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GESCHICHTE DER ERNÄHRUNG IN DER SCHWEIZ
Die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie von 1850 bis 1910
Annatina Tam
In der Zeit zwischen 1850 und 1910 hielt die industrielle Revolution auch auf dem Tisch von Herrn und Frau Schweizer Einzug: Bereits bekannte Lebensmittel wie Nudeln oder Gemüsekonserven wurden neu industriell und in Massen hergestellt und vermarktet. Neue Produkte wie das «Kindermehl» von Nestlé oder die «Maggiwürze» wurden erfunden. Im Beitrag wird beleuchtet, welche Umstände die Etablierung der ersten Lebensmittelfabriken in der Schweiz begünstigten und welche Rolle die noch junge Ernährungswissenschaft bei der Entstehung der Lebensmittelindustrie gespielt hat.
Annatina Tam
Lebensmittelfabriken im Kontext der Industrialisierung
Die Lebensmittelindustrie war ein relativ spät aufkommender Industriezweig, erste erfolgreiche Fabriken entstanden in der Schweiz ab zirka 1865. Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktionsweise gingen den Fabrikgründungen voraus: Im 18. Jahrhundert hatten Landwirte die traditionelle Dreifelderwirtschaft allmählich aufgegeben, der Kartoffelanbau und die Viehwirtschaft wurden forciert, das Vieh wurde vermehrt in Ställen gehalten und der Boden durch Düngemitteleinsatz verbessert. Diese Entwicklungen werden als erste Agrarrevolution bezeichnet. Im 19. Jahrhundert setzte sich die Agrarrevolution als sogenannte zweite Agrarrevolution fort. So kam es vor allem zur Mechanisierung der Landwirtschaft und später zum Einsatz von Kunstdünger. Diese Entwicklungen bildeten eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Lebensmittelindustrie, indem sie die nötigen Rohstoffe in ausreichender Menge verfügbar machten (1). Daneben begünstigten die mit der Industrialisierung einhergehenden Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt die Entstehung der Lebensmittelindustrie: Immer mehr Menschen zogen vom Land in die Städte und arbeiteten dort sechs Tage die Woche elf Stunden und länger in den Fabriken – sodass sie keine Zeit mehr hatten, ein Feld oder einen Garten zu bewirtschaften und lange Zeit mit kochen zu verbringen. Vielmehr mussten sich die Betroffenen von gekauften Lebensmitteln ernähren – und diese mussten einen höheren Nährwert besitzen, schneller in der Zubereitung und länger haltbar sein (2). Die neu entstandene Nachfrage versuchte die Lebensmittelindustrie zu befriedigen.
Der technische Fortschritt verbesserte das Transport-
wesen und die Kommunikation und ermöglichte eine
Mechanisierung bisher handwerklich-manuell aus-
geführter Arbeiten. Dank der dampfbetriebenen
Ozeanschiffe und der Eisenbahn wurde beispielsweise
neu Mehl aus Gebieten mit Agrarüber-
schüssen importiert. Dies brachte die einheimische Müllerei in Bedrängnis, unter anderem den Müller Julius Maggi in Kempttal. Er nutzte die Krise als Chance
Les débuts de l‘industrie alimentaire suisse de 1850 à 1910
und entwickelte neue Produkte, nämlich Pulversuppen, Bouillonwürfel und die Maggiwürze (3).
Mots clés: usines de fabrication d’aliments – industrialisation –nutrition et science – Nestlé – Maggi
Unternehmertum und der wissenschaftliche Blick auf die Ernährung
Der gesellschaftliche und technologische Wandel des 19. Jahrhunderts bot günstige Voraussetzungen für die Entstehung einer Nahrungsmittelindustrie, es brauchte jedoch auch innovative Unternehmer und Geldgeber, welche den Schritt ins Neuland wagten: In der Schweiz waren das neben dem Suppen-, Bouillon- und Würzehersteller Julius Maggi (1884) (4) zum Beispiel die Gebrüder Page mit der Kondens-
Pendant la période comprise entre 1850 et 1910, la révolution industrielle s‘est aussi invitée à la table des Suisses: des aliments déjà connus comme les pâtes ou les conserves de légumes ont commencé à être fabriqués industriellement et commercialisés en grandes quantités. De nouveaux produits comme la «Farine lactée pour enfants» de Nestlé ou l’«arôme liquide Maggi» ont été inventés. L‘article rappelle les circonstances qui ont favorisé l’apparition des premières usines de fabrication d’aliments en Suisse et le rôle joué par la science de la nutrition encore balbutiante dans la création de l‘industrie alimentaire.
