Transkript
EDITORIAL
Ernährungsforscher auf dem Schafott
Das Schwert des Zürcher Scharfrichters hatte den Kopf von Johann Heinrich Waser derart vom Rumpf zu trennen, «also dass ein Wagenrad zwischen beyden durchgehen möge». Wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagt und verurteilt, wurde der abgesetzte Pfarrer der Gemeinden Riesbach, Hirslanden und Hottingen am 27. Mai 1780 hingerichtet. Nach jahrelangen Querelen hatte sich die Zürcher Obrigkeit eines unbequemen Zeitgenossen entledigt. Waser war ein früher Verfechter der statistischen Ernährungsforschung. Er forderte die Ausdehnung der «politischen Rechenkunst» über Volkszählungen hinaus auf den Bereich der Lebensmittelversorgung und erstellte Datenreihen zu den Ernährungsverhältnissen im «Zürichgebieth». Diese statistische Praxis ermöglichte einen kritischen Blick auf die zeitgenössischen Staatsgebilde und deren Verwaltung. Das harsche Vorgehen der Zürcher Räte gegen den gefallenen Pfarrer löste im Zeitalter der Aufklärung ein lautes publizistisches Echo aus, das auch im 20. Jahrhundert noch widerhallte. Der Erste schweizerische Ernährungsbericht, der 1975 erschien, stufte Wasers Hinrichtung als politischen Mord ein und rehabilitierte ihn als Wegbereiter der Konsumationsstatistik. Das führt zum Thema dieses Heftes, der Ernährungsgeschichte. Zwischen Wasers Hinrichtung und seiner Wiederkehr im Ernährungsbericht von 1975 liegt eine Periode, in der die Nahrungsmittelproduktion, die Essgewohnheiten und die Esskultur als Ganzes auf dem Gebiet der heutigen Schweiz einem tief greifenden Wandel unterlagen. Die sehr unterschiedlichen Umstände, unter denen Wasers Datenreihen und
der Erste schweizerische Ernährungsbericht zustande kamen, machen das deutlich. Wasers statistischer Ernährungsforschung waren Hungerjahre vorausgegangen, die den Ruf nach Massnahmen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit laut werden liessen. In den 1970er-Jahren dagegen gab es in hoch entwickelten Industriestaaten wie der Schweiz einen Überfluss an Nahrung, an dem alle gesellschaftlichen Schichten teilhatten. Ernährungsstatistiken dienten nicht mehr der Herrschaftskritik, sondern waren eine Regierungstechnik, um Zusammenhänge zwischen «Überernährung» und Krankheiten – und damit auch steigenden Gesundheitskosten – aufzuzeigen und das individuelle Essverhalten der Einwohner zu beeinflussen. Die Beiträge zu diesem Heft thematisieren unterschiedliche Aspekte des Ernährungswandels in der Schweiz seit 1780. Sie handeln von der Entstehung der Nahrungsmittelindustrie, von wechselnden Vorstellungen richtiger Ernährung, von «natürlichem» Essen, gezielt veränderten Pflanzen und staatlichen Massnahmen zur Verbesserung der Gesundheit. Auch wenn in der betrachteten Periode Mangel dem Überfluss wich, sind die Beiträge nicht auf eine Fortschrittsgeschichte ausgelegt. Schon die Auseinandersetzung mit der «Überernährung» im Ernährungsbericht von 1975 weist darauf hin, dass die Veränderungen im Bereich des Essens nicht einfach den Hunger stillten, sondern neue Problemlagen schufen. Essen hat deshalb auch lange nach Wasers Hinrichtung eine politische Dimension.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Niklaus Ingold
Dr. phil. Niklaus Ingold Historiker Dolderstrasse 2 8032 Zürich E-Mail: ingold@ogre.ch
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2017 1