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SYMPOSIUMSBERICHT
8. Zürcher Adipositassymposium
Adipositas: Konservative und chirurgische Behandlungsansätze
Halid Bas*
Die Fortbildungsveranstaltung Achtes Zürcher Adipositassymposium der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES) widmete sich sowohl konservativen Ansätzen zur Adipositasbehandlung als auch Themen rund um die bariatrische Chirurgie. Dabei kamen auch wichtige Notfälle bei Patienten mit bariatrischer Anamnese zur Sprache.
«Bis heute haben
wir noch kein Medikament, das eine durable
Die Modifizierung des Verhaltens bei Ernährung und Bewegung zeigt eine signifikante, aber geringe Auswirkung auf das Körpergewicht. Gering bedeutet im Mittel –1,56 Kilogramm. Die konservative Behandlung der Adipositas stützt sich auf ein multiprofessionelles Team und soll Ernährungsberatung, psychologische Betreuung, medizinische Betreuung inklusive medikamentöser Therapie und Physiotherapie mit Bewegungsanleitung umfassen. Gerade das Zusammenspiel dieser Aspekte ist für den Erfolg wichtig.
Lösung – wenn man so
»will, Heilung – bieten
kann.
Was vermag die medikamentöse Adipositastherapie?
Über die heute verfügbaren medikamentösen Optio-
nen sprach PD Dr. med. Markus Laimer, Universitäts-
klinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungs-
medizin und Metabolismus am Universitätsspital
Bern. Hierzu stehen im Grunde nur wenige Präparate
zur Verfügung: Lorcaserin (nur in den USA), Topira-
mat plus Phentermin (beide extended release, nur in
den USA), Naltrexon plus Buproprion
(beide retardiert, in den USA und
Obésité: approches thérapeutiques conservatrices et chirurgicales
Europa), Liraglutid (in den USA und Europa) sowie Orlistat (auch OTC). Offensichtlich ist, dass die Zulassungsbehörden in den USA weniger restriktiv
Mots clés: Urgences bariatriques – traitement médicamenteux de l’obésité – thérapies de groupe – chirurgie métabolique
sind, während die europäischen Instanzen die Nebenwirkungen schwerer gewichten. Bei der Suche im Internet kann man aber auf diese Präparate stossen.
La manifestation de formation « Huitième symposium zurichois sur l’obésité » de la Société suisse de nutrition clinique (SSNC) était consacrée tant aux approches conservatrices du traitement de l’obésité qu’à des thèmes liés à la chirurgie bariatrique. Les principales urgences chez des patients avec antécédents de chirurgie bariatrique ont également été abordées.
Der Schwarzmarkt bietet noch weitere problematische Substanzen wie Sibutramin oder Clenbuterol an. «Bis heute haben wir noch kein Medikament, das eine durable Lösung – wenn man so will, Heilung – bieten kann», schränkte Laimer sogleich ein. Von Interesse ist der neu in der Adiposi-
tasbehandlung in einer Dosierung bis 3
mg pro Tag zur subkutanen Injektion zugelassene GLP1-Rezeptoragonist Liraglutid (Saxenda®). Mit Litaglutid 3 mg/Tag erreichten in einer Studie nach 56 Wochen mehr als die Hälfte der Teilnehmenden einen Gewichtsverlust von mehr als 5 Prozent und rund ein Viertel sogar einen Gewichtsverlust von mehr als 10 Prozent. Auffällig ist hier, dass gewisse Patienten sehr gut ansprechen, andere kaum oder gar nicht. Die Therapie ruft häufig Übelkeit hervor. Die anfängliche häufige Nebenwirkung wird mit der Zeit jedoch geringer. Zur Überwachung der Therapie machte Laimer praktische Angaben. Nach Beginn sollen 1-mal wöchentlich während 4 Wochen, danach monatlich für 3 Monate, Kontrollen erfolgen. Diese müssen Gewichtsverlauf, Blutdruck, Herzfrequenz und Fragen nach Nebenwirkungen umfassen. Nach 4 Monaten soll eine Bestandesaufnahme erfolgen: Ist eine Gewichtsabnahme von mehr als 5 Prozent erzielt worden, kann die Behandlung weitergeführt werden. War die Gewichtsabnahme geringer, soll die medikamentöse Therapie abgesetzt werden, wie Laimer betonte.
Wie erkennt man die Eignung für die Gruppentherapie?
