Transkript
BUCHREZENSION
Von der Seuchenpolizei zu Public Health
Öffentliche Gesundheit in der Schweiz seit 1750
Darf der Staat zur Erhaltung der Gesundheit oder des physischen Wohls der Staatsbürger in deren Privatsphäre eingreifen? Diese Frage entstand nicht erst in jüngster Zeit: Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte sich ein Basler Grossrat in einer Ausgabe des Blattes «Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege» mit dieser Frage auseinander. Um die Antwort vorwegzunehmen: Der Staat musste oftmals eingreifen – wann und wo, zeigt das vorliegende Buch anhand von Beispielen. Zu den Autorinnen: Brigitte Ruckstuhl ist Historikerin und arbeitet als Public-Health-Expertin im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention. Elisabeth Ryter hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert und legt als freischaffende Sozialwissenschaftlerin ihre Schwerpunkte auf Bildung, Gleichstellung und Soziales. Öffentliche Gesundheit (oder Public Health) als soziales und politisches Konzept hat die Gesundheit einzelner Bevölkerungsgruppen oder der gesamten Bevölkerung im Blick. Staatliche, zivilgesellschaftliche oder private Akteure ergreifen Massnahmen zur Sicherung der Krankheitsversorgung, zur Prävention von Krankheiten und zum Schutz und zur Förderung von Gesundheit. Das vorliegende Buch zeigt, wie sich innerhalb der letzten knapp 270 Jahre in Bund, Kantonen und Kommunen die Strukturen für die öffentliche Gesundheit entwickelt haben, welche Pro-
blemstellungen dafür auslösend waren und wie sich die Schwerpunkte im Laufe der Zeit veränderten. Die Autorinnen bieten ein Kaleidoskop mit vielen Facetten aus unterschiedlichen Quellen: Als Zeitdokumente lassen sie Fotografien, Plakate, Gesetzestexte, Zitate, Regeln und vieles mehr für sich sprechen, welche zum Beispiel die sozialen Bedingungen, den medizinischen Stand, prägende Persönlichkeiten und das gesundheitliche Pflichtenheft unterschiedlicher Berufe abbilden. Das Bildmaterial ist prägnant beschrieben und bietet, zusätzlich zum Lauftext, viele interessante Informationen. Es lassen sich eindrückliche Beispiele dafür finden, dass Ernährung und öffentliche Gesundheit von der Aufklärung bis heute immer zusammengehört haben: Ein neues Deutungsmuster jenseits kirchlicher Vorstellung von Gesundheit, Körper und Krankheit Mitte des 18. Jahrhunderts förderte das Verständnis einer Lebensführung auf der Grundlage der Diätetik. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet die Hygiene Eingang in die Gesetzgebung. Schulhygiene und damit schulärztliche Dienste mit schulärztlichen Reihenuntersuchungen, Inspektion der Schulhäuser auf Hygiene, aber auch eine Pausen- und Mittagsverpflegung für Kinder der ärmeren Bevölkerung wurden eingeführt. Aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit (damals 20% der Säuglinge; Todesursache zu 70–80% MagenDarm-Störungen) und der Ängste um die kommende Leistungsfähigkeit der Schweiz um die darauffolgende Jahrhundertwende wurden
Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter (2017). Von der Seuchenpolizei zu Public Health. Öffentliche Gesundheit in der Schweiz seit 1750. Chronos Verlag Zürich. 344 Seiten, 176 Abb. 12 Grafiken. Fr. 42.–. ISBN 978-3-0340-1388-8
Wasserqualität und mangelhafte/ungeeignete Ernährung ins Blickfeld gerückt und die Ernährungsaufklärung und die Stillpropaganda bei Müttern systematisiert; die Entwicklung der Säuglingsnahrungsindustrie begann. Fazit: Das Buch ist eine wertvolle Grundlage für alle in der Gesundheit tätigen Fachleute. Es fördert für Ernährungsfachkräfte das Bewusstsein, dass der Fachbereich Ernährung in die öffentliche Gesundheit eingebettet ist, und verschafft einen Einblick «back to the roots».
Isabel Zihlmann Ernährungswissenschaftlerin, MPH 5213 Villnachern
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4|2018 33