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ERNÄHRUNG BEI ANOREXIA NERVOSA
Achtsame Körperwahrnehmung als Ressource bei der Genesung von einer Essstörung
Thea Rytz
Achtsame Körperwahrnehmung ist ein ressourcenorientierter Therapieansatz. Gelernt wird, wie die Aufmerksamkeit zwischen den Gedanken, den Gefühlen und den körperlichen Empfindungen hin- und herpendeln kann. Menschen mit Essstörungen gewinnen so mehr innere Flexibilität. Dies unterstützt den konstruktiven Umgang mit belastenden Emotionen und Stress und mildert abwertendes Gedankenkreisen um Gewicht und Figur.
Vor dem Essen denke ich: Doch, ich
nehmen. In der ambulanten Therapie
muss jetzt essen, das vertrage ich, es
begegnen uns Menschen, die auf ihre
steht mir zu. Ich wäre gerne wieder
unterschiedliche persönliche Art mit
fröhlicher, vitaler, weniger dünn-
ihrer Essstörung kämpfen und sich
häutig. Ich verstehe den Zusammen-
dabei vor allem nach Sicherheit und
hang von Untergewicht und Gereizt-
Halt sehnen. Sie verdienen, dass wir
heit. Auch dass Hungern eine
Fachpersonen keine stereotypen Vo-
Depression auslösen kann, gehört zu
rannahmen treffen. Ich bemühe
meinen Erfahrungen. Ich sage mir also: Sei vernünftig und iss! Aber ei-
Thea Rytz
mich, im Rahmen meiner Disziplin den Betroffenen sorgfältig zuzu-
gentlich will ich nicht zunehmen. Ich möchte hören. Ich suche mit ihnen gemeinsam nach
nur wieder sorglos mit anderen in Gesellschaft Ressourcen, die sie auf dem Weg zur Genesung
essen und mich unterhalten. Ich möchte endlich unterstützen. Achtsame, verkörperte Selbst-
ausbrechen aus diesem Gefängnis der kreisen- wahrnehmung ist eine solche Ressource. Sie
den Gedanken um Gewicht, Kalorien und Figur. eröffnet durch das Fördern einer möglichst
Aber ich will mich auch sicher fühlen.
offenen Aufmerksamkeit für körperliche Emp-
Ich stelle mir das Essen auf meinem Teller vor: findungen, Gefühle und Gedanken einen grös-
Risotto, Parmesan und Gemüse. In mir steigt eine seren inneren Spielraum und unterstützt Emo-
diffuse Angst auf. Ich fühle mich orientierungslos, tionsregulation und Resilienz (1–3). Dabei
verunsichert, haltlos, beinahe panisch. Früher wächst die Fähigkeit, die unmittelbare Gegen-
hätte ich mich sofort abgelenkt. Ich hätte die Ge- wart in all ihren Bezügen über sensorische, kin-
fühle gar nicht wahrgenommen, geschweige denn ästhetische, intero- und propriozeptive Wahr-
das eine vom anderen unterscheiden können. nehmung zu erfahren und sich darauf zu
Jetzt kann ich es zumindest fühlen, dieses innere beziehen. Dadurch wird der Körper nach und
Chaos – und meine Therapeutin sagt, dies sei nach weniger als fremd oder gar feindlich er-
eine Stärke, die mir helfe, längerfristig wieder lebt, sondern als Ort, wo jede und jeder mit sich
«normal» zu essen. Ich wünsche mir, jemand in Bezug kommt, Halt findet und erlebt, dass
könnte mir konstant sagen, dass alles in Ordnung auch belastende Gefühle und Empfindungen
sei und ich nichts zu befürchten habe. Und ich ertrag- und wandelbar sind (4, 5).
wünschte mir, ich könnte es dann auch glauben.