Als wichtige Punkte einer Ernährungsberatung im Rahmen der Adipositastherapie charakterisierte Mieke Jacobs, Ernährungsberatung, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich: • Ernährungsumstellungen • Bewusstwerden des eigenen Essverhaltens • mehr Aktivitäten im Alltag und zusätzlich Sport • Entspannung und Belohnung • Annehmen von Hilfe in Form von unter anderem
Psychotherapie, Bewegungstherapie. Ist der letzte Punkt akzeptiert, stellt sich die Frage nach Einzel- oder Gruppentherapie. Am Universitätsspital Zürich werden seit 2005 Gruppentherapien für
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Adipöse durchgeführt. Seit 2010 geht der Aufnahme in ein Gruppenprogramm ein Eignungs- und Abklärungsgespräch voran. «Nicht jeder ist per definitionem für eine Gruppe geeignet», betonte Jacobs, «und nicht jeder realisiert, was das eigentlich bedeutet, an einem Gruppenkurs teilzunehmen.» Das Eignungsgespräch umfasst zunächst eine Anamnese mit Gewichtsverlauf und vorherigen Diäten, ferner eine Bewegungs- und Sozialanamnese. Nur in ausgewählten Fällen wird auch eine kleine Ernährungsanamnese inklusive «Problemessen» erhoben. Wichtig ist hingegen die Diskussion der Motivationsgründe, der individuellen Vorstellungen und Ziele. Ausserdem müssen Hindernisse geklärt werden. Schliesslich werden die Vor- und Nachteile des Gruppenprogramms mit kognitiver Verhaltenstherapie besprochen. Als Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Gruppentherapie nannte Jacobs: • einen Body-Mass-Index (BMI) von > 30 kg/m2 • gute Deutschkenntnisse in Konversation und Text-
verständnis (um die abgegebenen Unterlagen verstehen zu können) • die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Essverhalten auseinanderzusetzen und regelmässig ein Ernährungsprotokoll zu führen • die Bereitschaft für Veränderungen in der Ernährung, im Essverhalten und der Bewegung • die Bereitschaft, sich in einer Gruppe von 6 bis 10 Personen zu integrieren • die zeitliche Kapazität für 16 Sitzungen und 15 bis 30 Minuten Hausaufgaben täglich über 6 bis 8 Monate.
nicht kontrolliert werden kann. Ferner sei eine Operation auch bei einem BMI von 30,0 bis 34,9 kg/m2 in Betracht zu ziehen, wenn die Blutzuckererhöhung mit optimal dosierten oralen oder injizierbaren Medikamenten nicht zu kontrollieren ist. Der metabolischen Chirurgie sagte Bueter eine glanzvolle Zukunft voraus, einerseits wegen der erwarteten Zunahme der Zahl übergewichtiger und adipöser Menschen mit Typ-2-Diabetes, andererseits wegen der derzeit diskutierten weiteren metabolischen Indikationen wie nicht alkoholische Steatohepatitis (NASH), nicht alkoholische Fettleber (NAFLD), Dyslipidämie, obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSAS) oder Hypertonie.
Metabolische Chirurgie: ja, aber für wie viele?
Wem drohen Essstörungen nach bariatrischer Chirurgie?