1. Ganzer Abschnitt vgl. Seifert 2008. S. 21. Dies ging jedoch zu Beginn noch nicht problemlos vonstatten, wie das Beispiel der Firma Maggi zeigt, welche einen eigenen Gutsbetrieb etablieren und so die Rohstoffproduktion in seinem Betrieb integrieren musste, um den grossen Bedarf an Gemüse für seine Fabrik zu befriedigen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Maggi sogar der grösste Gutsbesitzer der Schweiz. 2. Vgl. Tanner, J. Ernährung. In: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16224.php, abgerufen am 26.05.2017. 3. Ganzer Abschnitt vgl. Seifert 2008. S. 27.
4. Vgl. Seifert 2008. S. 154–157. 5. Die Fleisch-, Gemüse- und Fruchtkonservenfabrik von Karl BurkhardtGänsli in Frauenfeld fusionierte 1906 mit der 1886 in Lenzburg gegründeten Konservenfabrik Lenzburg Henckell & Zeiler, welche 1889 in Conservenfabrik Henckell und Roth umbenannt wurde. Aus den beiden Anfangsbuchstaben Henckell und Roth entstand 1910 die Fabrikmarke Hero. Im Angebot standen damals verschiedene Erbsen, Bohnen, Karotten, Pilze, Tomatenpüree und Spargeln. Vgl. Koellreuter 2001. S. 14 und 18.
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GESCHICHTE DER ERNÄHRUNG IN DER SCHWEIZ
Motorpflug der betriebseigenen Landwirtschaft von Maggi, Kemptthal. Anfang 20. Jahrhundert. © Nestec S.A.
milchfabrik Anglo-Swiss Condensed Milk Company in Cham (1866), Henri Nestlé mit der Fabrik für «Kindermehl» in Vevey (1867), dann die Konservenfabrikanten Karl Burkhardt-Gänsli in Frauenfeld (1868) (5), Wallrad Ottmar und Philipp Emil Bernhard in Rorschach (1868) (6) und Gustav Henckell und Gustav Adolf Zeiler in Lenzburg (Hero, 1886) oder – etwas später – Unternehmer der Schokoladen(7) und Milchindustrie (8, 9). Weitere wichtige Akteure waren Wissenschaftler aus den Bereichen Chemie, Physiologie, Medizin, Physik und Landwirtschaft, die sich mit der Erforschung der Lebensmittel, ihrer Zusammensetzung, Verarbeitung und Haltbarmachung sowie mit der Frage nach einer gesunden Ernährung auseinandersetzten. Bei der Entstehung der Lebensmittelindustrie spielte diese neue Forschungsrichtung in dreierlei Hinsicht eine wichtige Rolle (10). Erstens lieferte die Lebensmittel- und Ernährungsforschung technische und wissenschaftliche Vorausset-
6. 1868 gründeten Wallrad Ottmar und Philipp Emil Bernhard eine Konservenfabrik in Rorschach, die später vor allem als Lieferant von Fleischkonserven für die Armee bekannt wurde. 1891 wurde die Firma umbenannt in schweizerische Armeekonservenfabrik Bernhard & Co., 1916 ging daraus die Firma Roco Conservenfabrik Rorschach hervor. Aus der Roco wurde die Frisco-Findus in Rorschach, heute eine Division der Nestlé. Vgl. Müller P: Bernhard, Wallrad Ottmar in www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D31034.php abgerufen am 17.07.2017. 7. Dies waren unter anderem die Firmen Lindt, Tobler, Suchard und PeterCailler-Kohler (später Nestlé). Vgl. zur Geschichte der Schokoladenindustrie ausführlich Rossfeld R: Schweizer Schokolade; Industrielle Produktion und kulturelle Konstruktion eines nationalen Symbols 1860–1920. 2007. 8. 1892 wurde die Société Laitière des Alpes Bernoises AG (Staldencrème) gegründet. Vgl. Fenner 2007. S. 40. 9. Ganzer Abschnitt vgl. Pfiffner, A. Konservenindustrie in www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D13999.php, abgerufen am 26.05.2017. 10. Der Historiker H. J. Teuteberg geht sogar so weit, die «Entstehung (der Lebensmittelindustrie, Anm. d. Verf.) hauptsächlich den revolutionären Erkenntnissen der neuen Ernährungswissenschaften» zuzuschreiben. Teuteberg 1987, S. 14. 