine Weiterbildung Geriatrie zum Thema «Kompetente Pflege alter Menschen» statt. Die Ernährung nimmt in dieser Weiterbildung einen wichtigen Platz ein.
Wie können die Patienten bedarfsgerecht ernährt werden? Steinbrüchel-Boesch: Im Akutbereich ist die Essensbestellung eine spezielle Herausforderung. Früher haben dies die Pflegefachpersonen gemacht, heute wird diese Aufgabe von der Hotellerie übernommen. Die Verantwortung, ob die Patienten ausreichend Kohlehydrate und Proteine erhalten, liegt aber auch weiterhin bei der Pflege. Deshalb haben wir auf den Essenskarten ein Tellerdiagramm erstellt, wo die Mitarbeitenden der Hotellerie bei allen Patienten einzeichnen, wie viel diese tatsächlich gegessen haben. Die Pflege überträgt diese Erfassungen täglich ins Computersystem, sodass alle am Behandlungsprozess Beteiligten, zum Beispiel auch die Ernährungstherapeuten, diese Informationen einsehen können. Die Herausforderung liegt darin, dass das Hotelleriepersonal häufig die Abteilung wechselt. Wir müssen das Personal deshalb immer wieder neu einarbeiten, wie in der Geriatrie das Essen bestellt und die eingenommene Menge erfasst wird.
Die Ernährung sei energiereich, hatten Sie gesagt. Auf welche Proteine wird besonders geachtet? Steinbrüchel-Boesch: Neue Studien zeigen, dass Molke wirksamer ist als Kasein, um die Muskelkraft
zu erhalten oder zu steigern. Unsere Patienten erhalten diese Proteine über eine Trinknahrung. Parallel leitet das Forschungsteam unserer Klinik in Zusammenarbeit mit der Universität Basel die weltweit grösste und vom Nationalfonds finanzierte Molkestudie, STRONG, um deren Wirksamkeit in der Prävention von Gebrechlichkeit zu belegen. Dazu werden Patienten mit einem Nutrition Risk Score ab 3 als Hinweis auf eine Mangelernährung von der Ernährungstherapie abgeklärt und beraten.
Wie wichtig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf die Ernährung der geriatrischen Patienten? Steinbrüchel-Boesch: Jeden Montagnachmittag findet in der Klinik für Geriatrie des USZ ein interprofessioneller Austausch für alle Patienten statt. Dazu treffen sich die Pflege, die Physio- und die Ergotherapie, die Ernährungstherapie, der Sozialdienst und der ärztliche Dienst. Die Ernährung ist fester Bestandteil dieses Austausches. Die Ernährungsberatung achtet speziell auf Ernährungsdefizite. Danach erfolgen individuelle Anpassungen für die jeweiligen Patienten. Ein Teil unseres Behandlungsteams ist, wie bereits oben erwähnt, auch die Hotellerie, die unsere Patienten in der Auswahl der Speisen unterstützt und berät.
Wie sieht es nach der Entlassung aus? Steinbrüchel-Boesch: Das ist ein schwieriger Punkt. Wir wissen leider nicht, wie es im Anschluss an den Aufenthalt bei uns in der Rehabilitation, im Pflegeheim oder zu Hause weitergeht. Denn leider fehlt bis heute ein gutes ernährungsspezifisches Schnittstellenmanagement. Um auch diesbezüglich mehr Informationen zu erhalten, haben wir zusammen mit der Spitex der Stadt Zürich eine Pilotstudie lanciert (STARK). Eingeschlossen werden über 70-jährige Frauen nach Hüftfraktur, die zu Hause leben. Die Patientinnen der Interventionsgruppe werden von der ANP der Spitex bereits im Spital besucht und erhalten anschliessend eine spezielle Unterstützung im körperlichen Training und in der Ernährung. Die Spitex achtet auch darauf, welche Nahrungsmittel im Kühlschrank sind, geht mit der Patientin einkaufen und hilft bei der Anreicherung durch Molkeproteine. Als Outcome erhoffen wir uns weniger Stürze und weniger Rehospitalisationen als in der Kontrollgruppe.
Sie sind ANP. Welche Vorteile bringt das? Steinbrüchel-Boesch: Der Vorteil ist, dass ich als ANP mit einer spezifischen Expertise in der direkten Pflege mitarbeite und am interdisziplinären und wissenschaftlichen Austausch beteiligt bin. Die Praxisnähe erleichtert massgeblich die Umsetzung evidenzbasierter Lösungen im Pflegeteam.
Corinne Steinbrüchel-Boesch
* ANP steht für Advanced Nursing Practice, eine Pflegefachperson mit Masterabschluss und vertieften Kenntnissen in einem bestimmten Bereich.
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ERNÄHRUNG DES BETAGTEN MENSCHEN
«Ernährung ist eine Gewohnheit, die seit Jahren eintrainiert ist.»
