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ERNÄHRUNG DES BETAGTEN MENSCHEN
Änderung von Hunger und Sättigung im Alter
Wolfgang Langhans
Wolfgang Langhans
Ausgehend vom derzeitigen Wissensstand bezüglich der physiologischen Steuerung von Hunger und Sättigung, beschreibt der Beitrag, welche Faktoren zum Appetitverlust bei älteren Menschen beitragen. Allgemeine Ursachen wie soziale und psychologische Aspekte oder Krankheiten werden dabei ausgeklammert. Der Fokus liegt vielmehr auf Veränderungen der physiologischen Steuerung von Hunger und Sättigung, die bei gesunden älteren Menschen auftreten.
Einleitung
Wegen des Fokus auf Übergewicht, Adipositas und
deren Folgeerkrankungen geht bei der Diskussion von
Ernährung und Körpergewicht der Appetitverlust bei
chronisch kranken oder betagten Menschen oft ver-
gessen. Viele Betagte, ob in Spitälern und Pflegehei-
men oder zu Hause, sind mit Energie und Nährstoffen
unterversorgt, im Extremfall bis zu Malnutrition oder
Kachexie. Die demografische Entwicklung wird diese
Problematik künftig noch verschärfen (1). Der Appe-
titverlust bei Betagten kann durch Krankheit oder
Medikationen (Zytostatika, Antibiotika, Antiphlogis-
tika etc.) bedingt sein. Weitere Ursachen sind soziale
Faktoren wie Armut, soziale Isolation, die Unfähigkeit,
einkaufen zu gehen oder zu kochen, oder psychologi-
sche Faktoren wie Depressionen, Demenz
und Alkoholismus (2). Auch bei gesunden
Modifications de la faim et de la satiété avec l’âge
betagten Menschen kommt es jedoch oft zu einer Reduktion der Energieaufnahme, welche die altersbedingte Abnahme des
Mots-clés: perte de l’appétit et âge – conditionnements – neurotransmetteurs orexigènes et anorexigènes – stratégies interdisciplinaires
Energieverbrauchs übersteigt. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die physiologischen Ursachen dieser Inappetenz im Alter. Ausgehend von den Faktoren, welche
En se fondant sur l’état actuel des connaissances scientifiques sur la régulation physiologique de la faim et de la satiété, l’article décrit les facteurs qui contribuent à la perte de l’appétit chez la per-
Hunger und Sättigung sowie die Energiehomöostase bei gesunden Erwachsenen steuern, wird der diesbezügliche Kenntnisstand dargestellt.
sonne âgée. Ceux-ci comprennent en particulier la baisse liée à l’âge des sensations olfactives et gustatives, le retard de la vidange gastrique et la
Genuss und reduzierte Schmackhaftigkeit im Alter
rapide sensation de satiété qui en résulte, la production accrue d’hormones de la satiété, les modifications de la composition corporelle ainsi que de l’effet de la leptine, ou encore un excès de neurotransmetteurs inhibant la consommation d’aliments dans le cerveau ou la production aug-
Genuss, das heisst das Streben nach dem basierend auf früherer Erfahrung beim Essen erwarteten Genuss, ist der wichtigste Antrieb, Nahrung aufzunehmen. Diese «hedonischen Faktoren» wirken weitge-
mentée de cytokines chez les personnes âgées. hend unabhängig von allfälligem ernäh-
rungsphysiologischem Grundwissen. Der
Ernährungspsychologe Volker Pudel zeigte diese Entkopplung von Theorie und Praxis des Essens in mehreren Untersuchungen und formulierte treffend: «Im Überfluss des Schlaraffenlandes essen die Leute anders, als sie sich ernähren sollten.» Der Grund ist einfach: Da Essen lebensnotwendig ist, hat es einen sehr hohen Genusswert. Die Natur sorgt dafür, dass wir all das gerne und mit Genuss tun, was uns am Leben erhält. Wäre Essen eine masochistische Übung, wäre die Menschheit vermutlich ausgestorben. Auch dass wir richtig zuschlagen können, wenn wir mit schmackhaftem Essen konfrontiert sind, lässt sich mit der Evolution erklären: Diejenigen unserer Vorfahren, die sich bei einer passenden Gelegenheit den Bauch vollschlagen konnten, hatten danach bei allfälligen Hungerphasen die besseren Überlebenschancen. Der Genuss beim Essen beziehungsweise die Schmackhaftigkeit ist keine messbare Grösse der Nahrungsbeschaffenheit, sondern sehr individuell und beruht auf vorangegangenen Erfahrungen, kulturellen Einflüssen und so weiter. Die Schmackhaftigkeit hängt dabei wesentlich vom Geruch und Geschmack der Speisen ab und ist positiv mit der Mahlzeitgrösse korreliert. Guter Geschmack fördert das Essen. Die Geruchs- und Geschmacksempfindung nehmen aber mit zunehmendem Alter ab (3, 4), das heisst, alle diesbezüglichen Eindrücke – und damit auch der Genuss beim Essen – sind im Alter reduziert, wodurch weniger gegessen wird (Abbildung). Hinzu kommt, dass ältere Menschen oft allein leben, womit die Motivation, aufwendig zu kochen und die Speisen schön anzurichten, geringer ist als in Gesellschaft.
