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SERIE TRINKNAHRUNG
Teil 2: Trinknahrung in der Onkologie
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Christa Dürig Alexandra Uster
28 SZE 3|2016
Christa Dürig, Alexandra Uster
Tumorpatienten verlieren im Verlauf ihrer Erkrankung häufig ungewollt an Gewicht und Körpereiweiss, vornehmlich in Form von Muskelmasse. Die Gründe hierfür sind vielfältig, und es ist eine ernährungstherapeutische Herausforderung, diese korrekt zu erkennen und zu behandeln. Der Einsatz von Trinknahrung (Oral Nutritional Supplement, ONS) ist dabei in vielen Situationen notwendig, um eine adäquate Zufuhr von Energie und Eiweiss (Protein) zu sichern.
Ungewollter Gewichtsverlust und Mangelernährung sind typische Symptome bei onkologischen Patienten. Bereits vor Diagnosestellung erleidet jeder zweite Tumorpatient einen ungewollten Gewichtsverlust (1). Im Verlauf der Erkrankung kommt es dann bei 31 bis 87 Prozent der Patienten zu einer massiven Auszehrung durch Abmagerung und Muskelschwund (2). Dieser Verlust von Gewicht und Muskelmasse hat schwerwiegende medizinische und ökonomische Auswirkungen. Er beeinträchtigt die Lebensqualität und wirkt sich auch negativ auf onkologische und strahlentherapeutische Behandlungen aus. Es kommt zu einer längeren Krankenhausverweildauer, höheren Komplikationsraten und häufigeren Rehospitalisationen (3–5).
Ursachen einer Mangelernährung
Die Ursachen für einen verschlechterten Ernährungszustand bei Tumorpatienten sind vielfältig. Therapieinduzierte Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen, Appetitverlust und psychische Faktoren können die Nahrungsaufnahme verringern. Zusätzlich tritt bei manifesten Tumorerkrankungen häufig ein systemisches Inflammationssyndrom auf – mit negativen Auswirkungen auf den Protein-, den Kohlenhydratund den Lipidstoffwechsel. Eine solche von systemischer Inflammation begleitete Mangelernährung wird als «Tumorkachexie» bezeichnet (6). Lange bestand keine einheitliche internationale Definition des multifaktoriellen Kachexiesyndroms. Mittlerweile wurden folgende Kriterien festgelegt (7): • 5 Prozent ungewollter Gewichtsverlust in 6 Mona-
ten oder • ein BMI kleiner als 20 kg/m2 • in Kombination mit einem ungewollten Gewichts-
verlust von mindestens 2 Prozent oder Sarkopenie.
Ziele der Ernährungstherapie
Es gehört zu den herausfordernden medizinischen und ernährungstherapeutischen Aufgaben, die Gründe
für einen Gewichtsverlust bei onkologischen Patienten möglichst frühzeitig zu erkennen und diesen effektiv zu behandeln. Die neusten S-3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) empfehlen, dass sich Ernährungstherapien auf die Normalisierung, die Verbesserung oder die Stabilisierung der Nahrungsaufnahme, des Körpergewichts, der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Stoffwechselsituation konzentrieren sollten. Diese Ziele sind bei kachektischen Patienten allerdings schwieriger zu erreichen als bei Patienten mit weitgehend normalem Stoffwechsel (6). Essenzieller Grundstein zur effektiven Erkennung und Behandlung von Ernährungsstörungen bei onkologischen Patienten ist ein validiertes Screening des Risikos oder des Vorliegens einer Mangelernährung. Etabliert sind hierbei insbesondere der NRS-2002 nach Kondrup (Nutrition Risk Score) (8) für stationäre Patienten oder das SGA (Subjective Global Assessment) für stationäre und ambulante Patienten (9). Wichtig