Transkript
PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Essstörungen – die systemisch orientierte Ernährungsberatung bei Kindern und Jugendlichen
Shima Wyss*
Die Zahl der übergewichtigen Kinder in der Schweiz ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche ist übergewichtig oder sogar adipös (1). Demgegenüber möchten 70 Prozent der Mädchen abnehmen (2). Im Beitrag wird der systemisch lösungsorientierte Ansatz in der Ernährungsberatung von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen am Kompetenzzentrum für Essstörungen, Metabolismus und Psyche (KEA) am Spital Zofingen AG vorgestellt. Das Vorgehen beruht auf Erfahrungswerten aus der Fachgruppe der Autorin.
Shima Wyss
Ein alter Indianer sass mit seinem Enkel am Lagerfeuer. Nach einer Weile des Schweigens sagte der Alte: «Weisst du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.» – «Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?», fragte der Junge. «Der Wolf, den ich füttere», antwortete der Alte.
Die in der alten Weisheit dargestellte Ambivalenz und der innere Kampf der Betroffenen sind Hauptthemen, die uns in der Ernährungsberatung immer wieder begegnen. In der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung versuchen wir die positive Seite zu stärken und die bestehenden Ressourcen zu aktivieren. Systemisch orientiert zu beraten heisst, dass die Erkrankung nicht als Problem des einzelnen Patienten betrachtet wird, sondern als Störung in seinem Beziehungsgeflecht. Lösungsorientiert bedeutet, dass nicht die Analyse der Störung im Vordergrund steht, sondern die Aktivierung der zur Verfügung stehenden Ressourcen im Patienten selbst und seinem Beziehungsumfeld, sodass der Betroffene selbst eine Lösung zum Problem findet. Die systemisch lösungsorientierte Ernährungsberatung mit Kindern und Jugendlichen drängt der betroffenen Person oder der Familie kein bestimmtes Normalitätskonzept und keine Allgemeinempfehlungen auf. Vielmehr wird versucht, jedem Patienten unter Berücksichtigung seiner Einzigartigkeit zu begegnen. Der spezialisierte Ernährungsberater hilft in diesem Sinne dabei, dass der Patient eigene Lösungen findet, um die Umsetzung selbst zu gestalten. Dabei informiert er den Patienten vorab oder zeitgleich hinsichtlich der aktuellen Empfehlungen der gesunden und ausgewogenen Ernährung. Die Ziele werden individuell und sorgfältig erarbeitet.
Für die Zielformulierung wird besonderer Wert auf folgende Kriterien gelegt: • Ziele sollen für alle Teilnehmer des Systems wichtig
sein, zum Beispiel auch für Kinder selbst, die Eltern, Geschwister und weitere Bezugspersonen. • Ziele sollen eher «klein» und von den Betroffenen als realisierbar und erreichbar formuliert werden, zum Beispiel, dass dreimal pro Woche abends die Kohlenhydratbeilage geschöpft werden soll. • Ziele möglichst positiv formulieren und «Annäherungsziele» gestalten, zum Beispiel: «Ich esse regelmässig» statt «Ich meide Mahlzeiten-Skipping». • Ziele sollen konkret und für andere wahrnehmbar sein. Zum Beispiel: «Ich esse viermal pro Woche ein Stück Brot zum Frühstück.» • Ziele sollen individuell angepasst und nicht auf Vergleiche mit anderen aufgebaut sein.