Geschmacksspezifische Sättigung
Die Schmackhaftigkeit von Speisen, die gerade verzehrt werden, nimmt gegenüber der Schmackhaftigkeit anderer Speisen deutlich ab, was zur Sättigung beiträgt (= geschmacksspezifische Sättigung). Andere Speisen werden hingegen noch bereitwillig verzehrt.
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Deshalb kann der Kellner im Restaurant uns leicht zu einem Dessert verführen, obwohl wir nach dem Hauptgang eigentlich satt sind. Auch dabei ist die Evolution im Spiel: Die geschmacksspezifische Sättigung fördert den Wechsel zwischen unterschiedlichen Nährstoffquellen und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit einer ausgewogenen Ernährung. Dies war früher wichtig, weil wir keinen angeborenen Appetit für essenzielle Nährstoffe besitzen. Der Effekt ist aber nicht auf einzelne Mahlzeiten beschränkt und hat damit in unserer heutigen Umwelt eher negative Auswirkungen. Labortiere werden unweigerlich fett, wenn man sie kontinuierlich einem vielfältigen Angebot an unterschiedlicher attraktiver Nahrung aussetzt. Die geschmacksspezifische Sättigung ist bei älteren Menschen vermindert (3, 4). Dies dürfte dazu beitragen, dass sich ältere Menschen oft weniger abwechslungsreich ernähren, was das Auftreten von Nährstoffmangelzuständen begünstigen kann.
Konditionierungen und Lernprozesse
Konditionierungen und Lernprozesse beeinflussen, wann, was und wie viel wir essen. Äussere Reize (die Grösse des Tellers oder der offerierten Portion, die Uhrzeit, bestimmte Gerüche, eine spezielle Umgebung etc.) wirken als konditionierte Stimuli, die auch bei satten Individuen das Verlangen nach Essen sowie bestimmten Speisen oder den Beginn einer Mahlzeit induzieren können. Eine andere Form des Lernens stellen Präferenzen und Aversionen dar, die wir aufgrund vorangegangener Erfahrungen entwickeln. Dabei werden positive oder negative Konsequenzen der letztmaligen Aufnahme von bestimmten Speisen mit deren sensorischen Eigenschaften assoziiert und führen zu Bevorzugung oder Ablehnung derselben. Kulturelle Gepflogenheiten bezüglich des Essens beruhen auf ähnlichen Mechanismen. Wichtig ist, dass auch Störungen des Wohlbefindens, die vom Essen völlig unabhängig sind, zu Aversionen gegenüber einer vorher verzehrten Speise führen. Dies dürfte für die Inappetenz bei Betagten eine Rolle spielen, da Störungen des Wohlbefindens mit dem Alter zunehmen und auch eine ungenügende Energieaufnahme über den damit einhergehenden Mangel an essenziellen Nährstoffen Aversionen auslösen kann.
Wie viel wir essen
Zusätzlich zu den oben genannten Faktoren stimulieren insbesondere zwei periphere Signale die Nahrungsaufnahme. Zum einen das im Magen gebildete Hormon Ghrelin, welches fälschlicherweise oft als «Hungerhormon» bezeichnet wird. Tatsächlich führt Ghrelin nicht zu Hunger, sondern macht das Essen gegenüber anderen Aktivitäten attraktiver (5). Deshalb lässt sich durch die parenterale Verabreichung von Ghrelin die Nahrungsaufnahme steigern. Zum anderen wird die Metabolisierung von energieliefernden Substraten durch periphere und zentralnervöse
Abbildung: Physiologische Änderung von Hunger und Sättigung bei gesunden älteren Menschen Hunger und Sättigung ändern sich folgendermassen: 1. Altersbedingt kommt es zu einer abnehmenden Geruchs- und Geschmacksempfindung, welche den Genuss
beim Essen einschränken können. 2. Eine verzögerte Magenentleerung und reduzierte Compliance des Magens führen beim Essen rascher zu
Völlegefühl und Sättigung. 3. Es werden vermehrt Sättigungshormone wie Cholezystokinin gebildet. 4. Die Körperzusammensetzung ändert sich sowie die Wirkung von Leptin. 5. Es werden vermehrt Zytokine gebildet, die ebenfalls die Nahrungsaufnahme hemmen können.
