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ERNÄHRUNG UND DEMENZ
Demenz: Ernährungsprobleme, Lösungsansätze und ernährungstherapeutische Massnahmen
Chantal Coenegracht, Fiona Hess, Fabienne Schaller
Durch die steigende Lebenserwartung und die wachsende Zahl älterer Menschen in der Schweiz steigt die Zahl der an Demenz betroffenen Menschen. Diese haben ein erhöhtes Risiko für eine Malnutrition im Vergleich zu ihrer Altersgruppe. Der Beitrag geht auf die verschiedenen Ernährungsprobleme, deren Lösungsansätze sowie ernährungstherapeutische Massnahmen bei Menschen mit Demenz näher ein.
Einleitung
Demenz ist ein Syndrom als Folge einer chronisch
progredienten Erkrankung des Gehirns. Die Be-
einträchtigung der kognitiven Funktion ist üblicher-
weise begleitet von einer Verschlechterung der emo-
tionalen Kontrolle, des sozialen Verhaltens und der
Motivation (1).
In der Schweiz leben schätzungsweise über 148 000
Menschen mit einer Demenz. Das Risiko, daran zu er-
kranken, verdoppelt sich nach dem 60. Lebensjahr alle
fünf Jahre. Aufgrund der immer älter werdenden Ge-
sellschaft gehen Hochrechnungen davon aus, dass sich
bis ins Jahr 2040 ihre Anzahl verdoppeln wird (2).
Bei einer leichten Demenz kommt es zu kognitiven
Beeinträchtigungen, ersten Schwierigkeiten in All-
tagsaktivitäten sowie zur Beeinträchtigung der zeitli-
chen und örtlichen Orientierung. Ein selbstständiges
Leben zu Hause ist aber noch weitgehend
möglich.
Démence: problèmes d’alimentation, possibilités de solutions et mesures thérapeutiques nutritionnelles
Im Stadium einer mittelschweren Demenz werden einfache Tätigkeiten beibehalten, während komplexere Handlungsabläufe nicht mehr vollständig oder unangemessen ausgeführt werden können. Orientie-
Mots-clés: besoins en énergie et en nutriments – suppléments – problèmes dentaires – dysphagie – refus de s’alimenter – composition des repas
rungslosigkeit und Sprachstörungen nehmen zu. Ein unabhängiges Leben ist nicht mehr möglich und die Betroffenen benötigen täglich Hilfe. Eine schwere Demenz ist gekennzeichnet
Les personnes atteintes de démence présentent un risque de malnutrition élevé par rapport à leur groupe d’âge. L’article aborde plus à fond les divers problèmes d’alimentation et les possibilités de solutions ainsi que les mesures thérapeutiques nutritionnelles chez les personnes souffrant de démence.
von starken Einbussen der intellektuellen Fähigkeiten, von Sprachverlust, Erkennungsstörungen, Unruhe, Störung des Tag-Nacht-Rhythmus sowie von Inkontinenz. Gedankenvorgänge werden nicht mehr nachvollziehbar kommuniziert, und die Demenzbetroffenen sind stark pflegebedürftig (3, 4).
Trotz intensiver Forschung gibt es bis heute kein Medikament, welches Demenzerkrankungen heilen, stoppen oder verhindern könnte. Die Behandlung von Menschen mit Demenz zielt deshalb primär darauf, den Verfall der kognitiven Fähigkeiten zu verlangsamen, die Selbstständigkeit und Lebensqualität zu verbessern sowie die Begleitsymptome der Erkrankung zu mildern (5, 6).
Energie- und Nährstoffbedarf
Energie: Man geht davon aus, dass sich der Energiebedarf bei Dementen vor allem durch die verschiedenen Aktivitätslevel beziehungsweise die unterschiedliche Schlafdauer (Phasen der Inaktivität) unterscheidet. Bei fronto-temporaler Demenz wird auch ein Zusammenhang zwischen erhöhter Herzfrequenz und gesteigertem Energiebedarf vermutet (7, 8). Den Grundumsatz berechnet die Ernährungsberatung üblicherweise mit einer Formel (z.B. HarrisBenedict-Formel), da die Durchführung einer indirekten Kalorimetrie häufig nicht möglich ist (Tabelle 1). Protein: Zurzeit gibt es keine Empfehlungen für die Proteinaufnahme für Menschen mit Demenz. Die DGEM-Leitlinie klinische Ernährung in der Geriatrie empfiehlt, die Aufnahme von 0,8 bis 1,2 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag (kg KG/Tag) bei allen älteren Personen zu gewährleisten (9). Bauer et al. (2013) empfehlen bei älteren Erwachsenen mit einer akuten oder chronischen Erkrankung eine Steigerung des Proteinbedarfs auf 1,2 bis 1,5 g Protein kg KG/Tag (10). Diese Empfehlungen lassen sich jedoch nur bedingt auf demente Patienten übertragen, da nicht alle dementen Personen geriatrisch sind (9). Fettsäuren: Es bestehen keine Empfehlungen zur Aufnahme bestimmter Fettsäuren bei Personen mit Demenz. In Studien konnte weder durch Omega-3-
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Fettsäuren- noch MCT-Supplementierung (Middle Chained Fatty Acids) eine Verbesserung der kognitiven Einschränkung oder der Prävention eines weiteren kognitiven Abbaus bei Dementen gezeigt werden (11). Flüssigkeit: Der Flüssigkeitsbedarf von Personen mit Demenz unterscheidet sich nicht von gesunden Personen (ca. 30 ml/kg KG). Im Falle einer akuten Erkrankung muss die Flüssigkeitsgabe als «lebenserhaltende» Massnahme mit den Patienten, den Angehörigen und im interdisziplinären Team abgesprochen werden. Mikronährstoffe: Zum Einfluss von Mikronährstoffen bei Demenz wird viel geforscht. Ergebnisse gibt es dazu nur wenige. Als vermutete Risikofaktoren für die Entstehung einer Demenz gelten niedrige Vitamin-BSpiegel (B6, B12, Folsäure) sowie zu tiefe Werte an Vitamin A, C, E, D oder eine Hyperhomocysteinämie (12). Auch zu tiefe beziehungsweise zu hohe Serummagnesiumspiegel können mit einem erhöhten Demenzrisiko einhergehen (13). Derzeit können keine Empfehlungen einer generellen Mikronährstoffsupplementation zur Korrektur des kognitiven Abbaus gegeben werden. Ausgenommen hiervon ist die Behebung manifester Mängel (explizit Vitamin-DMangel) (11). Die Autorinnen empfehlen, die gesamte Ernährungssituation von Menschen mit Demenz zu berücksichtigen. Bei einer zu geringen Nahrungsaufnahme sollte nicht nur die Makronährstoffaufnahme, sondern auch die Versorgung mit Mikronährstoffen beachtet werden. Auch eine kritische Hinterfragung von diversen Supplementen sollte regelmässig geschehen, um einen Überschuss an Vitaminen und Mineralstoffen zu vermeiden.
