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PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Insulin-Purging: Das bewusste Reduzieren von Insulin
Silvia Wilhelmi
In der Schweiz leben zirka 40 000 Menschen mit Typ-1-Diabetes (T1D) (14). Im Alltag setzt dies eine hohe Eigenverantwortung und ständige Kontrolle des Diabetes voraus (9). Die andauernde eigene kognitive Kontrolle, die Akzeptanz der lebenslangen Therapie, die soziale Belastung* und die eingeschränkte Spontanität stellen Personen mit T1D vor Herausforderungen und können sogar so beschwerlich sein, dass es zu einem gestörten Essverhalten kommt (3).
Silvia Wilhelmi
Unter dem Begriff Purging wird eine gegensteuernde Massnahme verstanden, um aufgenommene Energie umgehend aus dem Organismus zu entfernen.
* Soziale Belastungen in Form von Schuldgefühlen bei Vernachlässigung des Diabetesmanagements, Mitleid, Diskriminierung, Angst vor Folgeerkrankungen, Komplikationen und die damit verbundenen Zukunftsängste.
Einleitung
Die Autoimmunerkrankung bedingt nach der Diagnose ein lebenslanges Krankheitsmanagement. Der Fokus des Diabetesmanagements liegt auf der Insulintherapie und der Ernährung (15). Das Zusammenspiel der Blutzuckerwirksamkeit von Nahrungsmitteln und Insulinbehandlung ist die Basis für eine zufriedenstellende Stoffwechseleinstellung (5). Weitere wichtige Faktoren sind körperliche Aktivitäten und Gewichtsregulation. Das Diabetesmanagement erfordert eine kontinuierlich protokollierte Blutzuckermessung, die unabdingbar für eine angepasste Insulinsubstitution ist (5). Dies verlangt im Alltag von Personen mit T1D eine hohe Eigenverantwortung und ständige Kontrolle (9).
Insulin-Purging als Form eines gestörten Essverhaltens
Ein gestörtes Essverhalten kann sich entwickeln, wenn ein oder mehrere Risikofaktoren (sog. prämorbide Erfahrungen) wie Kontrollverhalten der Eltern, sexueller Missbrauch, Familiendiäten oder kritische Bemerkungen über Gewicht und Aussehen gegeben sind. Risikoreiche (prämorbide) Charaktereigenschaften sind beispielsweise ein negatives Selbstwertgefühl, Perfektionismus, Ängstlichkeit oder ein negatives Körperbild (15). Die Pubertät an sich gilt schon als Risikofaktor. Bei den Frauen wird dies verstärkt durch die hormonellen Veränderungen, welche meist mit einer Erhöhung der Fettmasse und folglich einer Gewichtszunahme einhergehen (12). Zudem haben junge Frauen mit T1D in der Pubertät einen durchschnittlich höheren Body-Mass-Index (BMI) im Vergleich zu ihren stoffwechselgesunden Altersgenossinnen (17). Diese Risikofaktoren und der ständige Fokus auf die Ernährung erhöhen die Gefahr, ein gestörtes Essverhalten zu entwickeln (17). Bei Personen mit T1D
ist es zudem charakteristisch, dass sich zuerst Diabetes und dann eine Essstörung manifestiert. Ein gestörtes Essverhalten kann auch eine Bewältigungsstrategie der Erkrankung darstellen (15). Nicht nur eine diagnostizierte Essstörung, sondern auch eine subklinische Ausprägung wie Insulin-Purging gehen einher mit einer unzureichenden Stoffwechseleinstellung (9, 10).