11. Das Konservieren an und für sich war keine Neuerfindung des 19. Jahrhunderts: Die Menschen haben zu allen Zeiten versucht, Lebensmittel haltbar zu machen, um Vorräte anzulegen. Bereits aus dem Alten Ägypten ist eine Art Kuchen bekannt, welche zwischen zwei Kupferformen gebacken wurden, worauf sich ein Vakuum bildete und das Gebäck haltbar wurde, damit es den Toten auf der Reise ins Jenseits als Wegzehrung dienen konnte. Viele bereits in vorindustrieller Zeit bekannte Methoden wie zum Beispiel das Kühlen, Trocknen, Dörren, Rösten oder Einkochen griff die Lebensmittelindustrie auf, verfeinerte und mechanisierte sie. Vgl. Seifert 2008. S. 42. 12. Vgl. Fenner 2008. S.104. 13. Vgl. Lütolf 2005. S. 14 ff. Nach Louis Pasteur wurde die Pasteurisation benannt, ein Verfahren, das bei einer kurzen Erwärmung auf 60 bis 90 Grad gewisse Mikroorganismen abtötet, jedoch anders als bei der Sterilisierung Geschmack und Konsistenz des Lebensmittels nur unbedeutend verändert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Pasteurisation der Milch, welche 1886 erstmals durchgeführt wurde. Vgl. Seifert 2008. S. 42.
14. Beim Sterilisieren werden Lebensmittel durch Erhitzen und luftdichtes Abschliessen in Glasbehältern konserviert. Appert gewann 1804 mit dieser Technik einen Wettbewerb von Napoleon, welcher gut haltbare Lebensmittel für seine Armee brauchte. Mit dem Gewinnen des Wettbewerbs war die Auflage verbunden, das Verfahren der Öffentlichkeit bekannt zu machen, was Appert auch tat. 1810 erschien sein Werk: l’art de conserver pendant plusieurs années toutes les substances animales et végetales. Etwa 70 Jahre später schrieb auch Napoleon III. einen Wettbewerb aus, diesmal um einen Ersatz für Butter zu erhalten. Der Gewinner dieses Wettbewerbs erfand die Margarine, die man zunächst «Mundfett» nannte. Vgl. Rohrer 2008. S. 164 f. 15. Um 1900 waren alle Nährstoffe und ihre Aufgabe im menschlichen Organismus bekannt, ausser die Vitamine. Vgl. Rossfeld 2003, S. 77. Erst in den 1920er-Jahren gelang es, die ersten Vitamine zu isolieren und synthetisch herzustellen. Vgl. Hirschfelder 2005 S. 206. Verschiedene Wissenschaftler, so z.B. der Arzt und spätere Fabrikinspektor Fridolin Schuler, gaben Ratschläge für eine gesunde Ernährung. Diese glichen technischen Anleitungen für den Betrieb einer Maschine. Das Ziel der guten Ernährung war ein optimales Funktionieren und grösstmögliche Leistung. Vgl. Thoms 2002. S. 51 ff. und Seifert 2008. S. 50. 16. Vgl. Mani 1976. S. 63. 17. Justus von Liebig (1804–1873), ein deutscher Chemiker, vertrat diese damals populäre These. Er machte sich vor allem durch die Sammlung und systematische Erfassung des damaligen Wissensstands verdient. 1847 entwickelte er ein Verfahren zur Herstellung von Fleischextrakt. Daraus ging später die Bouillon- und Suppenindustrie hervor. Vgl. Spiekermann 2002. S. 25. 18. Schuler war der erste eidgenössische Fabrikinspektor von 1878 bis 1902. Er verfasste umfangreiche Werke zur Wohn- und Ernährungslage der Arbeiter, der Fabrikhygiene und gilt als Begründer der schweizerischen Arbeiterschutzgesetzgebung. Vgl. Feller-Vest, V: Schuler, Fridolin in www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D5400.php, abgerufen am 26.05.2017. 19. Schuler, F. 1882. S. 5. Ein Zeitgenosse von Schuler, Heinrich Zschokke, sprach von der «Branntweinpest». Zschokke 1837. 20. Dieser konnte bei der Entwicklung der Leguminosenmehle auf die Unterstützung von Chemie- und Physiologieprofessoren aus Zürich und Basel zählen. Seifert 2008. S. 61. 21. Abdruck des Attests bei Vincon 1992. S. 134.
