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Anorexia nervosa: Duales Denken vermeiden
EDITORIAL
Gemäss den Angaben des Bundesamtes für Gesundheit sind 3,5 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Essstörungen können schwerwiegende körperliche, psychische und soziale Konsequenzen für die Betroffenen haben, die im Extremfall zu Invalidität und Tod führen. Häufig begegnen wir der Anorexie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aber die Anorexie kann in jedem Alter vorkommen und unterschiedlich ausgeprägt sein – bis hin zu lebensbedrohlichen Ausmassen. Die Angst vor einer Gewichtszunahme respektive der Wunsch nach einer Gewichtsreduktion stehen dabei im Vordergrund. Zwar wird die Anorexia nervosa als gehäuft in der westlichen Welt vorkommend den sogenannten kulturgebundenen Syndromen zugeordnet. Durch die Medien vermittelte Schlankheitsideale und Lifestyle-Vorgaben können wohl eine wichtige Rolle als auslösende oder beeinflussende Faktoren spielen. Sie vermögen aber den komplexen Zusammenhängen, denen man in der Auseinandersetzung mit dieser Krankheit begegnet, nicht vollständig gerecht zu werden. Die Gesamtschau der verschiedenen Beiträge der Autoren in dieser Ausgabe, die in ihrem beruflichen Alltag mit betroffenen Patienten arbeiten, sowie der Einblick in ihre therapeutische Vorgehensweise zeigen deutlich, dass diese Krankheit kein duales Denken zulässt – es handelt sich um eine psychosomatische Erkrankung. Psyche und Körper sind in
Verbindung. Entsprechend sind der psychosomatische und der interdisziplinäre Ansatz bei der Behandlung essenziell. Dem Prozesshaften bei der Behandlung gerecht zu werden, heisst auch zu akzeptieren, dass es sich um Therapien handelt, die viel Zeit beanspruchen. Nach der aktuellen, immer noch gültigen DRG-Regelung sind wir mit der stationären Behandlung von schwer kranken erwachsenen Anorexiepatienten im Akutspital bereits nach kurzem Aufenthalt im defizitären Bereich. Ein Antragsverfahren für eine Anpassung der DRG wurde 2014/15 eröffnet. DRG 99.BD, «Integrierte Komplexbehandlung bei Anorexie nach Dauer», ist ausformuliert, aber leider immer noch in einer Pilotphase ohne Relevanz bei der Fallabrechnung. Dies hat Auswirkungen auf die Bemühungen der Spitäler, Therapieplätze zu schaffen. Anlässlich eines interinstitutionellen Treffens zum Thema «Behandlung von Essstörungen im Kanton Bern» waren die mangelnden Kapazitäten sowohl im stationären als auch im ambulanten und erst recht im teilstationären Bereich ein grosses Thema. Voraussetzung für eine Verbesserung der Versorgungslage ist, dass die Gesundheitsbehörden das Problem erkennen und mitarbeiten. Die Bereitschaft, nach Lösungen zu suchen ist, bei Fachleuten jedenfalls vorhanden.
Ich danke den Autoren dieser Ausgabe herzlich für die geleistete Arbeit und wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Rebecca Ott
Dr. med. Rebecca Ott Stv. Leiterin Psychosomatische Medizin Lory-Haus Universitätsspital Bern 3010 Bern E-Mail: Rebecca.Ott@insel.ch
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2018 1