Transkript
Hausarztsymposium Geriatrie
Sarkopenie, Anorexie, Demenz und Ernährung
SYMPOSIUMSBERICHT
Halid Bas*
Am Hausarztsymposium Geriatrie erörterten verschiedene Experten die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Muskelschwund, Anorexie und dem geistigen Abbau im Alter.
vermutlich die Muskulatur betreffende Wirkmechanismen der Proteinzufuhr zu vermuten sind.
Molkeneiweiss besser als Soja oder Kasein
Zur Verhütung von Knochenbrüchen reicht es nicht, nur auf die Osteoporose zu achten. Vielmehr führe die als Sarkopenie bezeichnete Abnahme der Muskelmasse und der Muskelkraft zu einem höheren Sturzrisiko, das zusammen mit dem brüchigen Knochen die Knochenbruchgefahr erhöhe, erklärte Prof. Heike A. Bischoff-Ferrari, Direktorin der Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich.
Eiweisszufuhr entscheidet über Trainingseffekte
Verantwortlich für die Abnahme der Muskelmasse sind unter anderem eine abnehmende körperliche Aktivität mit dem Alter, die geringere Eiweisszufuhr, ein Vitamin-D-Mangel und tiefere Testosteronspiegel. Ansätze zur Vorbeugung zielen daher auf körperliches Training, und zwar nicht nur auf die Ausdauer, sondern auch auf die Kraft. Der Effekt des Trainings lässt sich durch zusätzliche Eiweisszufuhr noch steigern, wie eine Studie zeigt, bei der Frauen im Alter von 60 bis 90 Jahren zusätzlich zum Krafttraining entweder sechsmal pro Woche mageres Fleisch oder Kohlenhydrate (Pasta, Reis) erhielten. Die Gruppe mit zusätzlichem Protein hatte eine um 18 Prozent grössere Muskelkraft und im Mittel 450 g mehr Muskelmasse (1). Erste Studien zur Kalziumbalance hatten gezeigt, dass eine höhere Proteinzufuhr zu einer vermehrten Kalziumausscheidung führt. Allerdings ist die Knochenmineraldichte nicht beeinträchtigt, da die vermehrte Kalziumausscheidung durch eine unter Proteinzufuhr gesteigerte Kalziumaufnahme im Darm bedingt ist. Weitere Studien ergaben, dass Patienten mit höherer Eiweisszufuhr eine grössere Knochendichte und weniger Knochenabbau aufweisen. Eine Untersuchung bei Teilnehmern der Framingham-Studie wies eine niedrigere Häufigkeit von Hüftfrakturen unter Proteinzufuhr nach (2). Diese bestand auch nach statistischer Berücksichtigung der Knochenmineraldichte am Schenkelhals, weshalb andere,
Wichtig ist auch die Art der zusätzlichen Eiweisszu-
fuhr. Eine Metaanalyse klinischer Studien bei rund
1000 Patienten hat den Effekt einer leucinreichen Pro-
teinsupplementation untersucht (3). Im Vergleich zu
Kontrollen hatten Supplementierte ein höheres Kör-
pergewicht und eine Zunahme der mageren Körper-
masse (d.h. der Muskelmasse). Bezüglich der Zunahme an Muskelmasse zeigt Molkeneiweiss die beste Evidenz, da es natürlicherweise reich an Leucin ist, das die Muskelproteinsynthese besonders stimuliert. Im Vergleich zu Kasein und Soja hat Molkeneiweiss zudem den Vorteil, dass es einfacher und rascher ver-
Bezüglich der Zunahme an Muskelmasse zeigt Molkeneiweiss die beste Evidenz.
daubar ist, alle essenziellen Aminosäuren in höherer
Konzentration enthält und den Aminosäurenspiegel
rascher anhebt (4).
Eine Dosis-Wirkungs-Studie hat als Minimaldosie-
rung zur Steigerung der Muskelmasse 20 g Molken-
eiweiss pro Tag ergeben. Weniger als 20 g zeigten kei-
nen Nutzen. Am besten war die Wirkung bei 40 g
täglich in Kombination mit körperlichem Training.
Auch dem Timing der Eiweisssupplementation
kommt Bedeutung zu. Zur Überwindung der anabo-
len Resistenz im Alter führt die Pulsgabe in Kombi-
nation mit dem Training zu besseren Ergebnissen als die über den Tag verteilte Gabe. Eine prospektive Studie aus Kanada konnte demgegenüber wiederum
* Halid Bas ist Medizinjournalist BR und freier Mitarbeiter beim Verlag Rosenfluh Publikationen.
nachweisen, dass eine gute Verteilung der
Eiweisse auf mehrere Mahlzeiten, unab-
hängig von der Gesamtmenge, mit einer besseren Muskelkraft einhergeht (5).