Sensoren kontinuierlich registriert. Eine Abnahme wird als beginnende Energieverknappung interpretiert, was die Nahrungssuche oder die Aufnahme einer Mahlzeit induziert. Bei Betagten sind die Plasmaspiegel von Ghrelin reduziert, wodurch zumindest dieses stimulierende Signal schwächer ist (6).
Gastrointestinale Sättigungssignale
Unterschiedliche, primär vom Verdauungstrakt ausgehende Signale induzieren Sättigung. Auch nach einer Mahlzeit wird die Sättigung dadurch für einige Zeit aufrechterhalten, bis äussere Reize und andere Signale eine neue Mahlzeit induzieren. Einerseits löst die Dehnung des Magens über Mechanosensoren in der Magenwand ein über den Nervus vagus vermitteltes Signal aus, welches die Nahrungsaufnahme hemmt. Dabei erlaubt allerdings die reflektorische Erschlaffung der Magenwand beim Essen (= Compliance des Magens) eine beträchtliche Füllung des Magens ohne Zunahme des intragastralen
Kasten:
Orexigene und anorexigene Neurotransmitter, die bei Betagten verändert sind
Orexigene ↓ Neuropeptide Y (NPY) Endogenous Opioids (z.B. Dynorphin) Agouti-related Peptide (AgRP)
Anorexigene ↑ Serotonin (5HT) Corticotropin Releasing Factor (CRF) Cocaine and Amphetamine-regulated Transcript (CART)
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Druckes und Dehnung der Magenwand. Mit zunehmendem Alter ist dieser Reflex gestört und die Magenentleerung generell verzögert (6), woraus bei Betagten eine rasche Zunahme des Mageninnendrucks beim Essen resultiert. Dies wird als unangenehmes Völlegefühl wahrgenommen und führt zum vorzeitigen Abbruch der Mahlzeit, oft mit dem Hinweis «ich bin voll, ich kann nichts mehr essen». Mehrere Intestinalhormone, die von enteroendokrinen Zellen in der Darmwand bei Anwesenheit von Nährstoffen sezerniert werden, haben ebenfalls Sättigungsfunktion. Zudem steuern sie Verdauungsfunktionen (z.B. den gastrointestinalen Transit, die Freisetzung von Verdauungsenzymen und von Galle), und einige stimulieren auch die Freisetzung von Insulin aus den Betazellen des Pankreas (= Inkretineffekt). Im Alter scheint insbesondere die Wirkung des Intestinalhormons Cholezystokinin (CCK) verstärkt zu sein (3, 6). CCK ist ein wichtiges intestinales Sättigungshormon, dessen Freisetzung vor allem durch Fett und Protein stimuliert wird. CCK induziert Sättigung zum Teil, indem es vagale Afferenzen im Pylorusbereich aktiviert und die Magenentleerung hemmt. Zusätzlich hat CCK einen endokrin vermittelten Sättigungseffekt. Bei älteren Menschen sind die Anzahl der CCK-produzierenden enteroendokrinen Zellen, die Freisetzung von CCK als Antwort auf die Aufnahme von Fett und Protein sowie die Sättigungswirkung von CCK verstärkt. CCK ist damit ein wichtiger Faktor für die Reduktion der Mahlzeitgrösse bei älteren Menschen.