Ernährungsprobleme
Malnutrition: Menschen mit einer Demenz haben ein erhöhtes Risiko für eine Malnutrition im Vergleich zu ihrer Altersgruppe. Gewichtsverlust und Mangelernährung sind häufige Folgen einer Demenz und werden mit dem Fortschreiten der Erkrankung immer häufiger. Eine Malnutrition wirkt sich negativ auf die Demenz aus und erhöht unter anderem das Risiko für Infektionen, Morbidität und Mortalität (11, 14, 15). Oft lässt sich lange vor der Diagnose ein Gewichtsverlust verzeichnen, welcher deshalb ebenfalls ein Frühzeichen für die demenzielle Entwicklung sein kann (16, 17). Mit zunehmender Demenz steigt die Belastung für betreuende Angehörige, wodurch auch sie häufig an Gewicht verlieren und ebenfalls für eine Malnutrition gefährdet sind (4, 18). Eine Entlastung der Angehörigen scheint sich wiederum positiv auf das Gewicht des dementen Menschen auszuwirken (11, 19). Neben den altersspezifischen Ernährungsproblemen wie frühzeitige Sättigung oder Zahnprobleme, kommen bei einer Demenz weitere Probleme hinzu. Denn kognitive und Verhaltungsänderungen können sich auch auf die Ernährungsgewohnheiten auswirken (15, 20).
Gedächtnisverlust und Nahrungseinnahme
Bei einer leichten Demenz können die kognitiven Defizite zu Problemen beim Einkaufen, bei der Lagerung von Nahrungsmitteln oder beim Kochen führen. So zeigt sich beim Einkaufen, dass zu viel oder zu wenig eingekauft wird, das Finden von Nahrungsmitteln im Laden erschwert ist und die Nahrungsmittelvorräte zu Hause nicht abrufbar sind. Beim Lagern von Nahrungsmitteln wissen Betroffene nicht mehr, wie lange und wo Lebensmittel aufbewahrt werden sollen und ob sie im Kühlschrank gelagert werden müssen. Beim Kochen sind Planungsabläufe erschwert und eingeschaltete Kochplatten gehen vergessen. Mit dem Fortschreiten der Krankheit können selbstständig Wohnende nicht mehr alleine einkaufen und kochen und brauchen dabei täglich Unterstützung. Auch wissen sie manchmal nicht mehr, ob sie bereits gegessen haben. Das kann dazu führen, dass sie ständig essen und stark an Gewicht zulegen. Meist wird das Essen jedoch vergessen, was eine Mangelernährung zur Folge hat. Die im Verlauf der Krankheit verloren gehende Wahrnehmung von Hunger und Sättigung trägt zu übermässigem beziehungsweise zu ungenügendem Essen bei (15, 21). Demente Menschen leben häufig in einer anderen Realität, in einer früheren Lebensphase, in der sie viel gearbeitet haben und viel Verantwortung im Beruf oder in der Familie trugen. Manchmal finden sie des-
Tabelle 1:
Beispiele zur Energiebedarfsberechnung bei älteren Dementen
Beispiel 1 Beispiel 2 Beispiel 3
weiblich, 81-jährig, 155 cm, 40 kg, BMI 16,6 kg/m2, läuft aufgrund ihrer Demenz den ganzen Tag, ist hyperaktiv. männlich, 76-jährig, 190 cm, 75 kg, BMI 20,8 kg/m2, schläft sehr viel, hypoaktiv, Karzinom weiblich, 84-jährig, 170 cm, 110 kg, BMI 38 kg/m2, bettlägrig aufgrund Hüftoperation, leicht dement, nestelt oft im Bett.
