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PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Achtsam und gezielt essen lernen bei psychiatrischen Erkrankungen und im Alltag
Andrea Hintze1, Lisa Maier2, Ludwig Schaaf3
Mit dem Ziel, eine Methode für die Behandlung chronischer Schmerzpatienten zu kreieren, fand die Achtsamkeit Eintritt in den klinischen Kontext (2). Heute wird die Achtsamkeit bei Depressionen angewandt, aber auch in der Ernährungsberatung bei psychiatrischen Patienten. Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Umsetzung und Wirkung von Achtsamkeit auf den Körper.
Andrea Hintze
Im Klassiker «Momo» von Michael Ende erklärt der Strassenkehrer Beppo der kleinen Momo, was wirklich wichtig zu sein scheint im Leben: «Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein» (1). Diese Metapher auf das beschleunigte Leben der Gesellschaft präsentierte der Autor in seinem Werk bereits 1973. Das in den vergangenen Jahren zum Modewort gewordene Konzept der Achtsamkeit gilt häufig als Antwort auf Burn-out, Erschöpfung, Stress oder gar Depression. 1979 löste Dr. Jon Kabat-Zinn mit der Konstruktion eines verhaltensmedizinischen Stressreduktionsprogrammes (das sog. MindfulnessBased Stress Reduction Program, MBSR) an der Universität von Massachusetts das Konzept der Achtsamkeit aus dem Kontext des Buddhismus und etablierte dieses nachhaltig in der Medizin, der Psychologie sowie der Neurowissenschaft (6). Im Jahr 2000 erfuhr die Meditationsforschung einen Boom in der Wissenschaft. Nachdem das Thema der Achtsamkeit aus dem spirituellen Kontext des Buddhismus herausgelöst worden war, traf es auf grosses Interesse, vor allem in der Gesundheitspsychologie und auch in anderen Bereichen der Medizin (2).
Was ist «Achtsamkeit»?
«Die Vergangenheit ist schon vorbei, die Zukunft noch nicht eingetreten, die Gegenwart ist das Einzige, was wir wirklich zur Verfügung haben, um uns lebendig zu fühlen» (3). Dieses Zitat des amerikanischen Molekularbiologen Dr. Jon Kabat-Zinn widerspiegelt den Kerngedanken des Achtsamkeitskonzepts: im gegenwärtigen Augen-
blick zu sein. Als Synonym zu «achtsam sein» werden häufig die Verben «aufmerken» beziehungsweise «bewusst sein» verwendet (4). Einer ist folglich achtsam, wenn er die Dinge – ob innere Vorgänge und Gedanken oder Phänomene der wirklichen Umgebung – im gegenwärtigen Augenblick bewusst wahrnimmt (5). In der aktuellen klinischen Anwendung wird häufig Kabat-Zinns Definition von Achtsamkeit verwendet: «Achtsamkeit ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, wobei die Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben des aktuellen Augenblicks gerichtet, absichtsvoll sowie nicht wertend ist» (7). Den aktuellen Forschungsstand zur Relation zwischen Gehirn und Achtsamkeit fasste Ullrich Ott unter anderem in seinem Werk «Meditation für Skeptiker» (2010) zusammen. So belegt eine Längsschnittstudie von Hölzel et al. (8) eine Veränderung der grauen Substanz in der Amygdala, im Hippocampus sowie im rechten Inselkortex nach der Teilnahme an einem achtwöchigen MBSR-Kurs. Effekte der Achtsamkeitsübungen auf die Aufmerksamkeit sowie die emotionale Reaktion konnten zudem in mehreren funktionellen Magnetresonanztomografiestudien nachgewiesen werden (9). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bis heute mittels verschiedener Studien die Aktivierung unterschiedlicher Gehirnregionen durch Achtsamkeitspraxis wissenschaftlich belegt werden kann (2, 10). Basierend auf diesen Erkenntnissen fand das Achtsamkeitskonzept Einzug in die Methodik verschiedener psychotherapeutischer Massnahmen wie zum Beispiel zur Behandlung von Ängsten, Depressionen sowie Aufmerksamkeitsdefiziten (2). Verhaltenstherapeutische Ansätze wie die Acceptance and Commitment Therapy (ACT) oder die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) genauso wie die dialektisch-behaviorale Therapie greifen heute auf die Theorie der Achtsamkeitspraxis zurück (7).