zungen, zum Beispiel durch die Entwicklung neuer Konservierungsmethoden (11). So erfand der englische Chemiker Edward Charles Howard 1812 eine neue Technik des Eindampfens von Lebensmitteln in einem Vakuumkochapparat. 1856 wurde dieses Verfahren in den USA für die Herstellung von gezuckerter Kondensmilch weiterentwickelt und schliesslich 1866 von der Anglo-Swiss Condensed Milk Company in die Schweiz gebracht. 1905 fusionierte dieses Unternehmen mit Nestlé (12). Ein weiteres Beispiel für die wissenschaftliche Vorarbeit ist der Bakteriologe Louis Pasteur, welcher 1858 entdeckte, dass durch Erhitzen Fäulnisbakterien abgetötet werden (13). Er lieferte damit die wissenschaftliche Erklärung für die Erfindung des Sterilisierens (14) durch den Franzosen Nicolas-François Appert. In der Schweiz machte sich vor allem die Konservenindustrie, beispielsweise die Konservenfabrik Lenzburg, dieses Verfahren zunutze. Zweitens begann sich die Wissenschaft auch für die Frage zu interessieren, wie viel und welche Lebensmittel der Mensch braucht, um gesund und arbeitsfähig zu sein (15). Dabei sahen sie den menschlichen Körper in Analogie zur Dampfmaschine als Maschine, die mit genügend und richtiger «Energie» betrieben werden musste, um leistungsstark und gesund zu sein (16). Eiweisse, vor allem tierischen Ursprungs, galten als wichtigste Substanz für die Ernährung des Menschen (17). Die ersten Pulversuppen von Julius Maggi, die sogenannten «Leguminosenmehle», sollten auf der Basis von Hülsenfrüchten eine gesunde und schnell zuzubereitende, eiweisshaltige Nahrung für die Fabrikarbeiterschaft liefern. Der Arzt und eidgenössische Fabrikinspektor Fridolin Schuler (18) schrieb über die ideale Ernährung der Fabrikarbeiterschaft: «Der Fabrikarbeiter bedarf mithin einer leichter verdaulichen Nahrung als die meisten anderen Arbeiter, für ihn passt nicht die Kost des Bauern (…). Was dem Fabrikarbeiter Not tut, sind verhältnismässig reichere Albuminate (Eiweisse, Anm. d. Verf.) animalischer Abstammung, sei es in Form von Fleisch, der wünschbarsten, sei es in derjenigen von Milch oder Molkereiprodukten; Genuss von Fetten in passender Form, (…) Kohlenhydrate in einer den Verdauungssäften leicht zugänglichen Form, wie zum Beispiel die besseren Brotsorten sie bieten, und nicht in den Massen Kartoffeln oder Gemüse, welche nur allzu oft die Ursache der häufigen Säurebildung, sowie anderer Verdauungsstörungen bei den Fabrikarbeitern werden.» Schuler vermittelte Julius Maggi an die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, welche die Entwicklung und Vermarktung der Leguminosenmehle unterstützte. In der Realität bestanden die Mahlzeiten der Fabrikarbeiter aber meist aus Kaffee-Ersatz, Kartoffeln, Mehlsuppe, selten Gemüse, fast nie Fleisch und – wie oft beklagt wurde – viel zu viel billigem Alkohol (19). Drittens unterstützten einige Lebensmittelwissenschaftler Fabrikanten wie Julius Maggi bei der Entwicklung und Vermarktung ihrer neuen Lebensmittel (20). Ein Kantonschemiker und ein Arzt verfassten ein Gutachten über die Zusammensetzung und die Gesundheit der Leguminosenmehle, welches
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Maggi dann zu Werbezwecken verwendete (21). Auch andere Lebensmittelhersteller betonten immer wieder, dass ihre Produkte den zeitgenössischen Ernährungslehren entsprächen, beteiligten sich an der Diskussion um gesunde Ernährung (22) und unterstützten und förderten die Ernährungsforschung (23).