Ressourcenaktivierung in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
«Der Mensch kennt die Lösung seines Problems, er weiss nur nicht, dass er sie kennt.» Milton Erickson Der systemisch lösungsorientierte Ernährungsberater geht davon aus, dass Patienten alle notwendigen Ressourcen haben, um Probleme selbst lösen zu können. Der Auftrag des spezialisierten Ernährungsberaters liegt darin, die Ernährungsedukation und die Wissensvermittlung rund um das Thema Essen und Ernährung zu gestalten und gleichzeitig die Ressourcen im Gespräch mit den Betroffenen zu aktivieren, sodass der Betroffene die Umsetzung selbstständig gestalten kann. Der systemisch lösungsorientierte Berater fragt den Patienten beispielsweise anhand systemisch formulierter Fragen, «ob die Situation schon einmal besser gewesen ist und was zu diesem Zeitpunkt anders war» oder «was der Patient für die bessere Situation selbst
* BSc Ernährungsberaterin SVDE; Systemisch lösungsorientierte Kurzzeitberaterin; Leiterin Ernährungsberatung und /-therapie; Präsidentin Fachgruppe SLOB SVDE (Systemisch lösungsorientierte Beratung)
Der systemisch lösungsorientierte Ernährungsberater geht davon aus, dass Patienten alle notwendigen Ressourcen haben, um Probleme selbst lösen zu können.
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getan hat». Zukunftsprojektionen wie beispielsweise
die «Wunderfrage» (Wenn über Nacht das Problem,
welches dich zu mir geführt hat, plötzlich nicht mehr
da ist, woran würdest du das am nächsten Morgen, als
Erstes merken?) laden die Betroffenen ein, eine Zu-
kunft ohne das Problem zu beschreiben. So können
positive und individuelle Ziele der Ernährungsbera-
tung herausgearbeitet werden.
Ferner wird in der systemisch orientier-
ten Ernährungsberatung der essverhal-
Troubles de l‘alimentation – conseil nutritionnel systémique chez l’enfant et l‘adolescent
tensgestörte Betroffene nicht unter Verdacht gestellt, sondern den Aussagen wird Glauben geschenkt. So wird das «sinnlose Verfolgungsspiel» verhindert,
das so oft in der Arbeit mit essverhal-
Mots clés: troubles du comportement alimentaire – conseil nutritionnel par recherche de solutions systémiques
tensgestörten Menschen stattfindet. Beispiel: Die Patientin berichtet, dass sie die vereinbarte Energiezufuhr, die
zur Gewichtserhöhung führen sollte, zu
L’article présente l‘approche par recherche de so-
sich genommen hätte. Das Gewicht ist
lutions systémiques dans le conseil nutritionnel
jedoch gesunken. Statt Vorwürfe zu ma-
de l’enfant et de l‘adolescent présentant des
chen, könnten mögliche Fragen dazu
troubles du comportement alimentaire telle
sein: «Wie erklärst du dir die Gewichts-
qu’elle est pratiquée au centre de compétence
reduktion trotz vermehrtem Essen?
pour troubles du comportement alimentaire, mé-
Wann hast du schon einmal zugenom-
tabolisme et psychisme (KEA) à l‘hôpital Zofin-
men. Wie hat das damals gut funktio-
gen AG.
niert? Wie hast du das geschafft? Gab es
jemanden, der dich dabei unterstützen
konnte?» Auch die Angehörigen der
Betroffenen werden nicht als Ursache der Krankheit,
sondern als Ressource betrachtet (1) und in Gesprä-
chen nicht angegriffen, sondern als wichtiger Kom-
munikationspartner angesehen.