Lisa Maier
Ludwig Schaaf
1 Diätassistentin und Kursleiterin für Achtsamkeitstraining. 2 Max-Planck-Institut für Psychiatrie BSc Psychologie; BA Romanistik 3 Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie, Andrologie, Diabetologie und Suchtmedizin, Ernährungsmediziner/ DAEM/DGEM, Max-Planck-Institut für Psychiatrie München
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PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Achtsamkeitspraxis bei psychiatrischen Patienten
Mit dem Ziel, eine Methode für die Behandlung von
Patienten mit chronischen Schmerzen zu kreieren,
fand die Achtsamkeit Eintritt in den klinischen Kon-
text (2). Weitere Anwendungsbereiche sind beispiels-
weise Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, Aids,
Fettleibigkeit und Arthritis (2). Auch zur Rückfallpro-
phylaxe bei rezidivierenden Depressio-
nen wird Achtsamkeit eingesetzt (11).
Apprendre à s’alimenter
Des Weiteren fliessen Achtsamkeits-
en pleine conscience et
praktiken häufig in den Therapieplan
de manière ciblée en cas
zur Traumabehandlung (ICD-10:
de pathologies psychiatriques F43.1) und die damit verbundenen
et au quotidien
Angststörungen (ICD-10: F41) ein (7).
Ausserdem finden sich achtsamkeits-
Mots clés: concepts de base de la pleine cons-
basierte Therapien im Bereich der kli-
cience – thérapie comportementale – psychia-
nischen Suchtbehandlung (ICD 10:
trie F10–F19). Hierzu können auch starke
und regelmässige Heisshungerattacken
Initialement, la «pleine conscience» a fait son
gezählt werden. Im Gehirn abhängiger
apparition en clinique avec pour objectif le dé-
Patienten ist das dopaminerege Beloh-
veloppement d’une méthode pour le traitement
nungszentrum gestört, das heisst, der
des patients souffrant de douleurs chroniques.
Nucleus accumbens zeigt eine erhöhte
Aujourd’hui, cette approche est utilisée en cas
Aktivierung, sodass es zu einer ver-
de dépression, mais aussi dans le conseil nutri-
mehrten Dopaminausschüttung kommt.
tionnel chez des patients psychiatriques. L’article
Im Rahmen des interdisziplinären Kon-
donne une brève vue d’ensemble sur la mise en
gresses zur Meditations- und Bewusst-
œuvre et l’effet sur l’organisme de la pleine
seinsforschung 2010 wurde darüber
conscience.
diskutiert, dass mittels Achtsamkeits-
übungen eine Autoregulation im Beloh-
nungszentrum des Gehirns angeregt
wird, indem durch Meditation Endorphine freigesetzt
werden (12). Folglich besteht die Möglichkeit, die
durch die Suchterkrankung betroffenen Bereiche des
Gehirns mittels Achtsamkeitspraxis zu beeinflussen.
Grundkonzepte der Achtsamkeitspraxis
Der Fokus der Achtsamkeitspraxis liegt vor allem auf folgenden vier Aspekten: • bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit, dies wird
oft mittels gezielter Konzentration auf den Atem trainiert • Gegenwärtigkeit, das heisst, mit allen Sinnen im «Hier und Jetzt» zu sein • den Autopiloten ausschalten und den sogenannten inneren Beobachter aktivieren • Akzeptanz der gegenwärtigen Situation üben.
Achtsam essen im Alltag
Ist es wirklich das Wichtigste, viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukte zu essen, oder ist etwas anderes viel wichtiger? Sicher hat eine ausgewogene Ernährung ihre Richtigkeit und ihren Stellenwert. Aber hilft eine gesunde Ernährung, wenn Sie nicht glücklich sind? Ist es nicht viel wichtiger, dass das Essen schmeckt und man es geniessen kann?