800 IE Vitamin D3 pro Tag und nicht mehr
Symposium de gériatrie pour les généralistes: sarcopénie, anorexie, démence et alimentation
Für die Muskelfunktion ist auch eine gute Vitamin-D-Versorgung wichtig. In einer
Mots clés: apports protéiques– lactosérum – vitamine D – calcium – alimentation liquide
doppelblinden, randomisierten, kontrol- Lors du Symposium de gériatrie pour les généra-
lierten Zürcher Studie mit 200 ambulanten listes, divers experts ont abordé les relations en-
Patienten über 70 Jahre wurden drei tre l’alimentation et la fonte musculaire, l‘ano-
monatliche Dosierungsschemata für die rexie et le déclin cognitif de la personne âgée.
Vitamin-D-Supplementation verglichen:
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2017 25
SYMPOSIUMSBERICHT
24 000 IE (entsprechend 800 IE pro Tag) als Referenzgruppe sowie eine Gruppe mit einer hohen Dosis von 60 000 IE und eine kombinierte Gruppe (24 000 IE Vitamin D3 plus 300 µg Calcifediol) (6). Die Senioren in der Referenzgruppe (entsprechend 800 IE pro Tag) zeigten nach einem Jahr die beste Verbesserung bei der Funktion der unteren Extremitäten. Zudem hatten weniger Teilnehmer Stürze erlebt, und die Anzahl der Stürze war geringer ausgefallen. «Dies war entgegen unseren Erwartungen», wie Prof. Bischoff-Ferrari hervorhob. Die besten Ergebnisse hinsichtlich Sturzprävention wiesen Teilnehmer im unteren Bereich der erzielten 25(OH)D-Spiegel (21,3–30,3 ng/ml) auf. Keinen funktionellen Nutzen und die meisten Stürze konnten die Autoren in den höheren Bereichen der erzielten 25(OH)D-Spiegel (44,7–98,9 ng/ml) nachweisen.
Aktivitätsniveau beeinflusst den Energiebedarf
Verlust des Appetits (Anorexie) spiele bei der Entstehung von Gebrechlichkeit eine wichtige Rolle, und um durch Beratung und therapeutische Bemühungen den Übergang in eine schwere Behinderung zu vermeiden, stehe nur ein begrenztes Zeitfenster zur Verfügung, sagte Prof. Prim. Katharina Pils, Universitätslektorin Geriatrie der Medizinischen Universität
TAKE HOME MESSAGES
Sarkopenie • Im Alter 60+ ist neben ausreichender Bewegung auch Krafttraining wichtig. • Ab 60 Jahren sind 20 g Molkenprotein pro Tag die Minimaldosis für einen Gewinn an Muskelmasse. • Mit 800 IE Vitamin D pro Tag kann bei 97 Prozent der Erwachsenen ein Mangel behoben werden, und
dies bietet einen Nutzen in der Sturz- und Knochenbruchvorbeugung. • 800 IE täglich, 5600 IE wöchentlich oder 24 000 IE monatlich sind sichere und effiziente Vitamin-D-
Dosierungen. • Die Kalziumzufuhr sollte 1000 mg pro Tag betragen, und das Kalzium sollte bevorzugt über die Ernäh-
rung aufgenommen werden.
Demenzprävention • Rezeptieren Sie gesunde Ernährung und Bewegung. • Befürworten Sie regelmässige positive geistige Herausforderungen. • Achten Sie auf (Normal-)Gewicht, Rauchen, Alkoholkonsum. • Stellen Sie eine ausreichende Zufuhr von Vitamin D, Vitamin B12 und Omega-3-Fettsäuren sicher. • Die Früherkennung und die Behandlung von Risikofaktoren (Hypertonie, Typ-2-Diabetes etc.) dienen
der Vorbeugung.
Anorexie • Eine Muskelarmut kann durch Adipositas oder Ödeme kaschiert werden. • Zur Prävention einer Mangelernährung ist einerseits eine regelmässige Struktur mit drei Hauptmahl-
zeiten plus Zwischenmahlzeiten, andererseits eine ausgewogene Zusammenstellung der Ernährung notwendig. • Trinknahrung kann das Risiko für Mangelernährung reduzieren, den Ernährungszustand insgesamt verbessern und so das Mortalitätsrisiko senken.