Skalierung in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
Ressourcen gemischt hat! (2, S. 51). Mit der Externalisierung wird er nach aussen befördert. In der Ernährungsberatung bedeutet das, dass man etwas, das von dem Patienten als eine persönliche Eigenschaft oder als ein persönliches Merkmal empfunden wird, «aus der Person herausnimmt» und in etwas Aussenstehendes verwandelt. So erhält die Betroffene die Möglichkeit, gegen ihr Problem anzukämpfen, anstatt selbst ein Problem «zu sein». Sie ist nicht an ihrem Problem schuld, sondern erhält ein spielerisches Angebot, selbstverantwortlich gegen das Problem anzugehen (2. S. 51). Das Problem wird überschaubarer, weniger bedrohlich, und die Patienten bekommen den Eindruck, mit dem Problem in Interaktion treten zu können. Diese Technik erlaubt beispielsweise, dass sich eine junge Patientin nicht wie eine «Anorektikerin» beschreibt, sondern als eine Frau, die gegen ihre schädigenden Tendenzen in Form von personalisierten Symbolfiguren (Wolf, Fuchs, Monster, Teufelchen etc.) ankämpft. Es ist dann der hinterhältige Wolf als Symbol der Magersucht, dem es gelingt, die Betroffene in Bezug auf das Essen zu verwirren, und nicht mehr die Betroffene, die sich stur weigert, etwas zu essen. So erhält die junge Frau die Möglichkeit, sich gegen den Wolf zur Wehr zu setzen – oder sogar sich ihm zu widersetzen. Die Technik des Externalisierens in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung ist angebracht, wenn wir die Verantwortung der Betroffenen im Prozess unterstreichen möchten. Betroffene, die von Schuldgefühlen stark belastet werden – vor allem Bulimiepatienten, Patienten mit Binge Eating Disorder (BED) oder kindlicher Adipositas –, erleben diese Methode als eine Art Befreiung, und sie kann daher gerade bei diesen Störungen sehr empfohlen werden.
Skalierungsfragen haben mittlerweile einen festen Platz in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gefunden. Mit der Technik der Skalierung lassen sich neben Ressourcen auch Zwischenziele einfacher aktivieren und festsetzen, zudem geben sie einen guten Überblick über die momentane Situation (1, S. 80). Die Ernährungsberaterin könnte beispielsweise fragen: • «Wie wahrscheinlich ist es, dass du dein Ziel von
5 Portionen Süssigkeiten pro Woche einhalten kannst, wenn 10 top ist und 0 das Gegenteil davon?» • «Die 4. Was kommt denn in diese 4 rein, was ist besser als bei der 1?» • «Wie würdest du erkennen, dass du bereits bei einer 5 bist? Was wäre ein Anzeichen dafür?»
Externalisieren in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
Mit dem Externalisieren versucht die Ernährungsberaterin das Problem nach aussen zu verlagern, damit es greifbarer wird. Ein Feind ausserhalb der Stadtmauern ist beispielsweise leichter zu bekämpfen als einer, der eingedrungen ist und sich unter die eigenen
Interviewtechniken
Die folgenden Interviewtechniken können als eine der vielen systemisch lösungsorientierten Methoden betrachtet werden. In Anlehnung an das bewährte PELZ-Modell wurde die Gestaltung der Erstberatung modifiziert (2, S. 26): Die Buchstaben von PELZ stehen für die vier Themenbereiche, die ein Erstinterview strukturieren: Problemwahrnehmung und Problembeschreibung • Wer hatte die Idee, dass wir uns in der Ernährungs-
beratung treffen? • Bist du (und andere) einverstanden, hier zu sein? • Wer ist dagegen und aus welchen Gründen? • Wer ist dafür und aus welchen Gründen? • Was ist der aktuelle Anlass, Beratung aufzusuchen? Erklärungsmodelle • Wie erklärst du dir, dass du in der Ernährungsbe-
ratung bist? • Welche Erklärung hast du über die Entstehung des
Problems? • Wie erklären es sich die anderen? • Welche anderen möglichen Erklärungen gibt es, die
noch nicht besprochen wurden?
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Lösungsversuche • Was hast du bisher versucht, um eine Lösung zu
finden? • Wie genau hast du etwas ausprobiert? • Was und wie haben andere versucht, Lösungen zu
finden? • Wie waren die Ergebnisse? • Was war besonders hilfreich? • Welche Lösungen gab es, die noch nicht versucht
wurden? Ziele • Welches Ziel hast du für die Ernährungsberatung? • Welche Ziele haben andere? • Woran wirst du – oder andere – merken, wenn das
Ziel erreicht ist? • Wann war es bisher schon so ein bisschen wie der
Zielzustand?
