Transkript
ERNÄHRUNG IN DER MIGRATIONSBEVÖLKERUNG
Ernährungsberatung von Patienten der Migrationsbevölkerung
Marina Martin
Ernährungsfachpersonen haben in der Beratung immer wieder mit Patienten aus unterschiedlichen Ländern zu tun. Dadurch können in den Beratungen Schwierigkeiten auftreten, und es besteht ein Potenzial für Missverständnisse. Die «interkulturelle/transkulturelle Kompetenz» gewinnt daher immer mehr an Bedeutung, um Patienten aus aller Welt fachkompetent und adäquat betreuen zu können. Was diese Kompetenz beinhaltet und was sie voraussetzt, soll im folgenden Artikel aufgezeigt werden.
Gemäss Bundesamt für Statistik
hat die Schweiz einen Aus-
länderanteil von rund 25
Prozent (Stand Ende
2015). Auch in der Er-
nährungsberatung –
ebenso wie im gesam-
ten Gesundheitswesen
– zeichnet sich dieses
Bild ab, und Fachper-
sonen haben mit Pa-
tienten aus aller Welt
Kontakt.
Grosse Schwierigkeiten kön-
nen sich hinter der sprachli-
chen Barriere verbergen. Diese ist
häufig schwerer zu erkennen, als im
ersten Moment angenommen. So kommt es bei-
spielsweise recht häufig vor, dass Patienten die Frage,
ob das Gesagte verstanden wurde, bejahen. Erst durch
genaueres Nachfragen oder anhand der
(nicht) umgesetzten Massnahmen, wel-
Conseil nutritionnel chez des patients issus de l’immigration
che in der Beratung besprochen werden, bemerkt die Fachperson, dass die Sprachbarriere offenbar grösser als vermutet ist. Dann gilt es herauszufinden, ob tatsäch-
Mots clés: Barrière linguistique – modèle d’assiette – possibilités d’action
lich ein sprachliches Verständnisproblem vorliegt. Dieses kann mithilfe eines Dolmetschers gelöst werden. Es ist jedoch
Acquérir une «compétence interculturelle/transculturelle» prend de plus en plus d’importance afin d’être en mesure de proposer une prise en charge compétente et adéquate à des patients venus du monde entier. L’article décrit ce que contient cette compétence et quelles en sont les
auch denkbar, dass die sprachlichen Kenntnisse des Patienten ausreichend sind und dass andere – nonverbale und/oder ethnische oder kulturelle Schwierigkeiten – vorliegen. Ein Nicken kann beispielsweise Zustimmung, aber
conditions préalables.
auch Höflichkeit oder Verunsicherung
signalisieren. Hinzu kommt, dass der
nonverbalen Kommunikation unbewusst häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die nonverbale Kommunikation ist kulturgeprägt, wobei vor allem der Interpretation dieser Kommunikation eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Der Mensch lernt, Gestik, Mimik und Haltung seiner Mitmenschen zu deuten, und kann so aus Erfahrung prüfen, ob die verbale mit der nonverbalen Kommunikation kongruent ist. Durch ethnische Faktoren gibt es kulturinterne Unterschiede in der nonverbalen Kommunikation, wodurch Verhaltensweisen möglicherweise von der einen Kultur anders interpretiert und gedeutet werden als von einer anderen.
Das Tellermodell: Immer verständlich?
Der kulturelle Hintergrund bringt Rollenverständnisse, Erfahrungen und Einstellungen mit sich, was wiederum auf beiden Seiten (bei der beratenden und bei der ratsuchenden Person) zu Verunsicherung führen kann. Bei der Fachperson kann diese Unsicherheit dazu führen, dass sie auf bisherige Erfahrungen zurückgreift und so Gefahr läuft, den Patienten zu stereotypisieren und zu schubladisieren. Zum Beispiel kann die beratende Person denken: «Der Patient kommt aus Indien, der isst bestimmt sehr viel Reis und Linsen.» Auch Differenzen im Genderverständnis sind zu berücksichtigen.
20 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2017
ERNÄHRUNG IN DER MIGRATIONSBEVÖLKERUNG
Je nach Herkunft hat der Patient ein anderes Verständnis von Gesundheit und gesunder Ernährung. Auch die Nahrungsmittelauswahl und -verfügbarkeit könen im Herkunftsland anders sein als in der Schweiz. Hinzu kommt, dass beim Essen nicht mehr die Nahrungsaufnahme zur Existenzsicherung im Vordergrund steht, sondern dass jede Mahlzeit mit Werten, Normen und Vorstellungen verbunden ist und das Essen mit kultureller und sozialer Identität einhergeht. Dessen muss sich die Fachperson bewusst sein. Ein gerne und häufig verwendetes Hilfsmittel in der Ernährungsberatung ist das sogenannte Tellermodell, ein Bild von einem Teller, auf dem mehrere Lebensmittel liegen. Es soll auf einfache und bildliche Art darstellen, wie eine ausgewogene und gesunde Mahlzeit aussieht (Abbildung). Für einen Schweizer ist dieses Bild mehr oder weniger verständlich, da viele Schweizer Gerichte in etwa so zusammengesetzt sind. Für eine Person aus einem Land, in dem beispielsweise viele Eintöpfe gegessen werden, ist dieses Bild jedoch oft weniger klar verständlich (Kasten 1).