ist, dass das Screening frühzeitig begonnen und regelmässig wiederholt wird; auch adipöse Patienten sollen regelmässig gescreent werden, da bei ihnen ebenfalls – trotz Übergewicht – eine Mangelernährung vorliegen kann (10). Bei Risikopatienten soll im Rahmen einer Ernährungstherapie ein ausführliches Assessment zur aktuellen Ernährungssituation sowie zu ernährungsrelevanten Symptomen durchgeführt werden (6). Ziel ist es, eine adäquate Energie-, Protein-, Mikronährstoff- und Flüssigkeitsaufnahme zu gewährleisten und so nicht nur den Ernährungszustand, sondern auch die Leistungsfähigkeit im Alltag und schliesslich die Lebensqualität positiv zu beeinflussen (6, 11). Auf die körperliche Aktivität, welche nebst der Ernährung einen wichtigen Bestandteil in der Behandlung von Mangelernährung darstellt (6), wird an dieser Stelle nicht genauer eingegangen. Der Energiebedarf scheint beim onkologischen Patienten nicht grundsätzlich erhöht zu sein; als Richtwert für die Berechnung des Gesamtenergiebedarfs werden beim mobilen Patienten 30 kcal/kg Körpergewicht/Tag
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und beim immobilen Patienten 25 kcal/kg Körpergewicht/Tag empfohlen (6). Im Gegensatz dazu gehen Experten davon aus, dass der tägliche Proteinbedarf aufgrund des gesteigerten Proteinumsatzes durch Inflammation und Verlust von Muskelmasse erhöht ist. Hier gilt die Empfehlung, täglich pro Kilogramm Körpergewicht 1,2 bis 1,5 g Protein zu berechnen (6). Zum heutigen Zeitpunkt existiert eine Vielzahl von etablierten, kosteneffizienten und effektiven ernährungsmedizinischen Interventionen. Richtlinien verweisen auf ein Stufenschema (12): Wenn immer möglich sollte der Energie- und Proteinbedarf durch orale Ernährung gedeckt werden. Dies kann durch Kostumstellung oder Anreicherungsmassnahmen geschehen. Dabei wird mit dem Patienten unter Berücksichtigung der Ernährungsgewohnheiten das Prinzip der energie- und proteinreichen Ernährung sowie deren Umsetzung im Alltag besprochen. Damit der Energieund Nährstoffbedarf abgedeckt werden kann, gilt es, vermehrt Lebensmittel mit hoher Energie- und Proteindichte, beispielsweise Fleisch, Fisch, Geflügel oder Tofu, und dazu Stärkebeilagen wie etwa Kartoffeln, Reis oder Brot, zu konsumieren. Lebensmittel mit grossem Volumen und geringem Nährwert, so vor allem Gemüse, Salat, Obst und Früchte, dürfen reduziert oder weggelassen werden. Vegetarische Protein-
lieferanten, insbesondere Milch und Milchprodukte, Eier, Tofu oder Hülsenfrüchte, können bei Patienten mit einer
2ème partie: alimentation buvable en oncologie
Fleischaversion oder vegetarischer Ernährungsweise als Ersatz gegeben werden. Durch Anreicherung der Speisen und Flüssigkeiten mit Fettstoffen, Proteinpul-
Mots clés: causes de malnutrition – objectifs – possibilités d’utilisation de l’alimentation buvable
ver oder Maltodextrin kann der Energieund Proteingehalt zusätzlich erhöht werden. Bei raschem Völlegefühl empfiehlt es sich, regelmässig kleine energie- und pro-
Les patients atteints d’un cancer présentent souvent une perte non intentionnelle de poids et de protéines au cours de leur maladie. Les causes en sont nombreuses, et
teinbetonte Mahlzeiten, Snacks und leur identification correcte ainsi que leur
Getränke zu konsumieren, um so eine aus- traitement représentent un défi pour les nu-
reichende Nahrungsaufnahme zu errei- tritionnistes. Le recours à l’alimentation bu-
chen (13).