Zirkuläre Fragen in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
In der Ernährungsberatung kommt dem Zuweisungsmodus durch die Eltern, andere Bezugspersonen oder den Kinderarzt besondere Bedeutung zu. Fühlen sich Kinder oder Jugendliche in die Ernährungsberatung «geschickt», bedarf es besonderer (Interview-)Fragen, um die gemeinsamen Ziele zu vereinbaren. Hierzu können kindgerechte Formulierungen durch zirkuläre Fragetechniken angewendet und die Bezugsperson in das Erstgespräch eingebunden werden. Zirkuläres Fragen bedeutet, dass man ab- oder auch anwesende Systemmitglieder in das therapeutische Geschehen miteinbezieht, ohne sie direkt anzusprechen. Beispiele, wie zirkuläre Fragen eingebaut werden können: • «Wenn deine Mutter/dein Vater hier sitzen würde,
was meinst du, würde sie/er sagen, was du tun sollst, damit sie/er zufrieden ist?» • «Was hat sich deine Mutter/dein Vater dabei gedacht, dass du hierherkommen solltest?»
«Ausnahmen» als Methode in der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
Auffälliges Essverhalten ist multifaktoriell. Bereits ab dem frühen Säuglings- und Kleinkindalter ist es bedeutsam, die Balance zwischen den Rahmenbedingungen (z.B. regelmässige Mahlzeiten) und den flexiblen Bedingungen (Gelüste oder dem Thema Essen keine allzu grosse Beachtung zu schenken) immer wieder zu überprüfen. Dies ermöglicht eine achtsame Begleitung der Kinder in ihren Entwicklungsbedürfnissen. Folgende Fragen könnten eine Hilfestellung bieten: • «Gab es schon einmal Essenssituationen, die gut ge-
laufen sind?» • «Gab es schon einmal Zeiten, in denen du das Essen
geniessen konntest?» (Fragen nach den Ausnahmen)
• «Wenn du schon einmal das Essen geniessen konntest: Was habt ihr schon mal ausprobiert, dass es so gut funktioniert hat?» (Frage nach Ressourcen)
• «Welche Glaubenssätze haben dir schon einmal geholfen, damit es ein bisschen besser wird mit den Essattacken?» (Frage nach dem Bodenanker)
Fallbeispiel
Patientin L, adipös, 12-jährig, 8. Sitzung in der Ernährungsberatung. Vorbereitung: Kiste mit diversen Fingerpuppen
Ich frage L, worüber sie heute sprechen möchte. Sie berichtet von der schwierigen Esssituation beim
Abendessen. Sie wisse mittlerweile, was und wie viel sie essen dürfe, die Umsetzung falle ihr jedoch
schwer. Je nach Angebot beim Abendessen könne sie kaum ihre Gelüste zurückhalten.
Ich frage L, was besser werden müsse, und leite so die Idee der Externalisierung ein (1).
L antwortet: «Ich möchte, dass ich beim Abendessen nach einem Teller mit dem Essen aufhören kann.
Meistens bin ich nämlich nicht mehr hungrig, es schmeckt einfach so gut.» Ich lade die junge Patientin
ein, sich zu überlegen, welches Tier aus ihrer Sicht am ehesten die Eigenschaften habe, die sie brauche,
um das Ziel zu erreichen. Sie entscheidet, dass es ein Tier sein müsse mit prägnanten Augen, lustigem
Aussehen und das «locker daherkommen» solle. Offenbar hat L bereits ein Bild vor Augen, daher frage
ich sie, woran sie denke. Die Patientin greift in die Fingerpuppenkiste und holt einen grünen Frosch he-
raus (Abbildung). Spontan stülpt sie sich den grünen Frosch über den Finger und erfreut sich an ihm.
Den nachfolgenden Wortwechsel stelle ich für das bessere Verständnis als Transkription dar:
Ich wende mich der Fingerpuppe zu und fange an, mit dem Frosch zu sprechen:
S: «Hallo Frosch, ich heisse Frau Wyss. Wie ist dein Name?»