Ziel: Gewichtszunahme
Ziel: Gewichtsstabilisierung
Ziel: Gewichtsstabilisation, Vermeidung einer Gewichtszunahme
GU: 1134 kcal (28 kcal/kg KG), AF 1,8, KF 1,0 GU: 1481kcal (20 kcal/kg KG), AF 1,2, KF 1,1 GU: 1902 kcal (17 kcal/kg KG), AF 1,2, KF 1,2
GU = Grundumsatz, AF = Aktivitätsfaktor, KF = Krankheitsfaktor, BMI = Body-Mass-Index
Die Energiebedarfsberechnung erfolgt im Falle von hospitalisierten Patienten mit der Multiplikation des Grundumsatzes mit einem Aktivitäts- sowie einem Krankheitsfaktor. Der Aktivitätsfaktor berücksichtigt den zusätzlich zum basalen Energiebedarf des Körpers entstandenen Bedarf für die körperliche Aktivität. Dieser wird in der Praxis häufig nach Erfahrungswerten (liegende Patienten im Bett = 1,2 bis 1,25; mobile Patienten = 1,3) auf Grundlage der D-A-CH-Referenzwerte (29) und der Angaben der FAO/WHO/UNU (30) berechnet. Die Messung des Aktivitätsfaktors ist mithilfe indirekter Kalorimetrie möglich, jedoch im Alltag kaum umsetzbar, weshalb es hierzu auch nur Schätzdaten anhand der kurzzeitigen Messung einzelner Aktivitäten gibt. Allgemeingültige Massstäbe für hospitalisierte Patienten bestehen nicht. Der Krankheitsfaktor berücksichtigt den Mehrbedarf an Energie, der durch die Erkrankung (z.B. Wundheilung, Immunabwehr) entsteht. Die im Spital verwendeten Krankheitsfaktoren belaufen sich ebenfalls auf Erfahrungswerte. Der Massstab beträgt in der Klinik erfahrungsgemäss 1,0 (komplikationslos, keine akute Erkrankung) bis 1,6 (Sepsis).
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wegen keine Ruhe zum Essen, da zuerst die vermeintliche Arbeit erledigt werden muss. Auch kann es zu einem Vergiftungswahn kommen und das Essen wird abgelehnt. Bei einer fortgeschrittenen Demenz werden Speisen oft nicht mehr als solche erkannt oder nicht Essbares als essbar angesehen (z.B. die Blumendekoration auf dem Esstisch) (20, 21). Demente Menschen können im Verlauf der Erkrankung die Fähigkeit verlieren, mit Besteck umzugehen. Sie greifen mit den Händen ins Essen oder essen gar nicht (21).
Bewegungsdrang und Energiebedarf
Bei vielen Demenzkranken kann ein starker Bewegungsdrang und innerliche Unruhe festgestellt werden; sie laufen den ganzen Tag herum, verschieben Stühle und Möbel oder machen ständig unruhige Be-
Tabelle 2:
Blandford-Scale (adaptiert von Sieber, Kolb, Volkert [15])
Erfassung von problematischem Essverhalten nach Blandford (übersetzt von Kolb, 2007) Ablehnendes Verhalten • Wendet den Kopf ab • Hält die Hände abwehrend vor den Mund • Schiebt das Besteck weg • Schlägt nach den Pflegenden • Wirft mit dem Essen Dyspraxie/Agnosie • Muss verbal zum Essen gedrängt werden • Isst mit den Fingern statt mit dem Besteck • Unfähig, mit Besteck zu essen • Spielt mit dem Essen, ohne es zu essen • Versucht, nicht Essbares zu essen • Läuft während des Essens vom Tisch weg • Beachtet die Nahrung nicht Selektives Verhalten • Verlangt nach besonderem Essen oder lehnt die Nahrung ab • Verlangt nach besonderem Essen, probiert es, beklagt sich und isst nicht weiter • Lehnt mehrere verschiedene Nahrungsmittel ab • Isst geringe Mengen und lehnt weitere Nahrung ab • Bevorzugt flüssige Nahrung (> 50% der Nahrungsaufnahme) • Akzeptiert nur flüssige Nahrung Oropharyngeale Dysphagie • Öffnet den Mund nur bei direktem physischem Kontakt mit dem Löffel • Presst die Lippen fest zusammen • Hält den Mund fest verschlossen und beisst die Zähne zusammen • Ständige Zungen- und Lippenbewegungen verhindern die Nahrungsaufnahme • Nimmt die Nahrung in den Mund und stösst sie wieder aus • Nimmt Nahrung auf, aber schluckt sie nicht • Nimmt Nahrung auf, aber schliesst den Mund nicht; Nahrung fliesst aus dem Mund Pharyngo-ösophageale Dysphagie • Hustet oder würgt bei der Nahrungsaufnahme • Gurgelnde Stimme Abhängigkeit beim Essen • Zeigt wenigstens ein Merkmal gestörten Essverhaltens beim Essen, isst aber selbstständig • Essen muss gelegentlich eingegeben werden • Isst nur, wenn das Essen eingegeben wird
wegungen. Auch Schreien, Stöhnen und Schimpfen als Äusserungen des Gemütszustandes erfordern Energie. Diese zusätzliche körperliche Aktivität führt zu einem erhöhten Energiebedarf, welcher sich bis zum Doppelten des Bedarfs eines gesunden Gleichaltrigen belaufen kann (20, 22).
Zahnprobleme und Schluckschwierigkeiten
Zahnprobleme im Alter sind häufig und führen zu Schwierigkeiten beim Beissen und Kauen. Das Essen wird anstrengend, die Freude am Essen nimmt ab und es wird weniger und einseitiger gegessen. So fördert eine schlechte Mundgesundheit das Entstehen einer Unterversorgung mit Nährstoffen. Demenzbetroffene haben ein erhöhtes Risiko für Zahnprobleme und Schluckschwierigkeiten; die Mundhygiene wird vergessen und eine zahnärztliche Versorgung gestaltet sich schwierig oder ist gar unmöglich, da die betroffene Person die Behandlung nicht mehr verstehen kann (20). Im Verlauf der Demenzerkrankung entstehen fast immer Probleme mit dem Schlucken. Zunächst muss der betroffene Mensch sich stark konzentrieren, um sich nicht zu verschlucken. Mit der Zeit kann die Dysphagie nicht mehr mit erhöhter Konzentration kompensiert werden und führt zu häufigem Verschlucken und Husten während des Essens. Die Angst davor verringert die Bereitschaft zu essen. Es kann zu Atemnot bis hin zu einer Aspirationspneumonie kommen (20).