Energiehomöostase – Konstanz des Körpergewichts
Das Gehirn steuert Nahrungsaufnahme und Energieabgabe so, dass das Körpergewicht innerhalb eines durch genetische Faktoren und Umweltbedingungen bestimmten Bereichs bleibt (Energiehomöostase). Humorale Feedbacksignale vom Fettgewebe (= wichtigster Energiespeicher) spielen in diesem Regelkreis eine wichtige Rolle. Mitte der Neunzigerjahre wurde das Hormon Leptin als attraktiver Kandidat für solch ein «Adipositassignal» identifiziert. Leptin wird von den Adipozyten ins Blut freigesetzt und informiert das Gehirn über den Stand der Energiereserven des Organismus. Störungen im Leptinsystem führen bei Tier und Mensch zu ausgeprägter Adipositas. Ist diese durch einen genetisch bedingten Leptinmangel bedingt, lässt sie sich durch die Gabe von Leptin korrigieren. Zur Gewichtskontrolle bei adipösen, ansonsten aber weitgehend gesunden Individuen sind Leptin oder Leptinanaloga aber ungeeignet, weil Leptin primär im unteren Gewichtsbereich beziehungsweise im unteren Konzentrationsbereich wirkt. Eine Erhöhung des Leptinspiegels über den Normalbereich hinaus, sei es durch endogene Mechanismen (bei einer Gewichtszunahme) oder durch exogene Zufuhr, hat hingegen keinen nennenswerten Effekt auf Nahrungsaufnahme, Energieabgabe oder Körpergewicht (7). Leptin wirkt somit als «tonisches» oder permissives
Signal, bei dessen Anwesenheit (in normalen Konzentrationen) die oben erwähnten intestinalen Sättigungssignale effizient wirken. Sind die Leptinspiegel erniedrigt (bei negativer Energiebilanz), ist die Wirkung der Sättigungssignale reduziert, wodurch die Mahlzeitgrösse zunimmt, das heisst, mehr gegessen wird. Ein Absinken des Leptinspiegels wirkt somit einem potenziell kritischen Energiemangel entgegen. Im Sinne dieser Funktion werden bei Energiemangel durch den niedrigen Leptinspiegel im Blut energieaufwendige physiologische Prozesse wie zum Beispiel die Fortpflanzung «abgeschaltet». Ein Beispiel dafür ist das Sistieren des Ovarialzyklus bei Anorexiepatientinnen. Inwieweit die stimulierende Wirkung eines Absinkens von Leptin auf die Nahrungsaufnahme im Alter reduziert ist, wurde bisher nicht eingehend untersucht. Es zeigte sich jedoch, dass im Alter die Hemmfunktion von Leptin auf die Nahrungsaufnahme verstärkt ist (6, 8), was sich auch in Veränderungen der nachgeschalteten Neurotransmittersysteme widerspiegelt (Kasten).
Zentralnervöse Integration peripherer Signale
Sättigungssignale und Adipositassignale werden in unterschiedlichen Arealen des Gehirns verarbeitet. Vereinfacht sind drei «Hotspots» im Gehirn für unterschiedliche Aspekte dieser Integration zuständig. Die kurzfristig von Mahlzeit zu Mahlzeit operierenden gastrointestinalen Signale werden im Nucleus tractus solitarii (NTS) im verlängerten Mark verarbeitet (Abbildung). Adipositassignale wie Leptin wirken insbesondere auf den Hypothalamus, wo gut charakterisierte Neuropeptidsysteme die Information über die gespeicherte Energie verarbeiten und mit anderen energieverbrauchenden Prozessen (z.B. Wach-SchlafRhythmus, Fortpflanzung, Thermoregulation) koordinieren. Die Modulation der mahlzeitbezogenen Signale erfolgt über absteigende Projektionen vom Hypothalamus zum NTS. Diese Vorgänge bilden den Kern der «homöostatischen» Steuerung der Nahrungsaufnahme. Die hedonische Bewertung der mit dem Essen einhergehenden Sinneseindrücke erfolgt im Vorderhirn beziehungsweise in Arealen des limbischen Systems (Abbildung). Homöostatische und hedonische Steuerung der Nahrungsaufnahme sind eng miteinander verknüpft. Wenn man lange Zeit nichts gegessen hat und richtig hungrig ist, schmeckt alles gut. Dies hängt damit zusammen, dass nach längerer Nahrungskarenz die Leptinspiegel im Blut niedrig und die Ghrelinspiegel hoch sind, was bei Kontakt mit Nahrung rasch das Belohnungssystem im Gehirn, insbesondere dopaminerge Schaltkreise, aktiviert, womit jede Nahrung attraktiv erscheint. Ohne weiter ins Detail zu gehen, sei hier nur darauf verwiesen, dass bei älteren Menschen die sensible Balance zwischen Neurotransmittersystemen, welche die Nahrungsaufnahme stimulieren (z.B. NPY, AgRP und endogene Opioide), sowie Neurotransmittersystemen, welche die Nahrungsaufnahme hemmen (z.B. CART, CRF
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und alpha-MSH), zugunsten der Letzteren verschoben ist (Kasten) (9). Wie oben erwähnt, könnte das durchaus mit Veränderungen in der Wirkung von Leptin oder auch Ghrelin zusammenhängen.