L: «Ich heisse Dr. Knopfauge.»
S: «Freut mich. Sag mal, was kannst du denn gut?»
L: «Ich kann gut und locker hüpfen, und ich habe grosse Augen.»
S: «Was noch?»
L: «Und bin grün wie das Gemüse.»
S: «Interessant. Sag, wie hast du das gelernt, so locker umherzuhüpfen?»
L: «Ich kann das einfach. Und ich habe viel geübt.»
S: «Aha. Weisst du, Dr. Knopfauge, dass L deine Eigenschaften so bewundert?»
L: «Eh … nein.»
S: «Magst du L mit deinen Eigenschaften helfen?»
L: «Ja, sicher!»
S: «Dann lass uns einmal überlegen, wo L am ehesten deine Eigenschaften brauchen könnte.»
L: «Ich könnte ihr beim Abendessen helfen.»
S: «Ah, wodurch genau?»
L: «Nach dem ersten Teller könnte ich reinhüpfen und sie daran erinnern, dass sie sich fragen soll, ob
sie noch Hunger habe oder ob das ihr Gluscht sei. Ich würde auch nicht gross den anderen auffallen,
weil ich mich beim grünen Gemüse tarnen kann.»
S: «Welch eine tolle Idee! Magst du mir in der nächsten Sitzung berichten, wie du L helfen konntest
und was sie besser gemacht hat?»
L: «Ja!»
Ich habe mich bei Dr. Knopfauge bedankt und L
gebeten, die Fingerpuppe wegzulegen. An L
gewandt habe ich sie gefragt, ob sie zur Erinne-
rung ein Foto mit sich und Dr. Knopfauge
machen möchte. Sie bejaht und holt das Telefon
ihrer Mutter, die immer noch im Wartezimmer
sitzt. Anschliessend wird ihre Mutter hereinge-
beten. In ihrem Beisein bitte ich die junge
Patientin, die Vereinbarung mit Dr. Knopfauge
zusammenzufassen. Dadurch kann ich sicher-
stellen, ob und wie L das Experiment verstanden
hat. Ihre Mutter äussert sich zustimmend. Der
nächste Termin wird für zwei Wochen später vereinbart.
Foto: zVg
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PSYCHE UND ERNÄHRUNG
• «Gibt es Abläufe, die helfen, die Esssituation zu entspannen?» (Frage nach Ritualen)
• «Welche verrückten Ideen haben auch schon mal geholfen, die Essenssituationen zu entspannen?» (Frage nach Musterunterbrechungen)
Grenzen der systemisch lösungsorientierten Ernährungsberatung
Die systemisch lösungsorientierte Ernährungsberatung hat auch ihre Grenzen, beispielsweise dann, wenn sich die Ziele der Betroffenen nicht mit der medizinischen Sichtweise vereinbaren lassen. Denn dann gilt das klassische ressourcenorientierte Prinzip, dass der Klient «Experte für das eigene Leben» ist, nicht mehr. Die Aufgabe und Pflicht einer Ernährungsfachperson ist es, dem Betroffenen diese Grenzen bewusst zu machen, damit die gesundheitliche Unversehrtheit des Betroffenen sichergestellt ist. Das wäre der Fall, wenn eine 13-Jährige nur noch die Hälfte ihres täglichen Bedarfs isst, damit sie in eine Peergroup für ihre schlanke Figur integriert wird. Denn insbesondere Kinder und Jugendliche können durch eine restriktive Nahrungsverweigerung in eine Mangelernährung geraten, die ihre Entwicklung, im schlimmsten Fall sogar ihr Überleben gefährden kann.