Handlungsoptionen in der Praxis
Wie kann eine Fachperson nun handeln, um Patienten unabhängig vom ethnischen Hintergrund gut beraten zu können? Das Stichwort lautet «interkultu-
relle/transkulturelle Kompetenz» und beschreibt die Fähigkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen angepasst und erfolgreich zu interagieren (Hilfsmittel und Weiterbildungsmöglichkeiten siehe Kasten 2). Um interkulturell kompetent zu sein, bedarf es einer empathischen, fragenden und respektvollen Haltung gegenüber dem Patienten. Frühere Erfahrungen dürfen miteinbezogen werden, sollten jedoch frei von Vorurteilen sein. In Hinblick auf die nonverbale Kommunikation ist es wichtig, dass die Fachperson sich der möglichen Unterschiede bewusst ist und Gesten, Mimik etc. nicht nur nach dem eigenen Kulturverständnis interpretiert. Eine Sensibilität und Offenheit für andere Deutungsweisen ist hier von zentraler Bedeutung. Während des Kontaktes ist eine offene Haltung und die Bereitschaft, Neues lernen zu wollen, notwendig. Die gewonnenen Einsichten sollen aber nicht zu Theorien führen, die ohne Weiteres auf Menschen mit derselben Herkunft angewendet werden können, sondern vielmehr das Feingefühl fördern. So können beispielsweise neue Schlüsselfragen oder Hilfsmittel entstehen, welche bei weiteren Beratungen eingesetzt werden können. Ein neues Hilfsmittel sind zum Beispiel Bilder von landestypischen Speisen. Mit deren Hilfe kann mit Patienten kommuniziert werden und über Menüzusammenstellungen und Mengenangaben
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2017 21
ERNÄHRUNG IN DER MIGRATIONSBEVÖLKERUNG
Kasten 1:
Fallbeispiel: Beratung einer Schwangeren aus Sri Lanka mit Gestationsdiabetes
Frau S. wird aufgrund eines Gestationsdiabetes bei der Ernährungsberatung angemeldet. Die Patientin stammt aus Sri Lanka, spricht Tamil und einige Worte Englisch. Ihr Ehemann, der die Patientin zur Beratung begleitet, spricht Tamil und etwas Deutsch. Das Paar wünscht, dass die Ernährungsberaterin Deutsch spricht, da der Mann besser Deutsch als die Frau Englisch spricht. Der Mann sagt, er wird das Gesagte auf Tamil übersetzen, was sich während der Beratung jedoch als schwierig herausstellt. Häufig beantwortet der Mann die Fragen der Beraterin direkt, ohne die Frage zu übersetzen und so die Patientin zu Wort kommen zu lassen. Nur durch das mehrfache Hinweisen der Beraterin wird Frau S. ins Gespräch integriert. Nach einer ausführlichen Ernährungs-, Sozial- und Krankheitsanamnese versucht die Beraterin mit einfachen Worten, Bildern und mit den Händen die Pathophysiologie des Gestationsdiabetes, mögliche Folgen für Mutter und Kind und die Ernährungsempfehlungen aufzuzeigen. Patientin und Ehemann geben an, das Gesagte verstanden zu haben. Offene Fragen, sagen sie, haben sie keine mehr. Es wird vereinbart, dass Frau S. vorerst so weiterisst wie bisher und dass in der nächsten Beratung anhand der Blutzuckerwerte mögliche Anpassungen besprochen werden. Anschliessend gehen Patientin und Ehemann zur Diabetesberatung, um das selbstständige Blutzuckermessen zu erlernen. Die zweite Beratung findet gemeinsam mit Ernährungsberaterin und Diabetesberaterin statt. Der Ehemann begleitet die Patientin wieder. Die Blutzuckerwerte zeigen, dass vor allem in den ersten Tagen einige postprandiale Werte über dem Zielbereich liegen. Auf Nachfrage erklärt der Ehemann, dass er und die Patientin gemerkt haben, dass Reisgerichte jeweils hohe Blutzucker zur Folge haben. Von der ersten Ernährungsberatung wusste er noch, dass Reis viele Kohlenhydrate enthält und somit wahrscheinlich verantwortlich dafür ist. Durch Meiden von Reis waren die Blutzuckerwerte meist im Zielbereich, jedoch berichtet die Patientin, dass sie häufig hungrig sei und nicht wisse, was sie essen dürfe. Der Ehemann fragt, ob Fladenbrot auch ungesund sei oder ob das eine gute Alternative wäre. Die Ernährungsberaterin zeigt auf, dass weder Reis noch Fladenbrot ungesund und dass beides – trotz Gestationsdiabetes – erlaubt ist. Sie merkt jedoch, dass der Ehemann und die Patientin weiterhin verunsichert sind. Sie nimmt ein Hilfsmittel zur Hand, welches eine Kollegin erarbeitet hat. Es sind kleine Karten, auf denen tamilisches Essen abgebildet ist. Unterschiedlich grosse Reisportionen mit Fleisch-, Fisch- oder Gemüsecurry, mal mit viel/wenig und mal ohne Fladenbrot. Auf der Rückseite ist jeweils ein lachendes oder ein trauriges Gesicht abgebildet. Dem Paar huscht ein Lächeln übers Gesicht, denn sie erkennen die Gerichte sofort wieder (im Vergleich zum Tellermodell, welches in der ersten Beratung verwendet wurde). Dann sind sie jedoch verunsichert und fragen, weshalb beim gleichen Gericht mal ein lachendes und mal ein trauriges Gesicht auf der Rückseite ist. Doch nach einigen Beispielen merken sie, dass es nicht auf das Gericht selber, sondern auf die Menge der einzelnen Komponenten ankommt. Dieser Moment war für alle Beteiligten ein Schlüsselmoment, da nun alle vom Gleichen sprachen und so eine erfolgreiche Beratung durchgeführt werden konnte.