vable est de ce fait nécessaire dans de
Oft ist die Optimierung der Lebensmittel- nombreuses situations afin d’assurer un ap-
auswahl und -zubereitung aber nicht aus- provisionnement adéquat en énergie et en
reichend, um den Energie- und Proteinbe- protéines.
darf zu decken und das Gewicht zu
stabilisieren. In solchen Fällen ist als Er-
gänzung zu den natürlichen Lebensmitteln der Ein-
satz von ONS nötig (6). Reichen diese Massnahmen
nicht aus, um die angestrebte Nahrungszufuhr zu er-
reichen, kann im Anschluss und nach dem Prüfen von
Kontraindikationen die enterale Ernährung per Sonde
und als letzte Stufe die parenterale Ernährung einge-
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setzt werden. Diese beiden Ernährungstherapieinterventionen sollten aber nur eingeleitet werden, wenn der Patient die Therapie wünscht und die erwarteten Vorteile die Belastungen und möglichen Komplikationen durch die Therapie überwiegen (6).
Protein- und energiedichte ONS
In der Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) für onkologische Patienten wird der Einsatz von ONS mit dem Evidenzgrad A bei Patienten unter Radiotherapie des Kopfes, Nackens oder des Magen-Darm-Trakts zusammen mit intensiver Ernährungsberatung empfohlen. Ebenso überzeugend ist die Evidenz für die Verabreichung von ONS bei Patienten mit einem hohen Ernährungsrisiko 10 bis 14 Tage vor einer grösseren Operation und bei allen onkologischen Patienten 5 bis 7 Tage vor einem grösseren bauchchirurgischen Eingriff. Bei diesen Patientengruppen senkt der Einsatz von ONS erwiesenermassen die Komplikationen, steigert die Nahrungszufuhr und beugt Gewichtsverlust und Unterbrechungen der Radiotherapie vor (6). Heutzutage ist bei den ONS eine grosse Auswahl an verschiedenen Aromen und Konsistenzen verfügbar. Für Tumorpatienten sollten in der Regel energie- und proteinreiche ONS mit kleinem Volumen bevorzugt werden. Studien belegen, dass die Compliance von Menschen mit Krebs bei der Einnahme von ONS hoch ist und durch Ausprobieren verschiedener Produkte und Geschmacksrichtungen weiter verbessert werden kann (14). ONS können zimmerwarm oder gekühlt eingenommen und beispielsweise durch Verdünnen mit Milch oder Wasser dem gewünschten Geschmack angepasst werden. ONS ohne Aroma (neutral)
werden häufig von Patienten mit Dysgeusie als angenehm empfunden, zudem sind sie für die Beigabe zu und die Anreicherung von salzigen und süssen Speisen geeignet. Auch die Zugabe von Schokoladenpulver, frischem Kaffee oder Säften zu den ONS mit neutralem Aroma bringt Abwechslung bei der Verabreichung. ONS stellen eine Ergänzung zur energie- und proteinreichen Ernährung dar; so ist der täglich empfohlene Konsum von ONS individuell und abhängig von der Nahrungsaufnahme. Aufgrund der sättigenden Wirkung wird geraten, ONS nicht unmittelbar vor einer Hauptmahlzeit einzunehmen und auf mehrere kleinere Portionen aufzuteilen (13). ONS stellen seit 2012 bei entsprechender medizinischer Indikation gemäss GESKES-Richtlinie (Gesellschaft für Klinische Ernährung der Schweiz) eine Pflichtleistung der Grundversicherung dar. Als zulässige medizinische Indikation gelten Erkrankungen, welche mit Mangelernährung oder einem Risiko für Mangelernährung einhergehen. Darunter fallen bei Krebspatienten in den meisten Fällen die Indikation «bösartiger Tumor» oder davon betroffene Organe wie Leber, Lunge oder Pankreas, womit die Kostengutsprache gutgeheissen wird (15).
