Transkript
EDITORIAL
Ernährung in der Migrationsbevölkerung – ein Buch mit sieben Siegeln?
In der Schweiz leben heute 2,5 Millionen 15-jährige oder ältere Personen mit einem Migrationshintergrund; das ist mehr als ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung (1). Die Mehrheit dieser Menschen stammt aus der EU und den Ländern der Efta. Es gibt zahlreiche Untersuchungen zum Migrationshintergrund oder zum sozioökonomischen Status. Bislang wenig erforscht ist hingegen, wie sich die immigrierte Bevölkerung ernährt. Dahinter verbirgt sich vielleicht ein bis anhin mangelndes Interesse an der Thematik. Das Thema von Ernährung und Gesundheit ist erst in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit präsent geworden. Dementsprechend wenige Public-Health-Daten liegen zu diesem Thema vor. Allerdings ist es schwierig, sich alleine auf den «Migrationshintergrund» zu beschränken, da weitere Merkmale einen Einfluss auf das Ernährungs- und das Bewegungsverhalten haben. Das heisst, wie diese Personen in der Schweiz leben, wie sie integriert sind und auf welche materiellen und kulturellen Ressourcen diese Person zurückgreifen können. Ungeachtet dessen, besteht eine enge Verbindung von Ernährung und Gesundheit. Thomas Volken greift in seinem Beitrag auf Seite 9 ff. den Obst- und Gemüseverzehr in der Migrationsbevölkerung auf. Studien zeigen, dass ein regelmässiger Verzehr von Obst und Gemüse in genügendem Umfang das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko reduziert. In seinem Beitrag zeigen sich wichtige Unterschiede im Verzehr in den einzelnen Migrationsländern, und auch der unterschiedliche Verzehr von Männern und Frauen sollte genau angeschaut werden. Das Projekt PEBS/buggyfit von Sibylle Abt weist darauf hin, wie wichtig eine ausgewogene Ernährung und eine regelmässige Bewegung bereits während der Schwangerschaft sind.
Aber auch wenn versucht wird, Menschen mit Migrationshintergrund intensiv ernährungsmedizinisch zu beraten, zeigen sich grosse Herausforderungen (Beitrag Marina Martin Seite 20 ff.). Es fehlt beispielsweise an transkulturellen Hilfsmitteln für die Ernährungsberatung, und auch das Gesundheits- und Krankheitsverständnis in der Migrationsbevölkerung differiert. Es bedarf vermehrter Weiterbildungsbemühungen, um die interkulturelle/transkulturelle Kompetenz zu fördern. Leila Sadeghi von der Fachhochschule Bern hat im Rahmen des Projektes NutriGeD (Nutrition Gestational Diabetes) das Tool MigMapp© (Migrationsmappe) mit multidisziplinärem Ansatz zum Thema transkulturell kompetente Ernährungs- und Lifestyleberatung tamilischer Migrantinnen mit Gestationsdiabetes mitentwickelt (Seite 13 ff.). Das ist ein interessanter Ansatz mit Zukunft. Sind Akzeptanz und Interesse gross genug an MigMapp©, werden ähnliche Tools auch für andere Migrationsgruppen entwickelt. Es scheint daher, dass das Interesse an der Ernährung in der Migrationsbevölkerung wächst. In den nächsten Monaten werden voraussichtlich mehrere Studien des Schweizer Nationalfonds zu dieser Thematik publiziert. Die Erkenntnisse werden hoffentlich mithelfen, die Ernährungsstrategie 2017 bis 2024 weiterzuentwickeln. Bereits heute verfolgt diese eine Vision: Dass sich alle Menschen in der Schweiz aufgrund der Lebensbedingungen und ihrer eigenen Kompetenz nachhaltig und gesund ernähren und einen gesundheitsfördernden Lebensstil pflegen. Es gibt also noch viel zu tun!
Wir wünschen Ihnen eine angenehme und spannende Lektüre.
Pedro Manuel Marques-Vidal
Prof. Pedro Manuel Marques-Vidal Quartier UNIL-CHUV Rue du Bugnon 21 1011 Lausanne E-Mail: Pedro-Manuel.MarquesVidal@chuv.ch
Referenzen: 1. Bundesamt für Statistik, 22.5.2017, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung.assetdetail.2546 310.html
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2017 1