Rolle von Zytokinen
Die von Mikrobenbausteinen induzierten proinflammatorischen Zytokine sind als endogene Mediatoren der Infektionsabwehr bekannt. Viele Zytokine wirken auch auf das Gehirn (z.B. Fieberinduktion) und vermitteln auf diese Weise nicht nur die klassischen Abwehrreaktionen des Organismus, sondern auch die Inappetenz bei vielen Krankheiten. Für sich allein geringfügige Krankheiten und Gebrechen bei Betagten lösen oft subklinische Entzündungsreaktionen aus, die in ihrer Summe auch zu einer vermehrten Zytokinproduktion führen. Da Zytokine einen ausgeprägten verzehrshemmenden Effekt besitzen, dürften sie auch für die Inappetenz bei Betagten eine Rolle spielen (10). Zusätzlich tragen sie wegen ihres proteolytischen Effekts auf die Muskulatur wahrscheinlich auch zu der im Alter auftretenden Sarkopenie bei. Der Hemmeffekt von Zytokinen auf die Testosteronsekretion bei Männern dürfte dies noch verstärken.
Perspektiven
Wegen der vielfältigen und sehr komplexen Ursachen der Inappetenz bei Betagten kann eine Besserung eigentlich nur über eine interdisziplinäre Strategie angestrebt werden. Dazu gehört die Aufklärung der betroffenen Personen über die pathophysiologischen Zusammenhänge und die Ermutigung zum Essen, zusätzlich zu allenfalls notwendiger eingehender psychologischer Betreuung. Eine Verbesserung der Schmackhaftigkeit von Speisen dürfte in einigen Fällen ebenfalls helfen. Angebracht ist ferner eine Erhöhung des Energiegehalts der Essportionen beziehungsweise eine Erhöhung der Nährstoffdichte, damit es selbst bei vorzeitig einsetzender Sättigung oder
Völlegefühl nicht zu einem ausgeprägten Energiedefizit beziehungsweise zu Nährstoffmangelzuständen kommt. Hilfreich kann auch sein, im Falle von für Erkrankungen notwendigen Medikationen (antiinfektiöse Therapie, Chemotherapie etc.) Aversionsreaktionen nach Möglichkeit auszuschliessen oder ihre negativen Auswirkungen zu minimieren. Leider muss man sagen, dass die bisherigen Ansätze, dem Appetitverlust im Alter mit medikamentösen Behandlungen zu entgegnen, nicht sehr ermutigend waren. Die einzige Ausnahme diesbezüglich sind vielleicht Fälle, an denen Depressionen massgebend beteiligt sind und die dementsprechend auf Antidepressiva ansprechen.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. em. Wolfgang Langhans Labor für Physiologie und Verhalten Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie ETH Zürich Schorenstrasse 16 8603 Schwerzenbach E-Mail: wolfgang-langhans@ethz.ch
Literatur: 1. Eggersdorfer M et al.: Hidden Hunger: Solutions for America's Aging Populations. Nutrients, 2018. 10 (9). 2. Wysokinski A et al.: Mechanisms of the anorexia of aging-a review. Age (Dordr), 2015. 37(4): p. 9821. 3. MacIntosh C, Morley JE, Chapman IM: The anorexia of aging. Nutrition, 2000. 16(10): 983–995. 4. Hetherington MM: Taste and appetite regulation in the elderly. Proc Nutr Soc, 1998. 57(4): 625–631. 5. Kirchner H, Heppner KM, Tschop MH: The role of ghrelin in the control of energy balance. Handb Exp Pharmacol, 2012 (209): 161–184. 6. Morley JE: Peptides and aging: Their role in anorexia and memory. Peptides, 2015. 72: 112–118. 7. Rosenbaum M, Leibel RL: 20 years of leptin: role of leptin in energy homeostasis in humans. J Endocrinol, 2014. 223 (1): T83–96. 8. Balasko M et al.: Leptin and aging: Review and questions with particular emphasis on its role in the central regulation of energy balance. J Chem Neuroanat, 2014. 61–62: 248–255. 9. Morley JE: Anorexia of ageing: a key component in the pathogenesis of both sarcopenia and cachexia. J Cachexia Sarcopenia Muscle, 2017. 8(4): 523–526. 10. Yeh SS, Schuster MW: Geriatric cachexia: the role of cytokines. Am J Clin Nutr, 1999. 70 (2): 183–197.
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