Transkript
CIRRNET-TAGUNG 2016
Fehler bei der oralen Kostverabreichung im Spital
Carmen Kerker-Specker, Olga Frank1, David Schwappach2
1 Projektleitung, Patientensicherheit Schweiz 2 MPH, Wissenschaftlicher Leiter, Patientensicherheit Schweiz
Fehler bei der oralen Kostverabreichung im Spital stellen ein unterschätztes Problemfeld in der Patientensicherheit dar. In der Fachliteratur existiert nur wenig zu dieser Thematik, und auch in lokalen und nationalen Fehlermeldesystemen finden sich kaum Fehlermeldungen dazu. Patientensicherheit Schweiz hat diesen Aspekt der Patientensicherheit aufgegriffen, dazu CIRRNET*-Meldungen analysiert und eine CIRRNET-Tagung zum Thema durchgeführt. Der Austausch zwischen Referenten und Teilnehmenden bestätigte, dass das Problembewusstsein in den Spitälern erst teilweise vorhanden ist. Eine interprofessionelle Zusammenarbeit aller am Prozess beteiligten Fachpersonen ist nötig, damit dem richtigen Patienten das richtige Essen zum richtigen Zeitpunkt verabreicht werden kann.
Einleitung
Die Nahrungsaufnahme ist ein elementarer Bestandteil unseres Lebens, auch während eines Spitalaufenthalts. Somit ist die Nahrungsaufnahme auch Teil des Hospitalisationsprozesses, in welchem Fehler den Patienten beziehungsweise dessen Sicherheit gefährden können. Muss eine Operation verschoben werden, weil der Patient trotz Nüchternheitsgebot ein Essen erhält, oder wird ihm ein Essen serviert mit einem Nahrungsmittel, auf das er allergisch reagiert, dann kann dies schwerwiegende gesundheitliche Folgen für den Patienten haben. Die Sicherheitsproblematik der Auswirkungen von Fehlern bei der oralen Kostverabreichung wird in der Praxis vielfach unterschätzt. Auch findet sich kaum Literatur dazu. In einer nennenswerten Publikation
der Pennsylvania Patient Safety Authority (1) werden neben einer Analyse von Fehlermeldungen zur oralen Kostverabreichung im Spital auch mögliche Schwachstellen im System aufgezeigt. Fehler bei der Kostverabreichung können während des gesamten Hospitalisationsprozesses auftreten, von der Erhebung der Anamnese zu Essgewohnheiten, Unverträglichkeiten und Allergien über die Zubereitung in der Küche bis hin zur Essensausgabe. Der Ernährungsprozess im Spital ist sehr komplex, und verschiedene Berufsgruppen sind daran beteiligt, weshalb das Fehlerpotenzial erhöht ist. Die vorgeschlagenen Strategien zur Risikominimierung reichen von der Durchführung von Schulungen über das Entwickeln von schriftlichen Standards bis hin zur Elimination von Lebensmitteln aus dem Spital.
Analyse CIRRNET-Meldungen
Patientensicherheit Schweiz erachtet diese Patientensicherheitsproblematik als relevant für die medizinische und pflegerische Versorgung von Patienten. Um der Thematik mehr Gewicht zu verleihen und das Bewusstsein der Fachpersonen dafür zu stärken, hat Patientensicherheit Schweiz alle Fehlermeldungen in der CIRRNET-Datenbank zum Thema Fehler bei der oralen Kostverabreichung im Spital analysiert. Aus 6200 CIRRNET-Meldungen wurden 39 Meldungen identifiziert, welche über einen Fehler bei der ora-
Abbildung: Verteilung der eingeschlossenen CIRRNET-Meldungen 34 SZE 4|2016
* CIRRNET (Critical Incident Reporting & Reacting NETwork) wird seit 2006 von Patientensicherheit Schweiz (= Stiftung für Patientensicherheit) betrieben. Es ist ein überregionales Netzwerk lokaler Fehlermeldesysteme in der Schweiz. Weitere Informationen finden Sie unter www.cirrnet.ch.
CIRRNET-TAGUNG 2016
len Kostverabreichung im Spital berichteten (Abbildung). Die Meldungen wurden in die fünf Kategorien Lebensmittelallergien, falsche Kostform, falsches Essenstablett, Nüchternheit und Sonstiges eingeteilt. Fast die Hälfte aller CIRRNET-Meldungen (48,7%, n = 19) betraf die Kategorie Nüchternheit. Allenfalls werden diese Fälle häufiger als andere berichtet, weil es zu Verzögerungen oder Absagen von geplanten Interventionen kommen kann und dies den gesamten Behandlungsplan durcheinanderbringt. Deutlich weniger Fälle finden sich in den Kategorien falsches Essenstablett (2,6%, n = 1) oder Lebensmittelallergien (10,3%, n = 4) (Kasten). Die tiefe Anzahl an CIRRNET-Meldungen bedeutet aber wohl keineswegs, dass kaum Fehler im Bereich der Kostverabreichung passieren. Es muss angenommen werden, dass diese Problematik noch nicht als relevantes Patientensicherheitsproblem wahrgenommen wird. Einerseits gibt es kaum wissenschaftliche Literatur zu dieser Thematik, andererseits beteiligen sich derzeit «nur» 41 Gesundheitsinstitutionen an CIRRNET. Für die Fachpersonen ist es zudem freiwillig, eine CIRS-Meldung zu schreiben. Bei der vorliegenden Analyse ist die Anzahl Fälle daher nicht repräsentativ. Die durchgeführte Analyse von Fehlermeldungen ermöglicht jedoch einen ersten Überblick über Probleme bei der Kostverabreichung im Spital.