Wien. Zwar lasse sich auch im Alter angeben, welche Energiezufuhr eine Frau oder ein Mann brauche. «Doch das allein reicht nicht, immer muss auch das körperliche Aktivitätsniveau – sitzend, gering aktiv, aktiv, sehr aktiv – beachtet werden», so Prof. Pils. Auch könnten übergewichtige Senioren eine Sarkopenie aufweisen. Nähmen sie dann an Körpergewicht ab, worauf sie stolz seien, hätten sie noch mehr Muskelmasse verloren, mahnte die Geriaterin. Flüssigkeitsansammlungen und Ödeme könnten ebenfalls eine Sarkopenie kaschieren. Bei normalem Ernährungszustand und Körpergewicht wird der Energiebedarf auf 27 bis 30 kcal/kg Körpergewicht veranschlagt. Bei Untergewicht steigt er auf 32 bis 38 kcal/kg, bei hyperaktiven Dementen sogar auf 40 kcal/kg. Patienten mit akuten Erkrankungen oder mit grossen nässenden Wunden bei venöser Insuffizienz haben einen deutlich erhöhten Energiebedarf.
Trinknahrung bei inadäquater Nahrungsaufnahme
Im Alter ist zur Aufrechterhaltung der Muskelgesundheit eine über die generell empfohlene tägliche Menge von 0,8 g/kg Körpergewicht hinausgehende Proteinversorgung von 1,0 bis 1,2 mg/kg/Tag notwendig. Bei akuten oder chronischen Erkrankungen werden 1,2 bis 1,5 g/kg/Tag empfohlen, bei schwerer Erkrankung oder etablierter Mangelernährung sogar 2,0 g/kg/Tag. Bei Sarkopenie wirkt die Kombination von körperlichem Training und Proteinsupplementation synergistisch und führt zu einer Zunahme von Muskelmasse, Muskelkraft und Leistungsfähigkeit (7). Sehr wichtig für die Muskelfunktion ist auch eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung, wie eine umfangreiche Metaanalyse nachwies (8). Zur Prävention einer Mangelernährung ist einerseits eine regelmässige Struktur (3 Hauptmahlzeiten plus Zwischenmahlzeiten), andererseits eine ausgewogene Zusammenstellung der Ernährung notwendig. Darüber hinaus sind Rituale wie das Zvieri hilfreich. Eine australische Untersuchung in Pflegeinstitutionen wies eine Mangelernährung bei 68 Prozent der Bewohner nach. Nur 87 Prozent der Bewohner erreichten die täglich empfohlene Proteinzufuhr, insbesondere nahmen die Insassen zu wenige Milchprodukte zu sich, was einen Ansatz für vorbeugende Interventionen bietet (10). Zur Therapie bei Mangelernährung sind kalorienreiche Lebensmittel und Getränke notwendig, ferner die Anreicherung von Suppen mit Fetten oder Ölen und von Getränken mit Honig, Zucker oder Maltodextrin. Allenfalls kann die Nahrung auch mit hochkalorischer Trinknahrung als Zwischenmahlzeit ergänzt werden, wobei Trinknahrung ein Teil der Prävention sein kann, wenn eine ausreichende Nahrungsaufnahme nicht möglich ist. Zudem kann sie das Komplikationsrisiko für Mangelernährung reduzieren, den Ernährungszustand insgesamt verbessern und so das Mortalitätsrisiko senken, wie ein Cochrane-Review fand (9).
26 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2017
SYMPOSIUMSBERICHT
Bewusste Ernährung und mehr Bewegung beugen Demenz vor
«Wir altern unterschiedlich schnell, und dies gibt uns die Möglichkeit, durch Beeinflussung bekannter Risikofaktoren das Altern und die Entwicklung einer Demenz zu modifizieren», sagte Dr. Michael Gagesch, Oberarzt, Klinik für Geriatrie am Universitätsspital Zürich. Die Einflussfaktoren der geistigen Entwicklung sind von der Kindheit über die mittleren Lebensjahre bis ins Alter biologischer, psychosozialer und kultureller Art. In allen Altersstufen kommt der Ernährung grosse Bedeutung zu. Dabei lassen sich Risikofaktoren (z.B. Alkohol- und Tabakkonsum) und Schutzfaktoren (z.B. mediterrane Ernährung) charakterisieren (11). Unter den beeinflussbaren Risikofaktoren für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz stechen einige besonders ins Auge. Die relative Risikoerhöhung beträgt für einen inaktiven Lebensstil 89 Prozent, für Rauchen 59 Prozent, für Depression 65 Prozent und für Übergewicht 60 Prozent (12). Auf Basis der mediterranen DASH-Diät wurde eine Ernährungsintervention zur Verzögerung des kognitiven Abbaus (Mediterranean-DASH diet intervention for neurodegenerative delay, MIND) entwickelt (13). Nach zehn Jahren konstatierten die Autoren