Wer riecht heute beispielsweise noch an seinem Essen oder an seinem Kaffee am Morgen? Und wer nimmt sich die Zeit, sich ganz bewusst zum Essen hinzusetzen, ohne in den Fernseher zu schauen oder Zeitung zu lesen? Das sind leider immer weniger. Doch wer sich in Achtsamkeit übt und sie immer weiter vertieft, kann wieder viele wundervolle Facetten der Lebensmittel und der Natur entdecken. Oft ändert sich dadurch – gemäss unserer Erfahrung in der Arbeit mit psychiatrischen Patienten – auch die Ernährung immer mehr in Richtung einer ausgewogenen, abwechslungsreichen Kost. Denn frische Lebensmittel riechen und schmecken einfach besser als stark verarbeitete. Zudem isst man in einem achtsamen Zustand bewusster: Das Hunger- und Sättigungsgefühl wird wieder wahrgenommen. Man kann zu essen aufhören, wenn ein Sättigungsgefühl eintritt. Somit lässt sich das Risiko für übermässige Kalorienzufuhr reduzieren. Auch regelmässig zwei tiefe bewusste Atemzüge vor dem Essen zu machen, kann bereits eine Wirkung zeigen. Steigt die Achtsamkeit, verbessert sich auch die Körperwahrnehmung. Es kann wieder differenziert werden, ob tatsächlich Hunger vorliegt oder ob gerade aus Langeweile, Frust, Einsamkeit oder Ähnlichem gegessen wird. Achtsamkeit lässt uns auch erforschen, warum wir gerade essen wollen, obwohl kein Hungergefühl gegenwärtig ist. Oft stecken unbefriedigte Bedürfnisse, Emotionen, die der Patient verdrängen möchte, unangenehme Erfahrungen oder gesellschaftliche Aspekte dahinter. Durch den «inneren Beobachter», der eines der wichtigsten Grundmerkmale von Achtsamkeit ist, kann die derzeitige Situation von aussen betrachtet, genauer erforscht und gegebenenfalls tiefer verstanden werden. Dazu zählt auch die Annahme dessen, was ist, und nachfolgend besteht die Möglichkeit zur Veränderung. Wir empfehlen den Patienten auch, jeden Bissen rund 20 Mal zu kauen, um das Essen bewusst schmecken zu können.
Korrespondenzadresse: Lisa Maier Psychologie B.Sc. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10 D-80804 München E-Mail: lisa_maier@psych.mpg.de
Literatur: 1. Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann-Verlag. 2. Ott, U. (2010). Meditation für Skeptiker: Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst. München: Verlag O.W. Berth. 3. Burkhard A: Achtsamkeit. Entscheidung für einen neuen Weg (2. Aufl.). Stuttgart: Schattauer GmbH, 2015. 4. Erber E: Achtsamkeit und Intersein. Der Buddhismus bei Thich Nhat Hanh. Berlin: LIT Verlag Dr. W. Hopf, 2011. 5. Kabat-Zinn J, Segal Z, Teasdal J, Williams M: Der achtsame Weg durch die Depression (5.Aufl.). Freiburg im Breisgau: Arbor-Verlag, 2015. 6. Z.B. Kabat-Zinn; Kappen (2013a): «Gesund durch Meditation: Das grosse Buch der Selbstheilung mit MBSR»; Kabat-Zinn (2013b): «Arriving at your own door: 108 Lessons in Mindfulness»; Kabat-Zinn, Segal; Teasdale; u.a. (2007): «Der achtsame Weg durch dir Depression». 7. Hammer M, Knuf A (Hrsg.): Die Entdeckung der Achtsamkeit in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen. Köln: Psychiatrie-Verlag,
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2013. 8. Hölzel B et al.: Stress reduction correlates with structural changes in the amygdala. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2010; 5, 11–17. 9. Lutz A, Brefczynski-Lewis J, Johnstone T, Davidson R: Regulation of the Neural Circuitry of Emotion by Compassion Meditation: Effects of Meditative Expertise. In: Public Library of Science, doi:10.1371/journal.pone. 0001897, 2008. 10. Es liegen Studien zur Auswirkung von Meditationstechniken auf folgende Bestandteile des Gehirns vor: rechter, vorderer Inselkortex, orbitofrontaler Kortex, rechter Hippocampus, rechter Thalamus, linkes Putamen, Kerngebiete im Hirnstamm sowie linke untere Hirnwindung im Temporallappen (2). 11. Heidenreich T, Michalak J: Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie (2. Aufl.). München: DGVT, 2006. 12. bdw. (2008). Morphiumrausch im Gehirn. In: Bild der Wissenschaft, www.wissenschaft.de/archiv/journal_content/56/12054/1669924/Morph iumrausch-im-Gehirn.
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