Kasten 2:
Hilfsmittel und Weiterbildungsmöglichkeiten für «interkulturelle/transkulturelle Kompetenz»
Hilfsmittel für Beratungen: Das Fotobuch von menuCH mit Portionengrössen unterschiedlicher Lebensmittel kann beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen gratis bezogen werden. Die Inhalte basieren auf der nationalen Ernährungserhebung. Internet: www.blv.admin.ch/blv/de/home/das-blv/auftrag/beurteilung-gesundheitlicher-risiken.html
Weiterbildungsmöglichkeiten: An der ZHAW Winterthur, Bereich Soziale Arbeit: CAS Kommunizieren und Handeln im interkulturellen Kontext: Internet: https://weiterbildung.zhaw.ch/de/soziale-arbeit/programm/cas-kommunizieren-und-handelnim-interkulturellen-kontext.html Institut für Kommunikation & Führung (ikf): CAS Transkulturelle Kommunikation: Internet: www.ikf.ch/studium/angebote-nach-abschluss/zertifikatskurse/transkulturellekommunikationkompetenzen.html
gesprochen werden, auch wenn deren Sprachkenntnisse eher mässig sind. Lebensmittellisten, welche mit Kohlenhydratangaben unter anderem für Beratungen im Diabetesbereich eingesetzt werden, können so regelmässig angepasst und durch länderspezifische Lebensmittel ergänzt werden. Patienten fühlen sich mehr angesprochen, wenn auf den verwendeten Hilfsmitteln bekannte Lebensmittel und Gerichte zu finden sind. Als wichtiger Schritt zu einer erfolgreichen Betreuung ist die Erstberatung mit dem Beziehungsaufbau hervorzuheben. Nur durch empathisches, wertschätzendes und offenes Auftreten der Fachperson können Patienten Vertrauen fassen und sich auf die Beratung einlassen. Es empfiehlt sich eine ausführliche und sorgfältige Anamnese möglichst ohne Vorurteile und falsche Annahmen. Interesse und Neugier, welche die Fachperson zum Beispiel durch alltägliche Fragen und Fragen zur Kultur oder zum Herkunftsland zeigen kann, schaffen gute Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Basis. Kulturelle Unterschiede in der Kommunikation sollten unbedingt beachtet und wo nötig angesprochen werden.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beratung von Patienten mit Migrationshintergrund Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen mit sich bringen kann, welche jedoch durch das richtige Know-how und durch eine offene, empathische Haltung und ein sensibles Feingefühl zu bewältigen sind.
Korrespondenzadresse: Marina Martin BSc Ernährung und Diätetik Ernährungsberaterin/-therapeutin Klinik für Endokrinologie, Diabetologie & Klinische Ernährung Universitätsspital Zürich Rämistrasse 100 8091 Zürich E-Mail: marina.martin@usz.ch
Quellen: 1. Bannenberg AK: Die Bedeutung interkultureller Kommunikation in der Wirtschaft: Theoretische und empirische Erforschung von Bedarf und Praxis der interkulturellen Personalentwicklung anhand einiger deutscher Grossunternehmen der Automobil- und Zuliefererindustrie. Kassel, 2011. 2. Christen G, Landolt K: Ethnospezifische Vorstellungen von gesunder Ernährung aus Sicht somalischer Migrantinnen. Bern, 2013. 3. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE (2016): Der optimale Teller. 4. Wikipedia, Interkulturelle Kompetenz, abgerufen am 20.4.2017 von https://de.wikipedia.org/wiki/Interkulturelle_Kompetenz
22 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2017