Insulin-Purging zur Gewichtsregulation
Unter dem Begriff Purging wird eine gegensteuernde Massnahme verstanden, um aufgenommene Energie umgehend aus dem Organismus zu entfernen (13). Im Falle des Insulin-Purgings wird das Insulin bewusst weggelassen oder reduziert. Dadurch kommt es zum renalen Verlust von Glukose. Als wichtigster Energielieferant des Körpers kann sie so nicht für die Energieversorgung genutzt werden (7). Den T1D-Personen steht damit ein einzigartiges Instrument zur Verfügung, um das Gewicht zu regulieren oder zu reduzieren (12). Insulin-Purging gehört zu den meistbeobachteten Formen eines gestörten Essverhaltens unter Personen mit T1D (10). In einer Studie von Wisting und Kollegen (2013) mit 770 T1D-Personen betrieben 26,2 Prozent der T1D-Frauen im Alter von 11 bis 19 Jahren Insulin-Purging. Bei den gleichaltrigen T1D-Männern ist die Prävalenz mit 4,5 Prozent deutlich tiefer (16). Demgegenüber stehen die Ergebnisse von Hevelke und Kollegen (2016), die eine Studie mit 246 T1D-Probanden und T1D-Probandinnen der gleichen Altersgruppe durchführten. Dabei stellten sie eine Prävalenz von 11,2 Prozent bei den T1DJungen und von 13,2 Prozent bei den T1D-Mädchen fest (10). In einer 11 Jahre dauernden Follow-up-Studie von Goebel-Fabbri et al. (2008) lag das Durchschnittsalter der 234 Frauen mit T1D bei 45 Jahren (13–60 Jahren). Bei 30 Prozent wurde Insulin-Purging festgestellt. Andere Studien gehen bei Frauen mit T1D
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zwischen 15 und 30 Jahren von einer noch höheren Prävalenz von bis zu 40 Prozent aus (7, 12).
Indikatoren und Folgeerkrankung
Die Erkennung von Insulin-Purging gestaltet sich als schwierig, da beim Diabetesmanagement stets auf die Nahrungsaufnahme geachtet werden muss und eine gewisse Fokussierung daher als normal zu betrachten ist (8). Die notwendige starke Auseinandersetzung mit dem Essen kann jedoch eine dysfunktionale Bedeutung annehmen (15) und stellt eine grosse Gefahr für die Lebensqualität und -dauer der Betroffenen dar (4). Insulin-Purging ist stark assoziiert mit einer schlecht eingestellten Stoffwechsellage und einem signifikant schlechteren HbA1c-Wert (2). Weitere Hinweise sind mehrfache diabetische Ketoazidosen, niedriges Gewicht und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper (15). Das eigene Körperbild und der Schlankheitsdruck sind vor allem bei Frauen nachgewiesene Probleme (16). Bei unzureichender Insulindosierung wird eine hyperglykämische Stoffwechsellage induziert. Daraus können verschiedene akute Komplikationen und Folgeerkrankungen entstehen. Die Dauer und die Intensität des Insulin-Purgings beeinflusst deren Ausprägung massgeblich. Spätfolgen sind Retino-, Neuro- und Nephropathie (12). Akute Auswirkungen sind Müdigkeit, Reduktion von Muskelgewebe und Dehydrierung (16). Zudem können Komplikationen wie abnormale Lipidprofile und diabetische Ketoazidose auftreten (4). Bei einer starken hyperglykämischen Stoffwechsellage sind übermässig viele Ketonkörper im Blut (1). Anhaltend hohe Konzentrationen von Ketonkörpern können zu Herzkomplikationen, Nierenversagen, Hirnödem und im Extremfall bis zum ketoazidotischen Koma und Tod führen (11). Bei der Studie von Goebel-Fabbri wurde auch der Zusammenhang von Insulin-Purging mit Morbidität und Mortalität untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Frauen mit Insulin-Purging nicht nur die Mortalität dreimal höher ist als bei T1D ohne Insulin-Purging, sondern dass sie auch eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Folgeerkrankungen zu leiden (6). Eine gute Diabeteseinstellung senkt dieses Risiko massgeblich (15). Es ist deshalb unabdingbar, Fachpersonen aus unterschiedlichen medizinischen Disziplinen für dieses Krankheitsbild zu sensibilisieren (16).