Als Definition der metabolischen Chirurgie nannte Prof. Dr. med. Marco Bueter, Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie, Universitätsspital Zürich, «jede chirurgische Intervention am Gastrointestinaltrakt, die zu einer Verbesserung einer diabetischen Stoffwechsellage oder anderer metabolischer Parameter führt». Die Therapieeffekte sind dabei sowohl abhängig als auch unabhängig vom Gewichtsverlust. Demgegenüber zielt die bariatrische Chirurgie primär auf den Gewichtsverlust. Zunächst herrschte gegenüber der metabolischen Chirurgie einiges Misstrauen, insbesondere was die Langlebigkeit der Effekte betrifft. Nun sind aber für zwei grosse randomisierte, kontrollierte Studien (STAMPEDE und ROME) die Ergebnisse nach fünf Jahren verfügbar, die Bueter zur Aussage Anlass geben, dass die Chirurgie der medizinischen (konservativen) Therapie bei Typ-2-Diabetes überlegen ist. Eine von mittlerweile 49 internationalen Diabetesgesellschaften unterstützte Erklärung hält fest, dass die metabolische Chirurgie empfohlen werden sollte für Typ-2-Diabetiker mit einem BMI > 40 kg/m2 und bei solchen mit einem BMI zwischen 35 und 39,9 kg/m2, deren Hyperglykämie durch Lebensstilveränderung und optimale medikamentöse Therapie
Bei Patienten, die sich einem bariatrischen Eingriff unterziehen, seien Störungen des Essverhaltens präoperativ häufig, erklärte Prof. Dr. med. Gabriella Milos, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsspital Zürich. Aber auch postoperativ entwickeln einige Patienten ein problematisches Essverhalten, bis hin zu klassischen Essstörungen. Präoperative Essstörungen sind schwierig zu explorieren, da sie von den Betroffenen nicht selten verschwiegen werden, und können einen negativen Einfluss auf den Gewichtsverlauf haben. «Der postoperative Verlauf ist schwer vorauszusehen, und eine therapeutische Begleitung ist wichtig», wie Milos herausstrich. Insgesamt ist das prä- und das postoperative Essverhalten bei bariatrischen Eingriffen noch zu wenig untersucht. Aber leider sind Prädiktoren für die Entwicklung einer postbariatrischen Essstörung momentan nicht bekannt. Frauen scheinen eher gefährdet zu sein als Männer. Angesichts der komplexen Aspekte um das Essverhalten von adipösen Patienten forderte Milos Interdisziplinarität sowohl bei der Abklärung als auch bei der Behandlung mit bariatrischen Eingriffen. Patienten mit problematischem Essverhalten müssen auch postoperativ mittel- und langfristig begleitet werden.
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«Mit der steigenden
Zahl bariatrischer Operationen werden solche Komplikationen häufiger. Die ‹flags›
»müssen allen bekannt
sein.
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* Halid Bas ist Medizinjournalist BR und freier Mitarbeiter beim Verlag Rosenfluh Publikationen.
Bariatrische Notfälle muss man kennen, um sie zu erkennen
Wenn sich Patienten nach einer vorangegangenen bariatrischen Operation als Notfälle vorstellen, können Widerstände «gegen die Dicken», Informationsdefizite und individuelle Risiken zu gefährlichen Situationen führen. Daran erinnerte Dr. med. Renward Hauser, Facharzt FMH für Chirurgie, Konsiliararzt für klinische Ernährung und bariatrische Chirurgie, Zürich. Dann drohen auch Verletzungen der Sorgfaltspflicht. Einerseits tragen Patienten selbst dazu bei, indem sie ihre bariatrische Anamnese aus Scham oder mangelndem Wissen verschweigen, andererseits aber auch Fachpersonen, die unter Wissensund Zeitmangel handeln oder mit bariatrischen Notfällen nicht vertraut sind. Hauser nannte drei wichtige klinische Bilder: Akut aufgetretener Bauchschmerz (Akutes Abdomen): Diese Komplikation ist am häufigsten und für den Patienten am gefährlichsten. Die Schmerzen entwickeln sich aus einem Wohlbefinden heraus plötzlich, werden als vernichtend beschrieben. Die Untersuchung gibt oft keine eindeutigen Hinweise. «Werden anstatt einer explorativen Laparoskopie bei vermuteter «Koprostase» Analgetika und Zuwarten verschrieben,
droht eine Sorgfaltspflichtverletzung», mahnte Hauser. Denn die Strangulation von Darmabschnitten durch innere Hernien ist nach bariatrischer Operation lebensgefährlich und erlaubt keinen zeitlichen Verzug. Bewusstseinsverlust: Synkopen kommen häufiger vor als angenommen und sind für Patient und Umgebung überraschend. Die Unkenntnis der hyperinsulinämen Neurohypoglykämie (Spät-Dumping) verursacht einen kostentreibenden diagnostischen Aktivismus, und die Betroffenen sind wegen des akut auftretenden Bewussteinsverlusts einer grossen Unfallgefahr ausgesetzt. Heftige Durchfälle über Wochen und Schwäche: Die hypoproteinäme Diarrhö als Folge einer Maldigestion und Malabsorption ist selten. Charakteristisch sind breiig-wässrige Stühle, postprandiale Steatorrhö mit erkennbaren Nahrungsmitteln sowie Lidödeme am Morgen und Beinödeme abends. «Mit der steigenden Zahl bariatrischer Operationen werden solche Komplikationen häufiger. Die ‹flags› müssen allen bekannt sein», forderte Hauser.
Quelle: Achtes Zürcher Adipositassymposium vom 16. März 2017 in Zürich, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich.