Transkript
HOMECARE
Heimparenterale Ernährung – 34 Jahre Erfahrung
«Man muss sich erfreuen an dem, was man noch machen kann»
Urs Mahni (70) blickt auf 34 Jahre Erfahrung mit der heimparenteralen Ernährung zurück. Die Ernährung schliesst er eigenständig an. Auch die Versorgung mit der parenteralen Ernährung organisiert er ohne HomeCare-Service. Das gibt ihm Freiheit und Unabhängigkeit. Mittlerweile hat er in all den Jahren rund 13 000 Infusionen gerichtet und angeschlossen.
SZE: Wann hatten Sie erstmals Darmbeschwerden? Urs Mahni: Erste Beschwerden hatte ich kurz nach der kaufmännischen Lehre, als ich die Rekrutenschule (RS) absolvierte. Neben Bauchkrämpfen und Durchfall musste ich eine Analfistel operativ sanieren lassen.
Nach der RS hoffte ich auf baldige und endgültige Besserung, was sich Leben mit der heimparenteralen Ernährung jedoch als Trugschluss erwies. Wochenlang war ich in Spitalpflege, um die Ursache herauszufinden. Erst nach gut zwei Jahren stand die Diagnose fest: Morbus Crohn. Es folgten ein paar Jahre, in denen ich einigermassen erträglich leben konnte. Im Alter von etwa 32 Jahren wurden allerdings weitere Operationen notwendig, unter anderem wurde eine Ileostomie angelegt.
Welche Konsequenzen hatten die
Eingriffe?
Urs Mahni: Ich hatte mit 36 Jahren
nur noch zirka 1 Meter Dünndarm!
Trotz fester Nahrung verlor ich im-
mer mehr an Gewicht, bis ich bei
einer Körpergrösse von 1 Meter 80
nur noch 45 Kilo auf die Waage
brachte und ohne Kraft und Ener-
Urs Mahni mit «Schorschli».
gie im Bett lag.
Sein Sohn ist mittlerweile 29 Jahre alt.
Begannen Sie damals mit der
(heim-)parenteralen Ernährung?
Urs Mahni: Ja, die ersten Versuche begannen im Spi-
tal. Bereits nach ein paar Tagen ging es mir wesentlich
besser, und bald konnte ich nach Hause – zusammen
mit einem Infusomaten und entsprechendem Material
für die Infusionen. Anfänglich traten immer wieder
Infektionen auf. Shunts, Hickman- sowie Port-A-
Cath-Zugänge lösten sich ab. Auch technische Pro-
bleme mit der Infusionspumpe waren damals völlig
normal. Da die parenterale Ernährung nachts lief,
hatte ich kaum eine Nacht, in der ich nicht durch
Alarme geweckt wurde und durchschlafen konnte.
Der Alltag mit einem schweren Infusionsständer mit Pumpe, die immer am Strom angeschlossen sein musste, gestaltete sich ebenfalls als schwierig. Zusammen mit kleinen Kindern im Haus war das eine echte Herausforderung.
Haben Sie die parenterale Ernährung immer allein angeschlossen? Urs Mahni: Den Shunt musste meine Frau täglich punktieren. Es gibt eine Episode aus dieser Zeit, die wir nie vergessen werden: Als sie damals für ein Wochenende weg war, engagierten wir eine bekannte Pflegende, um diese Aufgabe zu übernehmen. Sie kam jedoch nicht zur vereinbarten Zeit und war auch nicht zu erreichen – das war vor der Handyzeit! In dieser Notsituation half meine damals neunjährige Tochter, nach meinen Anweisungen den Shunt zu punktieren. Sie hat trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – den Pflegeberuf erlernt und ist noch heute im Gesundheitswesen tätig.