Die Vermarktung der neuen Lebensmittel
Die Lebensmittelindustrie leistete auf dem Gebiet der Werbung Pionierarbeit. Denn für neue, unbekannte, fertig verpackte Lebensmittel brauchte es Erklärungen und Überzeugungsarbeit. Vor der industriellen Revolution war es verpönt und verboten, auf Kundenfang zu gehen. Ziel der meist zünftisch organisierten Produktion war die Bedarfsdeckung, die Kundschaft war den Produzenten oft persönlich bekannt. Mit der Entwicklung einer massenhaften Produktion in Fabriken, der wachsenden Konkurrenz und einer immer grösseren Distanz zwischen dem Hersteller und seinem anonymen Kundenkreis (24) mussten neue Wege gefunden werden, den Konsumenten ein Produkt zu vermitteln: Es entwickelte sich die moderne Wirtschaftswerbung und das Konzept des Markenartikels. Die Lebensmittelfabrikanten setzten Zeitungsinserate, Plakate und Emailschilder ein und verfolgten verschiedene Werbestrategien. So griffen sie zum Beispiel auf bürgerliche Vorstellungen über die Familie und die Rolle der sparsamen Hausfrau zurück, betonten die Qualität, die Gesundheit, die Natürlichkeit und die Nahrhaftigkeit des Produktes, wobei man gern auf wissenschaftliche Autoritäten verwies, oder sie stellten das Produkt in einen typisch schweizerischen Kontext (25). Das Konzept des Markenartikels besteht aus Verpackung, Etikette, Markenzeichen, Qualitätsgarantie und Markenwerbung. Der Markenartikel musste die wegfallende persönliche Beziehung zwischen Konsumenten und Herstellern ersetzen, den Verbrauchern eine Orientierungshilfe bei den fertig verpackten, nicht mehr sicht-, riech- und tastbaren Lebensmitteln bieten und das durch Lebensmittelfälschungen (26) gestörte Vertrauen der Kunden wiedergewinnen. Durch ihre Markenzeichen setzten die Lebensmittelfabrikanten ihre Produkte klar von jenen der Konkurrenz ab und etablierten so ein Wiedererkennungsmerkmal, das die Qualität garantierte (27).
Auswirkungen der industriellen Lebensmittelproduktion bis heute
Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, die zunehmende Globalisierung der Märkte und die Entstehung der Lebensmittelindustrie führten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einer Vergrösserung und Stabilisierung des Nahrungsangebots (28). Die Hungerkrisen von 1816 bis 1817 und von 1845 bis 1847 waren die letzten ihrer Art in Europa. Man darf jedoch die Verbreitung der industriellen Lebensmittel – der Konservendosen, Bouillonwürfel, Kondensmilch oder Pulversuppen – in ihren Anfangsjahren nicht
überschätzen. Gerade die Fabrikarbei-
terschaft konnte sich die teuren Indus-
trieprodukte noch lange nicht leisten –
die ersten Verbraucher waren die bür-
gerliche Elite, Restaurants und das Mi-
litär (29). Von einem Alltagskonsum
bei breiteren Bevölkerungsschichten
kann man erst in der Zwischenkriegs-
zeit sprechen (30).
Während die Quantität der Nahrung
zunahm, sank gleichzeitig die Qualität
der Ernährung für viele Menschen.
Denn viele der industriell hergestellten
Lebensmittel waren ärmer an Vitami- Maggi-Betriebslabor in Singen, um 1920, © Nestec S.A.
nen und Ballaststoffen, fett- und salz-
haltiger (31). Ausserdem stieg der Zucker-, Bier- und
Schnapskonsum, und viele hatten, zumal in den Städ-
ten, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser (32).
Milch kam immer weniger auf die Schweizer Tische,
sondern wurde exportiert. Die Menschen mussten
ihre Lebensmittel einkaufen und waren so von den
Schwankungen der Märkte abhängig (33). Bei den in-
dustriellen Lebensmitteln kam es zudem immer wie-
der zu Qualitätsmängeln, Fälschungen oder gar Ver-
giftungen (34). Trotzdem ebnete die industrielle
Nahrungsmittelproduktion in der Schweiz den Weg
für die Beseitigung des Nahrungsmangels und für die
Etablierung eines stabilen Lebensmittelangebots für
alle Bevölkerungsschichten.