Veränderte Sinneswahrnehmung
Essen und Trinken sind wertvolle Sinneswahrnehmungen und Freude am Essen trägt zur Lebensqualität bei. Die Geschmackswahrnehmung von Speisen verläuft über mehrere Sinne: Dabei spielen Aussehen und Präsentation, Schmecken und Riechen, Fühlen von Temperatur und Konsistenz der Speisen eine Rolle. Während die Sehkraft im Alter generell schlechter ist, kann die geringere Interpretationsfähigkeit dazu führen, dass das Essen nicht mehr erkannt wird. Auch der Geruchssinn vermindert sich normalerweise mit dem Älterwerden, es gibt aber Hinweise, dass dieser Rückgang bei Demenzerkrankten ausgeprägter ist (17). Manche dementen Personen können die Temperatur des Essens nicht mehr beurteilen und es besteht die Gefahr, dass sie sich am Essen verbrennen. Typisch für Demente ist weiter die häufig auftretende Abneigung für saure, salzige und bittere Lebensmittel. Sehr oft bevorzugen demente Personen süsse Speisen, was auch die praktische Erfahrung der Autorinnen zeigt (21, 23).
Ablehnendes Essverhalten und Nahrungsverweigerung
Menschen mit fortgeschrittener Demenz lehnen oftmals Essen und Trinken ab, indem sie den Kopf weg-
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drehen, den Mund geschlossen halten oder das eingegebene Essen wieder ausspucken. Da schwer demente Menschen sich oft nicht mehr mitteilen können, ist es schwierig, die Gründe für die Ablehnung zu erörtern. Dann sollte als erster Schritt das problematische Essverhalten analysiert und mögliche Intervention bestimmt werden. Es gibt dazu standardisierte und validierte Fragelisten, wie zum Beispiel die Edinburgh Feeding Evalution in Dementia Scale (EdFED) oder die Blandford-Scale (20). Die Blandford-Scale (Tabelle 2) wurde von Kolb (2007) auf Deutsch übersetzt, aber noch nicht in der deutschen Sprache validiert (15, 24).
Abschätzung des Ernährungszustandes
Menüpläne und Zubereitungsabläufe aufgestellt werden, welche zum Beispiel in der Küche am Kühlschrank aufgehängt werden. Einen Mahlzeitendienst, welcher das Essen nach Hause liefert, ist eine weitere Möglichkeit zu einer ausgewogenen Ernährung und entlastet den Betroffenen vom komplexen Ablauf der Mahlzeitenzubereitung. Ferner kann an einem Mittagstisch eine warme Mahlzeit in Gesellschaft eingenommen werden. Dies stellt eine gute Alternative zum selbstständigen Kochen dar, vor allem wenn die Gefahr einer sozialen Isolation oder das Vergessen der Nahrungsaufnahme besteht. Manchmal kann ein Anruf zur Erinnerung an den Mittagstisch kurz vorher (z.B. durch die Angehörigen) hilfreich sein.
Um den Ernährungszustand und das Risiko für eine Mangelernährung einschätzen zu können, gibt es verschiedene Screening-Instrumente. In der Schweiz sind der MNA-SF (Mini Nutritional Assessment Short Form) in Alters- und Pflegheimen und der NRS-2002 (Nutritional Risk Screening) in den Spitälern die bekanntesten Screening-Instrumente. In der Geriatrie gilt der MNA-SF als Goldstandard. Ein Screening auf Mangelernährung soll im geriatrischen Setting durch medizinische Fachkräfte in Allgemeinpraxen, bei stationärer Aufnahme ins Spital oder bei Eintritt ins Pflegeheim routinemässig durchgeführt und in regelmässigen Abständen wiederholt werden (Tabelle 3) (9). Sie ermöglichen, die Situation individuell anzugehen. Die Lösungsansätze verfolgen das Ziel, den Ernährungszustand zu erhalten beziehungsweise zu verbessern und dadurch zu einer bestmöglichen Funktionalität, Aktivität und Rehabilitationsfähigkeit beizutragen. Die Erhaltung der Freude an Essen und Trinken ist ein zentraler Aspekt, der zur Lebensqualität beiträgt.
Lösungsansätze für Ernährungsprobleme bei Demenz
Weil die Ernährungsprobleme so unterschiedlich wie die Menschen selber sind, empfehlen wir, jede Situation individuell anzugehen. Die Lösungsansätze verfolgen das Ziel, den Ernährungszustand zu erhalten beziehungsweise zu verbessern und dadurch zu einer bestmöglichen Funktionalität, Aktivität und Rehabilitationsfähigkeit beizutragen. Die Erhaltung der Freude an Essen und Trinken ist ein zentraler Aspekt, der zur Lebensqualität beiträgt.