Ich stelle mir vor, ich ässe den Risotto ... ich wäre Körperwahrnehmung
einmal wieder satt … und würde es tatsächlich
spüren ... ohne Angst ... und ich würde mich frei Viele von Essstörungen Betroffene nehmen,
fühlen ... unvorstellbar.
sobald sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Kör-
Dieser fiktive innere Monolog einer an Mager- per lenken, vor allem ihre Angst, ihre diffuse
sucht erkrankten Frau gibt Einblick in wider- Anspannung, ihre Erschöpfung oder ihre Ner-
sprüchliche Empfindungen und Gefühle, mit vosität wahr. Sich den Körperempfindungen
denen sich Betroffene konfrontiert sehen, wenn offen zuzuwenden ist daher für diese Men-
sie sich selbst – besonders auch vor, während schen zu Beginn oft nicht entspannend, son-
und nach dem Essen – wieder bewusster wahr- dern eine Stressexposition. Die Fähigkeit zu
achtsamer, verkörperter Selbstwahrnehmung, unabhängig davon, ob das, was dabei wahrgenommen wird, belastend ist oder nicht, ist eine Alternative, weil sie ressourcenorientiert Selbst- und Emotionsregulation fördert (3). Die Person, die Sie zu Beginn dieses Artikels kennengelernt haben, setzt sich mit ihrem Erleben auseinander, auch wenn es ihr noch nicht gelingt, ihr Verhalten zu ändern. Sie braucht Mut, ihre widersprüchlichen inneren Signale überhaupt wahrzunehmen. Sie braucht Vertrauen, dass sie in ihren belastenden Gefühlen und Gedanken nicht verloren gehen wird. Das ganz konkrete Wahrnehmen ihrer Atembewegung, der Geschmack des Essens in ihrem Mund oder die Berührung ihrer Füsse auf dem Boden können für sie wie Landeplätze in der Gegenwart sein. Ist sie mehr in der Gegenwart präsent, wird sie gleichzeitig auch ihre Zweifel und Ängste deutlicher wahrnehmen, aber weil sie diese bewusst wahrnehmen kann, wird sie manchmal auch die Freiheit haben, sich nicht darauf zu beziehen. Sie wird sich nach und nach fähiger fühlen, zu essen trotz ihrer Ängste, beispielsweise eine Portion Risotto. Sie wird tolerieren können, dass es sich zuerst nicht angenehm anfühlt, aber freier und selbstbestimmter – und sie wird sich freuen und ein wenig stolz und erleichtert sein.
Korrespondenzadresse: Thea Rytz M.A. Körperwahrnehmungstherapeutin Psychosomatik C. L. Lory Haus 3010 Inselspital Bern thea.rytz@insel.ch Internet: www.thearytz.ch
Perception corporelle attentive en cas de désordre alimentaire
Mots-clés: perception corporelle – auto-perception – résilience
La perception attentive du corps est une approche thérapeutique fondée sur les ressources. On y apprend comment l’attention peut osciller entre les pensées, les sentiments et les perceptions corporelles. Les personnes présentant des désordres alimentaires gagnent ainsi davantage de flexibilité interne. Cela soutient la gestion constructive des émotions et du stress perturbateurs et affaiblit les pensées préoccupantes dévalorisantes à propos du poids corporel et de la ligne.
24 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2018
Literatur: 1. Feldman G, Hayes A, Kumar S, Greenson J, Laurenceau JP.: Mindfulness and emotion regulation. The development and initial validation of the cognitive and affective mindfulness scalerevised (CAMSR), Journal of Psychopathology and Behavioral Assessment 2007; 29: 177−190. 2. Keng SL, Smoski MJ, Robins CJ: Effects of mindfulness on psychological health. A review of empirical studies. Clinical Psychology Review 2011, 1–16. 3. Jakob S (2012): Zusammenhänge zwischen den Ressourcen Emotionsregulationskompetenz und Achtsamkeit und Symptomen klinischer Essstörungen. Unveröffentlichte Masterarbeit, Psychologisches Institut der Universität Bern: 91–107. 4. Rytz Th, Wiesmann S, Hg. (2013): Essstörungen und Adipositas. Akzeptanz verkörpern, Bern: Hans Huber/Hogrefe. 5. Rytz Th (2010): Bei sich und in Kontakt. Anregungen zur Emotionsregulation und Stressreduktion durch achtsame Wahrnehmung, 3. Überarbeitete Aufl., Bern: Hans Huber/Hogrefe: 51–75 6. Caldwell Ch. (1997): Hol dir deinen Körper zurück. Braunschweig: Aurum: 37f. 7. Hilbert A, Vocks S: Aktuelle Behandlungsansätze für Essstörungen, Psychotherapeut 2017; 62: 161–163: 162.
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