Korrespondenzadresse: Christa Dürig Kantonsspital Winterthur Ernährungstherapie/-beratung, BSc in Ernährung und Diätetik Brauerstrasse 15 8401 Winterthur E-Mail: christa.duerig@ksw.ch
Wir bedanken uns herzlich bei Maya Rühlin, Leiterin Ernährungstherapie/-beratung am Kantonsspital Winterthur, und Prof. Peter E. Ballmer, Direktor Departement Medizin und Chefarzt Klinik für Innere Medizin am Kantonsspital Winterthur, für die Durchsicht des Artikels.
Literatur: 1. Dewys WD, Begg C, Lavin PT, Band PR, Bennett JM, Bertino JR, Cohen MH, Douglass HO Jr, Engstrom PF, Ezdinli EZ et al.: Prognostic effect of weight loss prior to chemotherapy in cancer patients. Eastern Cooperative Oncology Group. Am J Med 1980, 69: 491–497. 2. Bozzetti F, Arends J, Lundholm K et al.: ESPEN Guidelines on Parenteral nutrition: Non-surgical Oncology 2006, 25: 245–259. 3. Imoberdorf R, Meier R, Krebs P, Hangartner PJ, Hess B, Stäubli M, Wegmann D, Rühlin M, Ballmer PE: Prevalence of undernutrition on admission to Swiss hospitals. Clin Nutr 2010, 29: 38–41. 4. Stratton RJ, Green CJ, Elia M: Disease-related malnutrition: an evidence based approach to treatment. Wallingford: CABI Publishing; 2003. 5. Stratton RJ, Elia M: A review of reviews: A new look at the evidence-based use of oral nutritional supplements in clinical practice. Clin Nutr 2007, 2: 5–23. 6. Arends J, Bertz H, Bischoff SC, Fietkau R, Hermann HJ, Holm E, Horneber M, Hütterer E, Körber J, Schmid I et al.: Klinische Ernährung in der Onkologie. Aktuel Ernährungsmed 2015, 40: e1–e74. 7. Fearon K, Strasser F, Anker SD, Bosaeus I, Bruera E, Fainsinger RL, Jatoi A, Loprinzi C, MacDonald N, Mantovani G et al.: Definition and classification of cancer cachexia: an international consensus. Lancet Oncol 2011, 12: 489–495. 8. Kondrup J, Allison SP, Elia M, Vellas B, Plauth M: ESPEN guidelines for nutrition screening 2002. Clin Nutr 2003, 22: 415– 421. 9. Detsky AS, McLaughlin JR, Baker JP, Johnston N, Whittaker S, Mendelson RA, Jeejeebhoy KN: What is subjective global assessment of nutritional status? JPEN J Parenter Eneral Nutr 1987, 11: 8–13. 10. Adamietz IA: Ernährung bei Tumorpatienten. Der Onkologe 2010, 16: 81–96. 11. Arends J, Bodoky G, Bozzetti F, Fearon K, Muscaritoli M, Selga G, Von Bokhorst-de van der Schueren MA, von Meyenfeldt M, DGEM, Zürcher G et al.: ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition: Non-surgical oncology. Clin Nutr 2006, 25: 245–259. 12. Löser Chr: Unter-/Mangelernährung im Krankenhaus. Aktuel Ernährungsmed 2011, 36: 57–75. 13. Löser Chr: Unter- und Mangelernährung im Krankenhaus. Klinische Folgen, moderne Therapiestrategien, Budgetrelevanz. Dtsch Arztebl Int 2010, 107: 911–917. 14. Hubbard GP, Elia M, Holdoway A, Stratton RJ: A systematic review of compliance to oral nutritional supplements. Clin Nutr 2012, 31: 293–312. 15. Ballmer PE, Meier R, Möltgen C, Rühlin M: Richtlinien der GESKES über Home Care, künstliche Ernährung zu Hause. Gesellschaft für Klinische Ernährung der Schweiz, 2013.