Lebensmitteleinkauf, Zubereitung und Planung
Wenn selbstständig wohnende Demenzbetroffene Probleme mit dem Einkaufen und Kochen haben, können verschiedene Strategien dazu beitragen, die Defizite zu kompensieren. So ist es empfehlenswert, eine Agenda zu führen, worin mithilfe von Angehörigen eingeschrieben werden kann, wann, was und wo man einkaufen gehen soll. Auch können gemeinsam
Essensumgebung und Mahlzeitengestaltung
Auch wenn demente Menschen sich oft nicht mehr dazu äussern können, wird die Gestaltung ihrer Essensumgebung zur Verbesserung eines problematischen Essverhaltens und Erhöhung der Nahrungsaufnahme für wichtig angesehen (20). Eine demenzgerechte Essensumgebung bedeutet, dass das Essen in einem ruhigen Raum, in entspannter Atmosphäre ohne Hektik und Zeitdruck eingenommen wird. Wenn der Essensablauf selber Mühe bereitet, sollten Hilfsmittel wie ein Tellerrand oder spezielles Besteck zur Verfügung stehen (23). Unabhängig davon, ob die demenzbetroffene Person selbstständig isst oder das Essen eingegeben wird, kann für eine Mahlzeit bis zu einer Dreiviertelstunde benötigt werden (20). In Institutionen, in denen die Bewohner gemeinsam mit den Betreuenden essen und unterstützt werden, scheint die Nahrungsaufnahme höher zu sein (25). Ferner ist eine gute Beleuchtung im Speisesaal äusserst wichtig. Farbige Kontraste zwischen Tischdecke, Geschirr und Speisen helfen, zwischen Geschirr und Nahrung zu unterscheiden (z.B. Sirup im durchsichtigen Glas anstelle von Wasser). Dabei ist weniger oft mehr; der Tisch sollte einladend, ohne viele Gegenstände und übersichtlich gestaltet werden. Nicht
Tabelle 3:
Screening-Instrumente im Vergleich
MNA-SF
NRS-2002
Mini-Nutritional-Assessment Short-Form Nutritional-Risk-Screening
Goldstandard in der Geriatrie
Goldstandard für das Spital
Einfach, patientengruppenorientiert, billig,
Billig, schnell durchführbar und validiert
schnell durchführbar und validiert
Berücksichtigt Immobilität sowie neuro-
Stressmetabolismus wird berücksichtigt.
psychologische Probleme wie eine leichte
> 70-Jährige erhalten einen zusätzlichen Punkt.
beziehungsweise schwere Demenz oder
Depression.
Je nach Anzahl erreichter Punkte wird zwischen 3 oder mehr Punkte bedeuten eine
einem normalen Ernährungszustand (12–14), manifeste Mangelernährung oder ein Risiko,
einem Risiko für eine Mangelernährung (8–11) eine Mangelernährung zu entwickeln.
und einer Mangelernährung (0–7) unterschieden. Bei > 3 Punkten ist eine Ernährungstherapie indiziert.
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auf den Tisch gehören (giftige) Blumen und Servietten mit Abbildungen von Essen, weil sie zu Verwirrung von Essbarem führen könnten (23). Die Mahlzeiten helfen auch, den Tag zu strukturieren und feste Rituale schaffen Orientierung und Sicherheit. Geräusche wie Teller klappern und intensive Gerüche wie von frisch gebackenem Brot oder gebratenem Fleisch regen die Sinne an, machen auf die Mahlzeiten aufmerksam und wecken so möglicherweise das Interesse daran. Auch Hände waschen oder ein Tischgebet können ein Signale darstellen, dass die
Tabelle 4:
Mögliche Vorgehensweise in der Ernährungsberatung von Menschen mit Demenz
Vorbereitung des Gesprächs Setting/Umfeld
Atmosphäre
Tageszeit Inhalt Vermittlungsart/ Kommunikationswege
Kontinuität
• Berücksichtigung des Schweregrades der Demenz (anhand von Mini-Mental-Status und Uhrentest)
• Sozialanamnese: Welche Angehörige sind vorhanden? Spitex, Mahlzeitendienst, Institutionen (Pflegezentren, Tageskliniken)
• Zielsetzung: Welche Ziele setzt die Ernährungsberatung in Rücksprache mit Ärzten, Pflege, Angehörigen?
• In einem ruhigen Raum ohne andere Personen, welche nicht am Gespräch beteiligt sind. Wenig andere Stimuli.
• Vertraute Angehörige, welche den Patienten gut kennen, um Auskunft zu geben und den Patienten bei Bedarf beruhigen zu können.
• Synergien mit Ärzten, Pflege, Küche, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie nutzen (Spitex, Pflege in Klinik).
• Auf den Patienten eingehen • Weiter mit Angehörigen sprechen, wenn der Patient aufstehen möchte
und sich nicht mehr am Gespräch beteiligt. • Immer die Stimmung des Patienten versuchen zu erfassen und zu berück-
sichtigen. • Werte und Selbstständigkeit der Personen versuchen zu erhalten
(Freude am Essen). • Beratungszeitpunkt je nach Tagesrhythmus des Patienten wählen. • In Absprache mit Angehörigen/Betreuenden. • Je nach Ernährungsproblem: Anreicherung von Mahlzeiten, Mahlzeiten-
zusammenstellung, Rhythmus, Zusatznahrung, Gewichtsverlauf (siehe Lösungsansätze für Ernährungsprobleme). • Einfache Fragestellungen mit Ja/nein-Fragen direkt an Patienten richten. • Keine Mehrfachfragen stellen (dies verwirrt, da Demenzkranke Schwierigkeiten haben, sich für etwas zu entscheiden) • Ressourcen nutzen • Häufiges Wiederholen und Zusammenfassen • Langsam sprechen • Evtl. schriftliche Informationen mitgeben (einfach/grossgeschrieben) • Den Patienten bei Bedarf vor dem Gespräch telefonisch auf den Termin hinweisen • Menschen auf Gefühlsebene ansprechen (z.B. mit Berührungen) • Mit den Menschen sprechen, nicht über die Menschen sprechen (direkter Blickkontakt mit Patient, nicht mit Begleitperson) • Lächeln • Nonverbale Signale (etwas vorzeigen) • Ablehnung akzeptieren (Nein) • In Kontakt bleiben mit Angehörigen (z.B. telefonisch) • Kontinuierlich Termine vereinbaren • Vereinbaren, dass sich Patienten/Angehörige telefonisch melden, oder sonst Kontaktaufnahme durch Ernährungsberatung
Mahlzeit beginnt. Trinksprüche können ein Anreiz zum Trinken sein (21). Auch kann es Sinn machen, Demenzkranke nach Möglichkeit bei der Mahlzeitzubereitung einzubeziehen (z.B. Gemüserüsten) oder den Tisch decken zu lassen (22).
