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BERICHT
Update klinische Ernährung: Von GERD bis zur «Wundertüte» aus dem Netz
Das diesjährige Update zur klinischen Ernährung war ein inhaltlich bunt gemischtes Potpourri. Experten stellten neue Erkenntnisse über die Ernährung beim Kind und Erwachsenen vor. Besondere Sorgen lösten die «Wundertüten aus dem Internet» aus. Denn Nahrungsergänzungen und Schlankheitspillen aus dem Netz enthalten oftmals nicht deklarierte gesundheitsschädliche Substanzen, deren Einnahme auch tödlich enden kann.
Annegret Czernotta
Gastroösophagealer Reflux (GERD) beim Kind
Bei der Refluxerkrankung führen verschiedene Faktoren zu einem pathologischen Reflux von Mageninhalt in den Ösophagus: Dazu zählen die Inkompetenz des unteren Ösophagussphinkters oder externe Faktoren wie Medikamente oder ein erhöhter intraabdomineller Druck. Das kann zu Beschwerden wie Husten, Heiserkeit, zu Zahnschmelzdefekten, einem Mittelohrerguss, Schmerzen und Unruhe bis hin zu einer Entzündung der Ösophagusschleimhaut führen. Sodbrennen und retrosternale Schmerzen treten in der Regel erst ab dem Jugendalter auf. Säuglinge haben sehr häufig einen Reflux: Bis zum 4. bis 5. Lebensmonat «gütscheln» sie
Update en nutrition clinique: du GERD jusqu’à la «pochette surprise» sur Internet
Mots-clés: reflux – alimentation postopératoire – produits de lifestyle – Internet– consommation de sel – boissons sucrées
Lors de cet Update, des experts ont présenté de nouvelles acquisitions concernant l’alimentation chez l’enfant et chez l’adulte. Les «pochettes surprise» qu’on peut se procurer sur Internet suscitent bien des inquiétudes. En effet, les compléments alimentaires et les pilules miracle pour maigrir qu’on trouve sur Internet contiennent souvent des substances non déclarées nocives pour la santé dont la prise peut parfois avoir une issue fatale.
physiologisch bedingt nach etwa der Hälfte aller Mahlzeiten. Allerdings produzieren sie im Vergleich zum Erwachsenen deutlich weniger Magensäure. So ist die maximale Säureproduktion am 1. Lebenstag mehr als 100-fach geringer als beim Erwachsenen, im 4. Lebensmonat mehr als zehnfach geringer und erst ab dem 2. Lebensjahr erreicht das Kleinkind ein «Erwachsenenniveau» in der Säureproduktion. Die Ursache für das «Gütscheln» ist eine unkoordinierte Relaxation am unteren Sphinkter. «Der zur falschen Zeit immer mal wieder aufmacht», so Prof. Henrik Köhler, Chefarzt und Klinikleiter der Klinik für Kinder und Jugendliche am Kantonsspital Aarau. Aufgrund des häufigen Gütschelns ist es manchmal schwierig herauszufinden, was beim Säugling noch normal ist oder bereits pathologisch, ergänzte Prof. Köhler. Auf ein krankhaftes GERD, welches beim Säugling insgesamt selten ist, weisen allerdings Fütterungsstörungen, Gedeihstörungen, eine Hämatemesis oder auch unerklärbares Schreien hin. In den USA wurden wegen der GER-Symptomatik beim Säugling zwischen 2002 und 2009 elfmal mehr Protonenpumpeninhibitoren (PPI) verschrieben als in den Jahren vorher, «obwohl ein klinischer Effekt in keiner Studie messbar gewesen ist!», so Prof. Köhler (Chen et al., JPGN 2012). Sinnvoller als PPI sind laut dem Experten eine kurzeitige postprandiale Lagerung auf die linke Seite (Prävention eines plötzlichen Kindstodes muss beachtet werden!), zudem sollte die Nahrungseinnahme angepasst erfolgen: «Grosse Mahlzeiten führen zu einer verstärkten Relaxation des Ösophagussphinkters, deshalb sind kleine Mahlzeiten günstiger, al-
lenfalls kann die Milch angedickt werden.» Eine weitere Ursache für GERD kann die Kuhmilchallergie sein. Wenn die Symptome beim Säugling unter einer allergenarmen Diät der stillenden Mutter verschwinden, sollte die Mutter diese Diät weiter einhalten. Sollten die Symptome beim Baby unter Allergenkarenzdiät jedoch sistieren, soll auf eine extensiv hydrolisierte Formula (eHF) oder eine Aminosäuren-Formula (AAF) umgestellt werden. Bestehen die Symptome auch dann noch, kann ein Versuch mit PPI über 4 bis 8 Wochen gestartet werden (Abbildung). Insgesamt sollte sich der physiologische gastroösophageale Reflux ab dem 6. Lebensmonat bessern und bis zum Ende des 18. Lebensmonats verschwunden sein. «Ohne Besserung der Symptome muss immer auch an die Differenzialdiagnostik gedacht werden», hielt Prof. Köhler abschliessend fest.