Wie haben Bekannte und Freunde auf die Krankheit und die damit einhergehenden Probleme reagiert? Urs Mahni: Als wir nach zwei Töchtern, die im Alter von 11 und 6 Jahren waren, Eltern eines Sohnes wurden, kamen unüberhörbare Vorwürfe, wonach man in diesem Zustand nicht auch noch Kinder auf die Welt stellen sollte. Wir jedoch sind stolz und dankbar, gesunde Kinder zu haben, was für uns keine Selbstverständlichkeit ist. Heute bin ich sogar Grossvater von sechs Enkeln! Die ersten zehn Jahre mit dieser Art von Infusion zu leben, die unsere Kinder übrigens damals liebevoll «Schorschli» nannten, waren auch sozial nicht ganz einfach zu bewältigen. Von abends 17 Uhr bis morgens um 7 Uhr war ich im wahrsten Sinn des Wortes angebunden. Spasseshalber habe ich mich mit einer Ziege verglichen, die an einem Pfosten befestigt war und sich in einem Durchmesser von zirka 1 bis 2 Metern bewegen konnte. So lernte ich mit der Zeit, mich in einem Raum mit einer Verlängerung des Infusionsbestecks zurechtzufinden; das Abendessen herzurichten oder mich auch sonst im Haushalt nützlich zu machen. Es ging sogar so weit, dass ich mich draussen
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Bereitstellen und Anschluss der parenteralen Ernährung:
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1. Urs Mahni bereitet in der Küche den Tisch vor: Erst desinfiziert er die Fläche, dann stellt er unter Berücksichtigung der hygienischen Vorschriften die parenterale Ernährung, Infusionsbesteck et cetera auf die Arbeitsfläche.
2. Der Katheteranschluss wird desinfiziert, Spurenelemente und Vitamine werden aufgezogen und ganz langsam direkt durch den Katheter injiziert.
3. Die Infusion wird ins Pumpsystem eingelegt.
4. Infusionsbeutel und Besteck werden im Rucksack befestigt.
installieren konnte, um mit Frau oder Kindern Tischtennis spielen zu können. Das war nicht nur für uns ein Gaudi, sondern auch für unsere Nachbarn!
Konnten Sie auch einmal in die Ferien verreisen? Urs Mahni: Dank eines guten Bekannten, der in der Innerschweiz ein kleines, bescheidenes Ferienhäuschen besass, war es uns möglich, einmal im Jahr drei Wochen Ferien im Herbst zu geniessen. So konnten wir für den bevorstehenden Winter auftanken und Wanderungen und Ausflüge unternehmen. Die Nährlösungen wurden uns jeweils von unserem damaligen Dorfapotheker persönlich überbracht, der in der Nähe ein Ferienhaus hatte. Auch heute noch ist die Logistik für drei Wochen Ferien gut zu planen, denn es braucht viel Zubehör, und gut die Hälfte des Kofferraums unseres Autos ist mit medizinischen Sachen belegt, alles andere ist Beilage.
In der Zwischenzeit gab es technische Fortschritte, zum Besseren hin? Urs Mahni: Ja, grosse Erleichterung brachte Anfang der Neunzigerjahre die technische Umstellung der Infusionsart vom Tropf- auf das Pumpsystem. Nun finden der Nährlösungsbeutel, die Pumpe sowie der Stromakku bequem in einem Rucksack Platz. Er kann so unabhängig vom Strom überall mitgenommen werden, das heisst fast überall, denn ich wurde auch schon aufgefordert, den Rucksack an der Garderobe abzugeben, da er nicht erlaubt sei im Konzertsaal. Auf der anderen Seite musste ich quasi wieder lernen, mich in der Gesellschaft zu bewegen, abends aus dem Haus gehen zu können und in einem Verein mitmachen zu dürfen.
Nutrition parentérale à domicile – 34 ans d’expérience
Mots clés: autonomie par rapport à Homecare
Urs Mahni (70 ans) se retourne sur ses 34 ans d’expérience de nutrition parentérale à domicile. Il s’alimente en toute autonomie. Il organise aussi son approvisionnement en nutrition parentérale sans faire appel au service HomeCare. Il est ainsi libre et indépendant. A ce jour, il a préparé et mis en place environ 13 000 perfusions pendant toutes ces années.
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Leiden Sie auch heute noch unter Katheterinfektionen? Urs Mahni: Die letzten Hickman-Katheter kann ich in der Regel sechs bis sieben Jahre nutzen, insgesamt habe ich in den vergangenen Jahrzehnten gegen 13 000 Infusionen gerichtet und angeschlossen. Es ist für mich ausserordentlich wichtig, alle notwendigen Verrichtungen selber vornehmen zu können und nicht von Dritten abhängig zu sein. Die Nährlösungen hole ich jeden Montag für eine Woche in der Spitalapotheke des Kantonsspitals Aarau ab. Das Material für die Infusionen beziehe ich in grösseren Mengen vom dortigen Zentralmagazin, und die Spezialbestecke werden von der Pumpenfirma direkt zu mir nach Hause geliefert.