Ess- und Trinkangebot/Speisenauswahl
Um die Essgewohnheiten (z.B. Mahlzeitenrhythmus, Vorlieben und Abneigungen bzgl. Speisen) eines Demenzkranken berücksichtigen zu können, wird in Institutionen für demente Menschen häufig eine sogenannte Essbiografie erstellt (im Internet zum Beispiel unter: www.alzheimerforum.de/2/15/2/Essbiografie_ frei_nach_Biedermann.pdf). Dazu werden die betroffenen Personen selber, aber auch Angehörige befragt. Bei der Menüplanung und Speisenauswahl ist es wichtig, die erhaltene Information aus der Essbiografie miteinzubeziehen. Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen können sich im Verlauf des Lebens allerdings ändern, was bei Demenzbetroffenen häufig geschieht und sich im praktischen Alltag als herausfordernd herausstellt (26). Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, lässt sich bei vielen dementen Menschen eine grosse Vorliebe für Süsses beobachten. Dieser Vorliebe kann nachgegeben werden, auch wenn die Ausgewogenheit der Ernährung ein Therapieziel ist. Eine ausgewogene Ernährung lässt sich sogar mit (fast) ausschliesslich süssen Speisen realisieren, indem man salzige Speisen (künstlich) süsst. Dass dabei komische Gerichte kreiert werden, wie zum Beispiel Suppe mit Sirup oder Fleisch mit Pudding ist gewöhnungsdürftig, aber aus ernährungstherapeutischer Sicht nicht schlimm. Es ist wichtig, dass diese Information die betreuende Person sowohl zu Hause als auch in der Institution vermittelt bekommt, damit sie sich nicht Sorgen über eine merkwürdige und ungesunde Ernährung macht. Wegen Beiss-, Kau- und Schluckschwierigkeiten und oft hinzukommender Mundtrockenheit kann es notwendig sein, die Konsistenz der Ernährung anzupassen. So kann zum Beispiel Fleisch weichgekocht, gehackt oder fein geschnitten werden oder es werden alternative Proteinbeilagen wie Käse, Quark oder Eier eingesetzt. Manchmal können Demenzbetroffene die Temperatur des Essens nicht mehr beurteilen. Die angebotenen Speisen dürfen deswegen nicht zu heiss serviert werden, damit sich die Patienten nicht verbrennen. Wenn der Energiebedarf aufgrund starken Bewegungsdrangs erhöht ist, sollten zwischen den Hauptmahlzeiten bis in die Nacht Zwischenverpflegungen oder Häppchen angeboten werden. Der Bewegungsdrang kann sogar so stark sein, dass Betroffene keine Ruhe finden und sich während einer Mahlzeit nicht an den Tisch setzen können oder es für sie nicht möglich ist, sich auf das Essen zu konzentrieren. Ihnen kann Essen mit auf den Weg gegeben werden, das sogenannte Eat-by-Walking-Konzept. Dazu eignen sich Speisen wie Obst, Gipfeli, (belegte) Brötchen, Kuchen, aber auch Fleisch- oder Käsestückchen (22, 26).
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Weiter können Imbissstationen eingerichtet werden, an denen ruhelose Personen, aber auch diejenigen, die am Tisch essen, sich nach Lust und Laune mit «Häppchen» bedienen können. Dieses «Eat-by-Walking» kommt vor allem in Institutionen für die Langzeitbetreuung zum Einsatz, kann aber auch sehr gut zu Hause umgesetzt werden. Für Spitäler bietet das Konzept wegen des komplexen Ablaufs des Spitalalltags kaum eine realistische Möglichkeit.
nommen wird (z.B. Geschmack, Konsistenz, Menge, Darreichungsform) und die Einnahme regelmässig zu evaluieren sowie wenn nötig Hilfestellung bei der Einnahme zu bieten. Enterale und parenterale Ernährung: Der Einsatz von enteraler Ernährung kann bei milder bis moderater Demenz zur Verbesserung des Ernährungszustands beitragen (28). Sie sollte ausschliesslich für einen begrenzten Zeitraum und nur in einer Akutsituation mit geringer Nahrungsaufnahme (z.B. Dysphagie nach ze-
Fingerfood
Für Demenzbetroffene, die nicht mehr selbstständig mit Besteck essen können, ist Fingerfood eine denkbare Alternative. Die Kost ermöglicht ihnen, die Selbstständigkeit beim Essen zu behalten, und fördert sowohl die Nahrungsaufnahme als auch die Lebensqualität. Fingerfood ist mit den Fingern essbar, mit einem Handgriff greifbar und wird in mundgerechten Stücken serviert. Obwohl eine intakte Beiss-, Kauund Schluckfähigkeit nicht erforderlich ist, zeigt die Erfahrung, dass Fingerfood sich schwierig als weiche Kost gestalten lässt und somit nicht ohne Weiteres für alle Betroffenen geeignet ist. Unsere Erfahrung ist, dass unbedingt darauf geachtet werden sollte, Angehörige vorab über das Fingerfood aufzuklären und ihre Einwilligung dafür einzuholen (Kasten 1 Fallbeispiel Fingerfood).