Ernährung postoperativ
Für Diskussionen sorgt auch immer wieder die Frage nach der postoperativen Ernährungstherapie, so Karin Schärer, Ernährungsberaterin am Kantonsspital Aarau. Laut Guidelines soll der orale Ernährungsaufbau in Abhängigkeit von der Operation so früh wie möglich oral erfolgen. Denn eine frühe postoperative orale Ernährung ist assoziiert mit signifikant tieferer Komplikationsrate, reduzierter Mortalität, verkürzter Spitaldauer, schneller Wiederaufnahme der Darmtätigkeit und reduzierter Anastomoseninsuffizienz, Wiederaufnahme der Darmtätigkeit und reduziertem Auftreten von Anastomoseninsuffizienz. «Es gibt jedoch keine konkreten Empfehlungen, was unter einem schnellen Kostaufbau verstanden wird und wie dieser genau aussehen soll. Dies erschwert das Erstellen von einheitlichen Richtlinien innerhalb der Spitäler», hielt die Ernährungsberaterin fest.
Wundertüten aus dem Internet
Dr. phil nat. Brigitte Morand, Apothekerin am Kantonsspital Aarau, warnte vor Lifestyle-Produkten und Medikamenten aus dem Internet. «Da unklar ist, wie die Produkte hergestellt
26 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2018
BERICHT
Abbildung: Algorithmus Säugling mit Verdacht auf GERD
Prozedere fortführen
KM nach 3 Monaten wieder einführen
Erneute Probleme: kuhmilchfrei bis 12 Monate
V.a GERD ohne Red Flags (Beginn > 6 Monate, Bluterbrechen, Neurologie etc.)
• Überfütterung vermeiden
• Nahrung andicken
*extensiv hydrolisierte Formula (eHF) oder eine AminosäurenFormula (AAF)
Kuhmilchfrei stillen oder EHF/AAF*
Protoneninhibitoren 4–8 Wochen
Kleine Besserung Differenzialdiagnose
wurden und welche Inhaltstoffe diese haben, entpuppen sich solche Angebote oftmals als lebensgefährliche Wundertüte», so Dr. Morand. «Li Da Daidaihua», eine Nahrungsergänzung, enthält beispielsweise (nicht auf der Verpackung deklariertes) Sibutramin, ein Wirkstoff, der in der Schweiz aufgrund von schwerwiegenden Nebenwirkungen, unter anderem Herzrhythmusstörungen und Blutdruckerhöhung, nicht mehr zugelassen ist. Als rein pflanzlich angepriesene Mittel enthalten immer wieder Amphetamine, Benzodiazepine und Diuretika. Die WHO schätzt den Anteil gefälschter Medikamente im Internet auf 50 Prozent und es kommt zu jährlich mindestens 200 000 Toten durch die gefälschten Medikamente und Lifestyle-Produkte, unter anderem auch in Folge von Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten!
Fleisch, Salz und Zucker – alles ungesund?