Susanne Nicca Monica Rechsteiner
Susanne Nicca ist Leiterin der Ernährungsberatung/-therapie am Universitätsspital Zürich; Monica Rechsteiner leitet die Ernährungsberatung/ -therapie am Stadtspital Waid. Beide Kliniken arbeiten im Bereich der Geriatrie eng zusammen. Im Interview sprechen sie über die Grenzen der Ernährungstherapie und darüber, welche Rolle der Ernährungsberatung/-therapie im Akutspital zukommt.
Welche Rolle, aber auch welche Grenzen hat die Ernährungsberatung/-therapie in der Versorgung des betagten Menschen im Akutspital? Susanne Nicca: Sowohl im USZ als auch im Waidspital haben wir keine Langzeitgeriatrie. Die Patienten bleiben maximal drei Wochen. Das ist wenig Zeit, um Grundsätzliches an der Ernährung zu ändern, weshalb ein frühzeitiger Therapiebeginn wichtig ist. Monica Rechsteiner: Die Negativspirale in der Ernährung bei älteren Menschen beginnt schleichend beziehungsweise schon nach wenigen Tagen mit sehr wenig oder ganz ohne Essen. Die wichtigste Frage ist aber immer jene nach dem Ziel, das erreicht werden soll. Das heisst oftmals, eine Verschlechterung betreffend Nahrungszufuhr zu vermeiden oder zu verhindern.
Kommen viele geriatrische Patienten mangelernährt zu Ihnen? Nicca: Viele geriatrische Patienten, die von zu Hause kommen, haben eine Mangelernährung. Nehmen die Kräfte ab, kommen das Einkaufen, das Kochen und das Essen oft zu kurz, oder die Mahlzeiten sind einfach und enthalten oft zu wenig Protein. In den Pflegeheimen ist die Ernährung in den letzten Jahren besser geworden. Rechsteiner: Unser Ziel ist es, dass bei Austritt des Patienten Berichte mit individuellen Ernährungsempfehlungen für die Alterszentren mitgegeben werden.
Wie sieht die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf die Ernährung am USZ und im Stadtspital Waid aus? Nicca: Wir haben auf den Stationen wöchentlich interdisziplinäre Sitzungen. Für den einzelnen Patienten werden dort die Ziele definiert. Dies betrifft auch den Ernährungsstatus, der im USZ von den Ärzten, im Waidspital von der Pflege in den ersten Tagen mittels Nutrition Risk Score ermittelt wird. Rechsteiner: Zudem arbeiten die Ernährungsberatungen des Waidspitals und des USZ sehr eng zusammen und benutzen die gleichen Screeningtools. In gemeinsamen Fachgruppentreffen oder bei einem Austausch betreffend einzelne Patienten werden die Vorgehensweisen besprochen. Die Zusammenarbeit ist sinnvoll, weil sich so auch neue Blickwinkel auf
fachspezifische Themen ergeben. Zudem liegen im gemeinsamen Auftritt nach aussen Vorteile, da einheitliche Vorgehensweisen und Qualitätsstandards betreffend Ernährungstherapien kommuniziert werden können.
Welches sind die häufigsten Ernährungsprobleme des betagten Menschen im Spital – was zeigt sich in der Praxis? Rechsteiner: Eine Hospitalisation ist für Betagte immer eine einschneidende Veränderung mit vielen Unsicherheitsfaktoren. Hinzu kommen die veränderte Umgebung, das andere Lebensmittelangebot, die verschiedenen Therapien oder Operationen – um nur einige Faktoren zu nennen. Bereits vorgängig bestanden vielleicht Inappetenz und ungewollte Gewichtsabnahme mit Kraftverlust oder auch Kau- und Schluckstörungen. All das hat einen grossen Einfluss auf den Appetit und die Nahrungseinnahme im Spital. Das heisst, die Ernährung ist meist nicht dem Bedarf entsprechend, und das muss mit einer entsprechenden Therapie (z.B. mit weicher, energiedichter, proteinreicher Ernährung bzw. Komponenten) individuell behandelt werden.
Was braucht es für eine gute Ernährungsberatung/therapie im Akutspital? Nicca: Es braucht eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit, bei der die verschiedenen Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich Ernährung besprochen und angepasst werden müssen. In diesem Prozess hat die Ernährungsberatung/-therapie eine übergeordnete Funktion, da sie den Überblick über den Prozess hat und mit allen beteiligten Berufsgruppen direkt zusammenarbeitet. Rechsteiner: In der Akutgeriatrie im Spital ist oft der Faktor Zeit limitierend. Ernährungsgewohnheiten entstehen im Lauf des Lebens und benötigen für eine Anpassung Zeit. Dafür werden entsprechende Fachkräfte und Ressourcen auch in der Spitex und in anderen Institutionen wie zum Beispiel Alters- und Pflegeheimen notwendig.
Die Interviews führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari, DrPH Klinikdirektorin, Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich Chefärztin, Universitäre Klinik für Akutgeriatrie, Stadtspital Waid Lehrstuhl Geriatrie und Altersforschung, Universität Zürich Leiterin, Zentrum Alter und Mobilität, Universitätsspital Zürich und Stadtspital Waid Koordinatorin DO-HEALTH E-Mail: Heike.Bischoff@usz.ch
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