Insulin-Purging in der Schweiz
Da in der Schweiz keine Zahlen über die Prävalenz des Insulin-Purgings bei T1D-Personen vorhanden sind, hat die Autorin dies zum Gegenstand ihrer Bachelorthesis gemacht. Im Zentrum der Arbeit stand die Frage, wie die Tendenz des Insulin-Purgings bei Personen mit T1D ab 18 Jahren in deutschschweizerischen Gesundheitsorganisationen ist. Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen Einblick in die Bachelorthesis und deren Ergebnisse.
Methodik: Für die quantitative Erhebung wurde der Diabetes Eating Problem Survey-Revised (DEPS-R) verwendet, der es ermöglicht, gestörtes Essverhalten und im Speziellen Insulin-Purging zu erfassen. Zusätzlich wurden die soziodemografischen Variablen Geschlecht und Alter erfragt. Ein Verdacht auf Insulin-Purging lag vor, wenn mindestens 27 Prozent der drei Insulin-Purging-Fragen bejaht werden konnten. Ergebnisse: Von 13 angefragten Institutionen haben fünf Institutionen ausgefüllte Fragebogen retourniert. Die Stichprobe umfasste 52 T1D-Personen, davon 22 Männer und 30 Frauen. Das Durchschnittsalter betrug 42 Jahre. Insgesamt wiesen 17,3 Prozent der T1D-Personen (20% der Frauen und 13,6% der Männer) Anzeichen von Insulin-Purging auf. Eine Symptomatik für gestörtes Essverhalten lag bei 26,9 Prozent der Personen vor (Tabelle).
L’«insulin-purging» comme moyen pour perdre du poids
Mots clés: «insulin-purging» – réduction pondérale – diabète de type 1
Les personnes atteintes d’un diabète de type 1 (TD1) sont constamment sous contrôle cognitif, avec une forte contrainte sociale et les restrictions de la spontanéité représentent un tel défi que des troubles prenant la forme d’un comportement alimentaire perturbé sont susceptibles de survenir. Dans le cas de l’«insulin-purging», l’insuline est sciemment omise ou réduite. La conséquence est une perte de glucose par voie rénale. Le glucose est le principal fournisseur d’énergie de l’organisme mais les quantités de glucose ainsi perdues ne peuvent plus être utilisées pour l’approvisionnement en énergie. Les personnes atteintes d’un TD1 disposent de ce fait d’un instrument unique en son genre pour réguler, voire réduire, leur poids.
Tabelle:
Prävalenz von gestörtem Essverhalten und Insulin-Purging bei Personen mit T1D (n = 52)
Gestörtes Essverhalten Insulin-Purging
Frauen 36,7% (11) 20% (6)
Männer 13,6% (3) 13,6% (3)
Total 26,9% (14) 17,3% (9)
Schlusswort
T1D-Personen stellen eine Risikogruppe für die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens dar, insbesondere weisen sie bezüglich Insulin-Purging eine hohe Prävalenz auf. Aufgrund der schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen ist diesem Krankheitsbild eine stärkere Beachtung entgegenzubringen. Die Ergebnisse der Bachelorthesis zeigen, dass auch in der Schweiz eine Tendenz zum Insulin-Purging erkennbar ist. Als Präventionsmassnahme und für eine Früherkennung ist es empfehlenswert, regelmässig ein diabetesspezifisches Screening-Instrument wie den DEPS-R-Fragebogen zu verwenden (15). Mögliche Verhaltensveränderungen im Umgang mit dem Diabetesmanagement können mit diesen Instrumenten früher und präziser erfasst werden. Die Diagnosestellung kann letztlich aber nur im persönlichen Kontakt und durch Fachleute erfolgen. Die Beurteilung ist nicht allein auf die Intensität zu richten, sondern auch auf die individuellen Verhaltensweisen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit. Diese können anhand der psychosozialen Funktionsfähigkeit und des Leidensdrucks festgestellt werden (9).
Korrespondenzadresse: Silvia Wilhelmi BSc in Ernährung und Diätetik Tellstrasse 14 3014 Bern E-Mail: silvia.wilhelmi@hotmail.com
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