CIRRNET-Tagung
Zur Stärkung des Bewusstseins der Gesundheitsfachpersonen hat Patientensicherheit Schweiz am 19. April 2016 eine erste CIRRNET-Tagung zu dieser Problematik durchgeführt. Fachexperten der Ernährungsberatung, der Spitalgastronomie, der Spitalküche, der Medizin, der Pflege und des Qualitäts- und Risikomanagements präsentierten dem interessierten Publikum Fachreferate und Fallanalysen von konkreten CIRS-Meldungen aus ihren Institutionen mit den realisierten Verbesserungsmassnahmen. Die Fehler bei der oralen Kostverabreichung im Spital werden in der Praxis tatsächlich oft unterschätzt beziehungsweise nicht als Patientensicherheitsproblem wahrgenommen. Einige Spitäler haben unterdessen bereits erfolgreich Hilfsmittel beziehungsweise Konzepte zur Sicherstellung der Patientensicherheit bei der Ernährung entwickelt. So wurden beispielsweise Standards zum Thema Essen und Trinken entwickelt oder angepasst, Schulungen der Mitarbeitenden zum Thema Ernährung/Kostformen/Allergien durchgeführt oder auch
interdisziplinäre Sitzungen ins Leben gerufen, um sich regelmässig zu Fragen und Problemen bei der oralen Kostver-
Erreurs dans l‘administration orale de nourriture à l‘hôpital
abreichung auszutauschen. Hier die wichtigsten Aspekte, welche aus ihrer Sicht zum Erfolg beigetragen haben: • Definition klarer Prozesse im ge-
Mots clés: déclarations CIRRNET – nourriture hospitalière – moyens d’assistance
samten Ernährungsmanagement, beispielsweise einheitliche Abläufe bei der Essensbestellung oder -ver-
Les erreurs lors de l‘administration orale de nourriture à l‘hôpital constituent un problème sous-estimé. La fondation Sécurité des patients
teilung, standardisiertes Vorgehen Suisse a analysé les déclarations CIRRNET et a
bei der Zubereitung der Speisen in organisé une journée CIRRNET. Conclusion: une
der Küche oder Klärung und Offen- collaboration interdisciplinaire de tous les pro-
legung der jeweiligen Aufgaben, Ver- fessionnels intervenant dans le processus est
antwortlich-keiten und Kompeten- nécessaire afin que chaque patient reçoive bien
zen der einzelnen Berufsgruppen
la nourriture qui lui est destinée au bon moment.
• interdisziplinäre, wertschätzende
und patienten-orientierte Zusam-
menarbeit aller am Prozess beteiligten Berufsgrup-
pen
• gut funktionierende Infrastruktur, beispielsweise
ein elektronisches Essensbestellsystem mit Warn-
hinweisen, welche auf Allergien aufmerksam
machen
• geschultes und kompetentes Personal
• Fokussierung der Führung auf Professionalität, Pa-
tientensicherheit und Qualität, beispielsweise an-
hand von Qualitätskontrollen des Personals durch
Mitarbeitergespräche und Zielvereinbarungen.
Fazit
Immer wieder geschehen Fehler bei der oralen Kostverabreichung im Spital. Dies wird sowohl aus der Analyse der CIRRNET-Meldungen als auch aus den Präsentationen an der CIRRNET-Tagung ersichtlich. Die Thematik ist noch weitgehend unterschätzt, dennoch finden sich in einzelnen Spitälern bereits gezielte Aktivitäten, um die Sicherheit der Patienten bei der oralen Kostverabreichung zu verbessern.
Korrespondenzadresse: Carmen Kerker-Specker Stiftung Patientensicherheit Schweiz Asylstrasse 77 8032 Zürich Tel. 043-244 14 93 E-Mail: kerker@patientensicherheit.ch Internet: www.patientensicherheit.ch
Es bestehen keine Interessenverbindungen.
Literatur: 1. Wallace SC: Delivering the right diet to the right patient every time. Pennsylvania Patient Safety Advisory 2015 Jun;12 (2): 62–70.
Kasten:
Original CIRRNET-Meldungen
«Das ist heute der zweite Fall. Obwohl Patientin nüchtern war, erhielt sie Essen. Die Untersuchung musste abgesagt werden. Neuer Termin mangels Kapazität erst in 4 Tagen möglich. Nach Rückfrage stellte sich heraus, dass Mitarbeiterin, die von anderer Station kam, Essen brachte. Erkannte Nüchternsymbol nicht. (…)»
«Pat. Essenstablett von anderem Pat. gegeben, dadurch falsche Medis verabreicht.»
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