Haben Sie sich durch die heimparenterale Ernährung eingeschränkt und krank gefühlt? Urs Mahni: Rückblickend kann ich sagen, dass ich mich nicht krank oder behindert fühle; lediglich etwas eingeschränkt. Die Unterstützung und das Verständnis meiner Frau und meiner Kinder haben natürlich sehr viel dazu beigetragen, den etwas
«Zum grossen Hobby, dem Musizieren, kam ich eigentlich wegen
der Krankheit: Zuerst erlernte ich autodidaktisch die verschiedenen
»Blockflöten und konnte viele Jahre in einem Ensemble mitspielen.
komplizierten Alltag erträglich und überhaupt möglich zu machen. Obwohl ich «nur» halbtags arbeiten konnte, war mir das Berufsleben – ich war im kaufmännischen Bereich tätig – bis zur ordentlichen Pensionierung vor fünf Jahren wichtig. Auch verschiedene Aktivitäten in der Freizeit, wie Wandern und Radfahren, kann ich meinen Kräften angepasst ausüben. Zum grossen Hobby, dem Musizieren, kam ich eigentlich wegen der Krankheit: Zuerst erlernte ich autodidaktisch die verschiedenen Blockflöten und konnte viele Jahre in einem Ensemble mitspielen. Vor 20 Jahren wechselte ich zur Klarinette. Heute spiele ich klassisch im Seniorenorchester Aarau sowie traditionelle Schweizer Volksmusik in einer fünfköpfigen Formation. Mein Lebensmotto lautet: Sich erfreuen an dem, was ich noch machen kann, und nicht dem nachtrauern, was nicht mehr möglich ist.
Können Sie auch feste Nahrung zu sich nehmen? Urs Mahni: Ich esse gemeinsam mit der Familie, respektive heute nach dem Auszug unserer Kinder mit meiner Frau. Die Mahlzeiten fallen allerdings sehr klein aus. Ich esse nur wenig, denn bei grösseren Mengen reagiere ich mit Durchfall. Ich habe für mich gelernt, dass man auch eine kleine Portion richtig geniessen kann; es müssen nicht immer riesige Mengen sein. Ab und zu gehen wir auch auswärts essen. In der Regel habe ich nie Probleme, wenn ich wenig oder kein Essen bestelle und erkläre, warum dies nicht geht.
Hat es bei der parenteralen Ernährung schon einmal Umstellungen gegeben? Urs Mahni: Die parenterale Ernährung ist bei mir seit 15 Jahren mit kleinen Abweichungen die gleiche geblieben. Ein Nephrologe vom Kantonsspital Aarau verordnet diese. 2-mal pro Woche ist dies SmofKabiven und 5-mal pro Woche AminoMix. Zugegeben werden Spurenelemente und Vitamine. Alle vier Monate werden die Blutwerte untersucht.
Wie viele Kalorien führen Sie täglich zu und zu welchen Zeiten? Urs Mahni: Die parenterale Ernährung läuft nachts, insgesamt sind das 1500 Kalorien. Mehr ist aufgrund der Niere an Zufuhr nicht möglich. Wenn die Ernährung nachts läuft, habe ich morgens wenig Hunger, gegen Abend werde ich immer schwächer und müder. Bei einer normalen Ernährung verteilt sich die Energie über den ganzen Tag, bei mir geschieht dies nur nachts. Körperliche Aktivitäten wie Rad fahren oder Wandern sind trotzdem möglich, den Kräften angepasst je nach Verfassung maximal für drei Stunden.
Haben Sie auch Kontakt zu anderen Menschen, die sich heimparenteral ernähren? Urs Mahni: Ja, ich kenne noch eine weitere Person mit heimparenteraler Ernährung. Wir treffen uns meistens im Spital, wenn wir mit Kühlboxen die Nährlösung abholen. Dann heisst es: «Gehst du auch Futter holen?» Ein wenig Spass muss sein.
Sehr geehrter Herr Mahni, wir bedanken uns für das Gespräch.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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