KEA – das Kompetenzzentrum für Essstörungen am Spital Zofingen AG
Kinder und Jugendliche leiden zunehmend an Gewichtsproblemen, häufig verbunden mit komplexen Essverhaltensstörungen. Oft sind Essstörungen kombiniert mit affektiven Störungen wie Angst und Depression, selbstverletzendem Verhalten, Suchtmittelmissbrauch, aber auch Verhaltenssüchten wie zum Beispiel zwanghaftem körperlichem Trainieren. Auch Stoffwechselstörungen wie der Diabetes mellitus steigern das Risiko für eine Essstörung. Im familiären Umfeld finden sich oftmals ebenfalls Betroffene, und die jungen Patienten stehen häufig unter dem Druck der Peergroup, was Figurideale und Konkurrenzverhalten zum Schlankheitswahn betrifft. Um die Betroffenen und ihre Angehörigen in dieser vielschichtigen Problematik bestmöglich unterstützen zu können, bedarf es eines integrativen und nachhaltigen Behandlungskonzepts. Aus diesem Grund arbeitet das KEA multiprofessionell mit einem fächerübergreifenden Therapiekonzept, bestehend aus medizinisch-psychiatrischer, psychologischer, körper- und bewegungstherapeutischer Betreuung sowie Diabetes- und Ernährungsberatung. KEA engagiert sich für eine professionelle Vernetzung auch ausserhalb des Zentrums und bietet Weiterbildungen zu Prävention und Therapie für Fachleute und Laien an.
Auch bei Kindern mit Adipositas ist es Aufgabe und Pflicht einer Ernährungsfachperson aufzuzeigen, dass die Betroffenen bis ins Erwachsenenalter an ihrem Essverhalten arbeiten müssen, um ihr Gewicht längerfristig halten zu können. Die systemische Annahme, dass «kleine Veränderungen eine grosse Wirkung nach sich ziehen können», könnte die Betroffenen sowie ihr Umfeld dazu verleiten, die Ernährungsberatung zu früh abzuschliessen. Eine sorgfältige Rückfallprophylaxe lohnt sich in diesen Fällen, um die Verhaltensänderungen längerfristig stabilisieren und überprüfen zu können. Diesbezüglich könnte ein langsames Ausschleichen der Beratungstermine von Vorteil sein. Falls die kranke Seite doch überhandnehmen sollte, ist die Hemmschwelle, etwas zu unternehmen, so kleiner, als wenn sie sich aktiv wieder melden müssten.
Fazit
Durch das Externalisieren gelang es der Patientin selbstständig, Lösungen für ihre nächsten Schritte zu finden. Ihre Gelüste wurden nicht mehr als der Feind angesehen, gegen den sie ankämpfen musste. Sie fand vielmehr einen spielerischen Weg und konnte so auch ihre Selbstachtung bewahren.
Kontakt: Shima Wyss Kompetenzzentrum für Essstörungen, Metabolismus und Psyche (KEA) Spital Zofingen AG Mühlethalstrasse 27 4800 Zofingen E-Mail: shima.wyss@spitalzofingen.ch
Literatur: 1. BAG, Übergewicht und Adipositas, 2017, www.bag.admin.ch/bag/de/ home/themen/mensch-gesundheit/koerpergewicht-bewegung/koerpergewicht/uebergewicht-und-adipositas.html 2. Narring F, Tschumper A, Inderwildi Bonivento L et al.: Gesundheit und Lebensstil 16- bis 20 -Jährigen in der Schweiz, 2002, Lausanne.
Weiterführende Literatur: Vogt-Hillmann M, Dreesen H: Rituale, Externalisieren und Lösungen. Interventionen in der Kurzzeittherapie. Borgmann-Verlag 2008. Caby F, Caby A: Die kleine Psychotherapeutische Schatzkiste Teil 1. Tipps und Tricks für kleine und grosse Probleme vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter 2014; 51. Vogt-Hillmann M, Burr W: Lösungen im Jugendstil. Systemisch lösungsorientierte kreative Kinder- und Jugendlichentherapie 2009.
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