Orale Nahrungssupplemente, enterale und parenterale Ernährung
Kasten 1:
Fallbeispiel Fingerfood
Wie wichtig es in einer Institution ist, Angehörigen über die Idee des Fingerfoods aufzuklären, zeigt folgendes Beispiel: Die Pflege beobachtet, dass Herr S. bei den Mahlzeiten immer versucht mit seinen Händen das Essen zu sich zu nehmen. Herr S. ist manchmal sehr frustriert, dass ihm das nicht gelingt, und die Pflege muss ihn fast jedes Mal nach dem Essen saubere Kleider anziehen. In einer interdisziplinären Besprechung wird Fingerfood vorgeschlagen. Die Ernährungsberaterin nimmt mit der Kontaktperson von Herrn S., in diesem Fall dem Sohn, Kontakt auf und erklärt den Sinn von Fingerfood. Dieser ist damit einverstanden, fürchtet aber, dass seine Schwester sich querstellen wird, und kann deswegen nicht einwilligen. Anscheinend sind die beiden sich in vielem, was den Vater betrifft, uneinig. Darauf ruft die Ernährungsberaterin die Tochter an, welche dem Fingerfood anfänglich sehr abweisend gegenübersteht. Ihr Vater hat, im Gegensatz zu ihrem Bruder, so die Tochter, immer viel Wert auf gute Tischmanieren gelegt, und sie könne sich gar nicht vorstellen, dass er wirklich versucht, mit den Händen zu essen. Als die Ernährungsberaterin ihr das Prinzip des Fingerfoods erklärt und wie wichtig es für die Lebensqualität des Vaters sei, noch etwas selbstständig machen zu können, stimmt sie zu und bedankt sich ausdrücklich für das klärende Gespräch. Durch den Einsatz des Fingerfoods ass Herr S. mehr und war sichtbar zufrieden damit.
Die Ernährungstherapie bei Demenz verfolgt das Ziel, den Ernährungszustand zu erhalten oder zu verbessern. Ist eine bedarfsdeckende Energie- und Nährstoffabdeckung durch natürliche und angereicherte Nahrungsmittel nicht möglich, wird empfohlen, den Einsatz von Trinknahrungen zu evaluieren (9, 11). Medizinische Trinknahrungen: Der Einsatz der Trinknahrungen hat einen positiven Effekt auf das Körpergewicht und den BMI. Studien mit Trinknahrungen zeigen bisher keinen Benefit der kognitiven oder physischen Funktion bei Demenzerkrankten. Es kann aber angenommen werden, dass die Verbesserung des Ernährungszustands generell die Kondition und Funktion verbessern (11). Zurzeit werden nur wenige Trinknahrungen mit spezifischen Nährstoffen wie Omega-3-Fettsäuren, Vitamin B6, B12, C, E, Folsäure, Selen, Uridin, Cholin und Phospholipide angereichert, um die Verlangsamung des kognitiven Abbaus positiv zu beeinflussen. Aktuelle Studien und Leitlinien geben aufgrund ungenügender Evidenz keine Empfehlung zu deren Einsatz (11, 27). Diese speziell angereicherten Trinknahrungen weisen zudem im Vergleich zu herkömmlichen Trinknahrungen in Bezug auf deren Energie- und Proteingehalt teilweise eine schlechtere Nährstoffdichte auf. Daher empfehlen die Autorinnen, bei Patienten mit Demenz die energie- und nährstoffreiche Trinknahrung einzusetzen, welche am besten einge-
Kasten 2:
Fallbeispiel ambulante Beratung bei Demenz
Folgendes Fallbeispiel zeigt, wie wichtig die interdisziplinäre Koordination bei Patienten mit Demenz sein kann: Herr M. (78) trat mit vermehrten Gedächtnisschwierigkeiten und einer hyperglykämen Entgleisung bei bekanntem Diabetes mellitus Typ 2 ins Spital ein. Die Ernährungsanamnese ergibt, dass Herr M. im Spital mit gutem Appetit die ganze Portion der Spitalkost essen kann und keinerlei Schwierigkeiten bei der selbstständigen Mahlzeiteneinnahme oder beim Kauen und Schlucken aufweist. Die Ernährungsberatung erfährt durch die Pflege, dass die bestätigte mittelschwere Demenz dazu führt, dass er auch im Spital nicht mehr selbstständig daran denkt, die Mahlzeiten und seine Medikamente einzunehmen, was die Hyperglykämie vor Eintritt erklärte. Im Gespräch mit den beiden Schwestern des Patienten wurde bekannt, dass er Schwierigkeiten bei der Mahlzeitenzubereitung und in den vergangenen Monaten ungewollt Gewicht abgenommen hatte. Abgelaufene Lebensmittel und halb fertig zubereitete Speisen befanden sich noch in seiner Küche. Er selbst finde die Mahlzeitenzubereitung sehr aufwendig und wäre froh um ein wenig Hilfe. Die Ernährungsberatung koordiniert zusammen mit der Pflege, den Ärzten, der Diabetesberatung, der Spitex und den Angehörigen den Austritt nach Hause. Herr M. erhält drei Mal pro Tag Unterstützung durch die Spitex, die ihn bei der Mahlzeitenzubereitung unterstützt, die Medikamente abgibt und den Blutzucker misst. Eine seiner Schwestern begleitet ihn ambulant zur Ernährungs- und Diabetesberatung sowie regelmässig zur Hausärztin. Das aufgetragene Essprotokoll zur Beurteilung der Ernährungssituation führt er mit Hilfe seiner Schwestern, vergisst es aber in der Beratung. Im telefonischen Kontakt mit der Spitex kann die Ernährungsberaterin in Erfahrung bringen, dass Herr M. das Frühstück meist selbst zubereiten kann, für drei Mittagessen in der Woche in die Heilsarmee gehen kann und sonst an den verbleibenden Mittagessen und am Abend gemeinsam mit der Spitex die Mahlzeiten zubereitet. Der Blutzucker stabilisiert sich auf einem akzeptablen Wert, sein Gewicht ist stabil und er hat durch die Unterstützung wieder mehr Freude an der Mahlzeitenzubereitung.
Weitere praktische Informationen zu Essen und Trinken bei Demenz unter 21, 22, 23.