Die Industrialisierung der Lebensmittel ist bis heute
nicht abgeschlossen, wie aktuelle Ernährungstrends,
zum Beispiel «Free from»-Lebensmittel oder
«Functional Food» (35), zeigen. Heute handelt es sich
bei der Lebensmittelindustrie in der Schweiz um eine
volkswirtschaftlich bedeutende Branche (36). Wer-
bung und Markenartikel werden auch in Zukunft an
Bedeutung nicht verlieren (37). Wie bereits früher gab und gibt es immer auch kritische Stimmen und Gegenbewegungen (38) zur Industrienahrung. Aus unserem Alltag wegzudenken ist sie für viele jedoch
Korrespondenzadresse: Annatina Tam (-Seifert) Historikerin lic. phil. I. Langfurrenstrasse 34f
nicht mehr.
8623 Wetzikon
22. So z. B. auch Hero. Vgl. Koellreuter 2011. S. 112 f. 23. So gehörte z.B. die Kaffeeforschung Ende des 19. Jahrhunderts zum Kanon der Fachdisziplin Ernährungswissenschaft und wurde von der Ersatzkaffee-Industrie stark gefördert – diese hatte ein grosses Interesse daran, die Eigenschaften des Kaffees genau zu kennen, denn ihre Produkte sollten diese Eigenschaften so gut wie möglich kopieren. Vgl. Rossfeld 2002. S. 237. 24. Vgl. Schärer 2008. S. 4 f. 25. Ganzer Abschnitt vgl. Seifert 2008. S.131 ff. 26. Bei den industriellen Lebensmitteln kam es immer wieder zu Qualitätsmängeln, Fälschungen oder gar Vergiftungen. Vgl. Seifert 2008. S. 154–157. 27. Vgl. Seifert 2008. S.141 ff. 28. Vgl. Tanner, J. Ernährung. In: www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D16224.php, abgerufen am 26.5.2017. 29. Rohrer 2008, 166. 30. Rohrer 2008, 162. 31. Hirschfelder 2005. S. 206. 32. Hirschfelder 2005. S. 207. 33. Vgl. Tanner, J. Ernährung. In: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D16224.php, abgerufen am 26.05.2017. 34. Vgl. Seifert 2008. S. 141 ff., 154–157.
35. Es gebe, so der Trendforscher Sven Gabor Janszky aus Leipzig, einen klaren Trend zu mehr Ergänzungsmitteln in der Nahrung. Ein Beispiel sind die Energy-Drinks oder probiotische Joghurts. Vgl. www.n-tv.de/wissen/Das-sind-die-Essen-Trends-der-Zukunft-article 11980391.html, abgerufen am 26.7.2017, und www.tages-spiegel.de/wirtschaft/nahrungs-trends-der-zukunft-kleines-lexikon-der-ernaehrungstrends/283072.html, abgerufen am 26.7.2017. 36. 2012 waren 203 Firmen mit insgesamt 37 436 Beschäftigen in der Branche tätig. Dabei sind die Zulieferfirmen für Rohstoffe, Halbfabrikate, Zusatzstoffe und Verpackungsmaterial, die Maschinen- und Geräteindustrie und die Werbebranche noch nicht mitberücksichtigt. Die Branche machte 2012 einen Umsatz von 17 682 Mio. Fr. Vgl. fial Statistik 2012: Die Schweizer Nahrungsmittelindustrie im Jahr 2012. www.fial.ch/dokumente/statistiken/ abgerufen am 26.7.2017. 37. Gemäss Szenarien-Entwickler Christian Schindler werde das Design der Verpackungen zukünftig noch eine grössere Rolle spielen, da damit das Image eines Produkts aufgewertet werden könne. Vgl. www.n-tv. de/wissen/Das-sind-die-Essen-Trends-der-Zukunft-article11980391.html, abgerufen am 26.07.2017. 38. Herkunft und Nachhaltigkeit werden vielen Menschen bei Nahrungsmitteln immer wichtiger. Vgl. www.n-tv.de/wissen/Das-sind-die-EssenTrends-der-Zukunft-article11980391.html, abgerufen am 26.7.2017.
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GESCHICHTE DER ERNÄHRUNG IN DER SCHWEIZ
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Gedruckte Quellen Schuler, F: Über die Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel. Erstes Referat für die Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 1882. Zschokke H: Die Branntweinpest. Eine Trauergeschichte zur Warnung und Lehre für Reich und Arm, Alt und Jung 1837. Foederation der Schweizer Nahrungsmittel-Industrien: Die Schweizer Nahrungsmittelindustrie im Jahr 2012. www.fial.ch/dokumente/statistiken/abgerufen am 26.07.2017.
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