Prof. Ulrich Keller, Universität Basel, ging zunächst auf die Schwierigkeiten in Bezug auf die Auswertung und Einordnung von Ernährungsstudien ein. Für Verwirrung sorge beispielsweise, dass bei Studien der Fokus oftmals auf Surrogatmarkern wie Cholesterin oder dem Blutzucker liegen würde statt auf der Krankheitsinzidenz oder der Mortalität. Zudem werden häufig einzelne Nährstoffe wie Fette oder Kohlenhydrate untersucht, statt auf Ernährungsmuster und auf einzelne Nahrungsmittel einzugehen. Dadurch entstehe grosse Verwirrung, so der Endokrinologe und Diabetologe. So wurde in den 1980er-Jahren Cholesterin verteufelt und vor dem Verzehr von Eiern und Butter gewarnt. Im 2014 hiess es dann plötzlich, es sei gesund, Butter zu es-
sen. Schaut man sich die gesundheitlichen Aspekte des Fleischkonsums an, dann nimmt die Sterblichkeit bei steigendem Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch laut Resultaten einer Metaanalyse von Larsson SC et al. 2014 zu – insbesondere aber beim Verzehr von verarbeitetem Fleisch. Mögliche Erklärungen dafür sind das Hämeisen im roten Fleisch, dass potenziell atherosklerose-, diabetes- und krebsfördernd wirkt, zudem das Pökelsalz mit vielen Nitriten, die Räucherung, die Benzpyrene erzeugt und Phosphatidylcholin, Cholin und L-Canritin, die im Darm von Bakterien abgebaut werden. Allerdings, sagte Prof. Keller, ist Fleisch auch eine wertvolle Quelle von Proteinen, Vitaminen und von Spurenelementen. Drei Fallberichte von Kleinkindern mit sich vegan ernährenden Müttern wiesen beispielsweise einen schweren Vitamin-B12-Mangel auf. Dies führte bei den Kindern zu schweren Wachstums- und Entwicklungsstörungen, Hirnatrophie und so weiter. Gesundheitliche Risiken gehen demnach auch immer mit der Frage nach der konsumierten Menge einher. Es komme auf eine ausgeglichene Ernährung an, so der Experte. Beim Salz lautet die Salzstrategie des Bundes (2013), dass nicht mehr als 8 g und längerfristig nicht mehr als 5 g Salz täglich konsumiert werden sollen. Denn hoher Salzkonsum ist mit einem Risiko für Hypertonie assoziiert. Weltweit nimmt die kardiovaskuläre Mortalität durch den zu hohen Salzkonsum zu, obwohl die Reduktion von Salz in Fertigprodukten leicht umsetzbar sei, hielt Prof. Keller fest. Hoher Zuckerkonsum wiederum hat negative metabolische Konsequenzen. Die PURE-(Prospective-Urban-Rural-Epidemiology-)Studie zeigt, dass eine hohe Kohlenhydratzufuhr mit einem höheren Risiko für Mortalität und Morbidität assoziiert ist. Im Rahmen der Studie ha-
ben Forscher die Ernährungsgewohnheiten von mehr als 135 000 Menschen auf fünf Kontinenten über durchschnittlich 7,5 Jahre ausgewertet. Das niedrigste Mortalitätsrisiko hatten jene, die drei bis vier Portionen Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchte pro Tag assen. Grössere Mengen hatten letztlich nur einen geringfügigen zusätzlichen gesundheitlichen Vorteil. Darüber hinaus berichteten die Forscher in dieser Studie über eine geringere Sterblichkeit bei Menschen, die mehr Fett zu sich nahmen. Menschen, die sich zu etwa 35 Prozent von Fett ernähren – egal ob gesättigt oder ungesättigt, hatten ein um 23 Prozent geringeres Mortalitätsrisiko als jene, die nur 11 Prozent Fett zu sich nahmen. Allerdings hatten Menschen, die mehr Fett assen, auch einen höheren Lebensstandard (mehr Einkommen und Bildung, bessere medizinische Versorgung), und es ist gut möglich, dass sie deshalb eine geringere Mortalität hatten, hielt Prof. Keller fest. Welche Gefahren der Zusatz von Zucker, beispielsweise in Süssgetränken hat, zeigt eine Studie von Mozzaffarian (2011). Süssgetränke waren in der Studie zu 20 Prozent Schuld an der Gewichtszunahme von amerikanischen Kindern in der Zeit zwischen 1997 und 2007. Mittlerweile sind die Konsequenzen von zu hoher Zuckerzufuhr allgemein anerkannt. Allerdings, so Prof. Keller, ist die mächtige Zucker produzierende Industrie und die Landwirtschaftspolitik gegen eine Beschränkung, und es gibt auch ein Lobbying von Parlamentariern. Obwohl die WHO weniger zugesetzten Zucker empfiehlt, ist die Einführung einer Softdrinktax in vielen Ländern umstritten und zurzeit in der Schweiz wohl politisch nicht umsetzbar.
Quelle: Update klinische Ernährung vom 8. März 2018 im Kantonsspital Aarau.
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