einen frappanten Unterschied zwischen oberster und unterster Terzile des MIND-Scores, der einer um 7,5 Jahre «jüngeren» Gedächtnisleistung entsprach. In einer Auswertung der Nurses’-Health-Studie waren Blaubeeren und Erdbeeren mit einer verlangsamten Abnahme der Gedächtnisleistung assoziiert (14). Demgegenüber lieferte eine ganze Anzahl von Untersuchungen zu Antioxidanzien und verschiedenen Vitaminen sehr uneinheitliche Ergebnisse bei der Beeinflussung der Kognition. In einer Netzwerkmetaanalyse von randomisierten Studien und Interventionen wurde eine Vielzahl von Ansätzen zur Demenzprävention untersucht (15). Einen positiven Einfluss auf die globale Kognition und auf das episodische Gedächtnis fanden die Autoren für eine mediterrane Diät mit zusätzlichen Nüssen und Olivenöl sowie für Soja-Isoflavone und Tai-Chi. Zusammenfassend stellte Gagesch fest, dass Ernährungsinterventionen eine ausreichende Adhärenz benötigen, eine aktive Mitarbeit voraussetzen und auf eine lange Therapiedauer ausgelegt sein müssen. Eine einzige beste Strategie dazu gibt es nicht, sinnvoll ist aber der Rat zu einer mediterranen Ernährung und körperlicher Bewegung.
Referenzen: 1. Daly RM et al.: Protein-enriched diet, with the use of lean red meat, combined with progressive resistance training enhances lean tissue mass and muscle strength and reduces circulating IL-6 concentrations in elderly women: a cluster randomized controlled trial. Am J Clin Nutr. 2014; 99 (4): 899–910. 2. Misra D et al.: Does dietary protein reduce hip fracture risk in elders? The Framingham Osteoporosis Study. Osteoporos Int. 2011; 22 (1): 345– 339. 3. Komar B et al.: Effects of leucine-rich protein supplements on anthropometric parameter and muscle strength in the elderly: a systematic review and meta-analysis. Nutr Health Aging. 2015; 19 (4): 437–446. 4. Devries MC et al.: Supplemental protein in support of muscle mass and health: advantage whey. J Food Sci. 2015; 80 (Suppl 1): A8-A15. 5. Farsijani S et al.: Even mealtime distribution of protein intake is associated with greater muscle strength, but not with 3-y physical function decline, in free-living older adults: the Quebec longitudinal study on Nutrition as a Determinant of Successful Aging (NuAge study). Am J Clin Nutr. 2017; 106 (1): 113–124. 6. Bischoff-Ferrari HA et al.: Monthly high-dose vitamin D treatment for the prevention of functional decline: a andomized clinical trial. JAMA Intern Med. 2016 Feb; 176 (2):175-83. doi: 10.1001/jamainternmed.2015. 7148. 7. Martone AM et al.: Exercise and protein intake: a synergistic approach against sarcopenia. BioMed Research International. 2017, Article ID 2672435. 8. Beaudart C et al.: The effects of vitamin D on skeletal muscle strength, muscle mass, and muscle power: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Clin Endocrinol Metab. 2014; 99 (11): 4336–4345. 9. Milne AC et al.: Protein and energy supplementation in elderly people at risk from malnutrition. Cochrane Database Syst Rev. 2009 Apr 15;(2):CD003288. 10. Iuliano S et al.: Dairy food supplementation may reduce malnutrition risk in institutionalised elderly. Br J Nutr. 2017; 117 (1): 142–147. 11. Solomon A et al.: Advances in the prevention of Alzheimer’s disease and dementia. J Intern Med. 2014; 275 (3): 229–250. 12. Barnes DE et al.: The projected effect of risk factor reduction on Alzheimer’s disease prevalence. Lancet Neurol. 2011; 10 (9): 819–828. 13. Morris MC et al.: MIND diet slows cognitive decline with aging. Alzheimers Dement. 2015; 11 (9): 1015–1022. 14. Devore EE et al.: Dietary intakes of berries and flavonoids in relation to cognitive decline. Ann Neurol. 2012; 72 (1): 135–143. 15. Lehert P et al.: Individually modifiable risk factors to ameliorate cognitive aging: a systematic review and meta-analysis. Climacteric. 2015; 18 (5): 678–689.
Quelle: Hausarztsymposium Geriatrie: «Ernährungs-Empfehlungen mit Evidenz für die Hausarztpraxis: Knochen, Muskel, Herz und Gehirn» vom 18. Mai 2017 in Zürich, Klinik für Geriatrie, Universitätsspital Zürich.
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2017 27