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ERNÄHRUNG UND DEMENZ
rebro-vaskulärem Insult) beziehungsweise erhöhtem Nährstoffbedarf eingesetzt werden. Eine parenterale Ernährung wird in der gleichen Situation empfohlen, wenn eine orale oder enterale Ernährung nicht ausreicht, kontraindiziert ist oder nicht toleriert wird (11). Die Vorteile und Nachteile der enteralen sowie parenteralen Ernährung sollen abgewogen und gemeinsam mit den Betroffenen, Angehörigen, dem medizinischen Personal und weiteren Involvierten besprochen werden. Der Entscheid für oder gegen eine künstliche Ernährung sollte immer individuell getroffen werden. Bei Patienten mit schwerer und fortgeschrittener Demenz ist der Einsatz jeglicher künstlicher Ernährung kontraindiziert (9,11). Die Erfahrung der Autorinnen zeigt, dass der Einsatz von Sondenernährung bei Patienten mit Demenz besonders auf geriatrischen Abteilungen meistens ausreichend hinterfragt und interdisziplinär besprochen wird. Es zeigt sich aber teilweise, dass Kliniken mit wenig Erfahrung in der Betreuung dementer Personen, die Erkrankung nicht genügend in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass parenterale Ernährung bei Demenzbetroffenen am ehesten im klinischen Alltag angetroffen wird, um eine Krisensituation zu überbrücken. Auf geriatrischen Abteilungen wird die parenterale Ernährung wenig eingesetzt, da eine ausreichende orale Ernährung meist gewährleistet werden kann oder nach ethischen Entscheidungskriterien nicht mehr empfohlen wird. Wir raten dazu, im Falle einer unzureichenden oralen Nahrungsaufnahme in Rücksprache mit der Ernährungsberatung mögliche orale Massnahmen auszuschöpfen und danach frühzeitig ein interdisziplinäres Roundtable-Gespräch zu planen, um gemeinsam das Ernährungsziel und die Ernährungsinterventionen zu definieren. Bezüglich der Flüssigkeitszufuhr empfehlen wir, diese wenn möglich oral sicherzustellen. In Einzelfällen kann die Flüssigkeit intravenös oder subkutan ergänzt werden. Teilweise (z.B. bei Dementen mit Bewegungsdrang) ist eine subkutane Flüssigkeitsgabe zu bevorzugen, da die Patienten während der Flüssigkeitsgabe nicht ortsgebunden sind (9).
Ernährungstherapie und -beratung
Mit folgenden Fragestellungen wird die Ernährungsberatung bei der Arbeit mit Demenzbetroffenen häufig konfrontiert. Mögliche Hilfestellungen für Ernährungsberater sind in Tabelle 4 zu finden. • Wie ist der aktuelle Ernährungszustand der Betrof-
fenen und wie war er vor Eintritt (anthropometrische Daten, Energie- und Nährstoffaufnahme, relevante Begleiterkrankungen, Laborwerte etc.)? • Was kann mir das Umfeld des Patienten über den Ernährungszustand berichten? • Wer kann welche Informationen geben (Essbiografie, Essprotokoll, Angaben von Angehörigen, Bilder)? • Welche Ressourcen und Defizite weist die Person bei der Ernährung/Nahrungsaufnahme auf?
• Welches Ziel sollte die Ernährungstherapie im aktuellen Demenzstadium haben (Bedarfsdeckung, Komforttherapie, End-of-life-Begleitung)?
• Inwiefern ist ein Gespräch mit den Betroffenen zum Thema Ernährung im Spitalsetting selbst möglich (Abschweifen, unruhige Atmosphäre durch Mitpatienten/andere Dienste)?
• Inwiefern können Ernährungsmassnahmen über eine längere Dauer oder nach Austritt umgesetzt werden (z.B. Einnahme von Mahlzeiten oder Trinknahrungen, Führen von Essprotokollen)?
Schlussfolgerung
Da Demenzbetroffene ein erhöhtes Risiko für eine Mangelernährung im Vergleich zu ihrer Altersgruppe haben, ist die Erkennung, die Prävention und die Behandlung von Mangelernährung von grosser Bedeutung. Dabei nimmt der/die Ernährungsberater/-in SVDE in einem interprofessionellen Team eine zentrale Rolle ein. Die Ernährungstherapie ist immer individuell und verfolgt ein patientenorientiertes Ziel (Kasten 2 Fallbeispiel). Insbesondere ein gutes Ernährungsassessment und zutreffende Ernährungsdiagnosen sind wichtig, um die Ziele und Interventionen der Ernährungstherapie zu bestimmen. Die Wichtigkeit eines interprofessionellen Behandlungsteams mit Beobachtungen und Erfahrungen aller Beteiligten ist in der Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz besonders gross, da diese ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ansichten meist nur in der Anfangsphase genügend klar äussern können.
Korrespondenzadressen: Chantal Coenegracht BSc in Ernährung und Diätetik Ernährungsberaterin SVDE Leitung der Fachgruppe Geriatrie des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberaterinnen (SVDE) Mitglied der Arbeitsgruppe Ernährung in der Geriatrie der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie Felix Platter-Spital Basel E-Mail: chantal.coenegracht@fps.ch
Fiona Hess BSc in Ernährung und Diätetik Ernährungsberaterin SVDE Mitglied der Fachgruppe Geriatrie des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberaterinnen (SVDE) Mitglied der Arbeitsgruppe Ernährung in der Geriatrie der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie Stadtspital Triemli Zürich E-Mail: fiona.hess@triemli.zuerich.ch
Fabienne Schaller BSc in Ernährung und Diätetik Ernährungsberaterin SVDE Mitglied der Fachgruppe Geriatrie des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberaterinnen (SVDE) Mitglied und Kontaktperson der Arbeitsgruppe Ernährung in der Geriatrie der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie Stadtspital Waid Zürich E-Mail: fabienne.schaller@waid.zuerich.ch
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