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NUTRIGENOMIK
«Die Gene allein bestimmen nicht über Gesundheit oder Krankheit»
Die Nutrigenomik hat für die Ernährungswissenschaften zukunftsweisende Wege eröffnet. Können wir bald mit individualisierten Ernährungsprofilen rechnen, um Krankheiten wie Diabetes vorzubeugen und so eine gute Gesundheit aufrechtzuerhalten? Prof. Martin Kussmann ist Leiter der Gruppe «Systems Nutrition, Metabonomics and Proteomics» am Nestlé Institute of Health Sciences (NIHS) in Lausanne. Er forscht intensiv in diesem Bereich und zeigt heutige Möglichkeiten und Grenzen der Nutrigenomik auf.
Martin Kussmann
Welche grossen Fortschritte hat die Ernährung in den
letzten 50 Jahren gemacht?
Prof. Martin Kussmann: In den letzten 50 Jahren hat
sich die Ernährungssituation in den meisten hoch
entwickelten und Schwellenländern grundlegend ver-
bessert. Nach einer Zeit, in der die Menschen oftmals
Mühe hatten, überhaupt genügend Kalorien zu sich
zu nehmen, befinden wir uns heute in Zeiten des
kalorischen Überflusses. Auch die Versorgung mit
Mikronährstoffen ist – bis auf einige Risikogruppen
wie alte Menschen, Schwangere oder etwa Menschen
mit Magen- und Darmerkrankungen – ausreichend
bis gut. Nie waren Lebensmittel so sicher, hochwertig
und verfügbar wie heute. Die Versorgung mit Lebens-
mitteln ist weltweit allerdings sehr unterschiedlich. Es
gibt noch immer sehr arme Regionen mit krassem
Nährstoffmangel. Im Gegensatz dazu gibt es grosse
Schwellenländer wie China mit Übergewicht und
einer dramatischen Zunahme an Diabe-
«Les gènes seuls ne détermin- tes mellitus Typ 2.
ent pas la bonne santé ou la maladie»
Geht es dann primär immer noch um das Sattwerden?
Mots clés: alimentation et gènes – recommandations nutritionnelles personnalisées – recherche en nutrition
Martin Kussmann: Heute dient Ernährung insbesondere auch der Gesundheitserhaltung. Ich denke, es wird zunehmend medizinische Ernährungsprodukte zwischen Pharma und Food geben. Die
Pourrons-nous bientôt espérer que des profils nutritions individualisés nous permettent de prévenir des maladies telles que le diabète afin de rester en bonne santé? Le Professeur Martin Kussmann est le directeur du groupe «Systems Nutrition, Metabonomics and Proteomics» du Nestlé Institute of Health Sciences (NIHS) à Lausanne. Il présente les possibilités actuelles et les limites de la nutrigénomique.
Grenzen zwischen Medikament und Nahrungsmittel verwischen sich immer mehr. Diese Entwicklung ist gerade in Bezug auf die Zulassung von Produkten sehr wichtig. Dann wird es im privaten Bereich mehr um Gesundheitsoptimierung gehen: Wie kann eine Person einen Lebensstil pflegen, der ihr zugute kommt? Gefragt sind beispielsweise Labortests, die zu Hause möglich sind. Das EU-geförderte food4me-Projekt war
diesbezüglich sehr interessant: Die Studienteilnehmer machten online mit, und die Mikronährstoffe liessen sich mittels einer Probenentnahme zu Hause messen. Das ist eine ganz neue Entwicklung. Eine grosse Herausforderung ist zudem die Situation in grossen Schwellenländern wie China und Indien: Die Anzahl Diabetiker steigt dramatisch. Würden diese Patienten «einfach nur» mit der zurzeit gängigen und günstigsten pharmazeutischen Behandlung, dem Medikament Metformin, eingestellt, wäre das wirtschaftlich nicht nachhaltig und gesellschaftlich nicht akzeptabel. Also bedarf es anderer und vor allem vorbeugender Massnahmen, insbesondere einer anderen Ernährung.
Steht unsere Ernährung tatsächlich in den Genen, oder geben unsere Gene die Ernährung vor? Martin Kussmann: Gene spielen eine Rolle, aber nicht die allein entscheidende. Eine grosse Ernüchterung setzte mit der Entzifferung des menschlichen Genoms ein: Menschen haben 25 000 Gene. Das sind nur unwesentlich mehr als bei einer Fruchtfliege! Die Gene allein können es demnach nicht sein, die die Komplexität des Menschen und seiner Gesundheit erklären. Das widerlegte auch die Auffassung, die vor der Sequenzierung herrschte: dass wir nur einige bestimmte Gene kennen müssen, um Krankheiten reparieren zu können. Im menschlichen Körper ist es nur ganz selten ein einzelnes Gen, welches über gesunden oder kranken Stoffwechsel entscheidet. Die Phenyketonurie ist ein solches Gen- und Krankheitsbeispiel. Die Komplexität liegt demnach woanders: Beispielsweise interagieren Gene, sie sind nicht isoliert, und viel wichtiger scheint der Einfluss der Umwelt zu sein. Genom und Umwelt interagieren, und daraus ergibt sich der gesunde oder kranke Phänotyp. Niemand ist deshalb allein aufgrund seiner Gene dazu bestimmt, gesund zu bleiben oder krank zu werden. Ein Beispiel dazu: Es gibt sogenannte «Inseln der Langlebigkeit» auf der Welt, auf denen
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überdurchschnittlich viele Bewohner über 100 Jahre alt werden und ohne grosses Leiden versterben. Eigentlich ein Traum für die meisten Menschen. Solche «Inseln» gibt es zum Beispiel auf Okinawa (Japan) und auch in Bologna (Italien). Die Genome der Bewohner sind sehr unterschiedlich und zudem verschieden auf die Umwelt abgestimmt – jedoch produzieren beide Konstellationen ein ähnliches Resultat. Wir sind im Rahmen von Kohortenstudien daran, diesem «Geheimnis» der Langlebigkeit auf die Spur zu kommen.
Wie sehen solche Studien aus? Martin Kussmann: In der medizinischen Forschung gibt es in der Regel die sogenannten Case/ControlStudien, die plazebokontrolliert und doppelblind sind. Der Nachteil dieser Studien sind die grossen Unterschiede innerhalb der Gruppen, bedingt durch die Individualität der Gruppenprobanden. In der Ernährungsforschung sind wir daher auch daran interessiert, Verläufe anzuschauen und dort speziell das sogenannte «Delta» vor und nach einer Intervention, welches aufzeigt, wie der einzelne Mensch auf einen Stimulus reagiert. Ist beispielsweise der Glukosetoleranztest auffällig, ist es meist zu spät. Wir möchten präventiv ansetzen. Wie das möglich sein könnte? In unseren Laboren messen wir über 100 Mikronährstoffe, vermessen das Mikrobiom, Proteine, das Genom und messen auch die Stoffwechselprodukte; wobei die Sequenzierung des Genoms heutzutage die einfachste Untersuchung ist, da sie einen linearen Prozess darstellt. Die Forschung setzen wir nicht in klar definierten Untergruppen ein, sondern rekrutieren Gruppen nach groben Mustern, wie beispielsweise Alter oder Sport treibend. In den Studien messen wir den Zustand vor und nach einer – sicheren, aber herausfordernden – Intervention und im Verlauf danach. Beispielsweise verabreichen wir einen Fett- oder Glukosebolus oder lassen eine Person sich sportlich bewegen. Uns interessiert dann, wie der Körper auf die Herausforderung reagiert, und wir vermessen die sogenannte Elastizität. Denn die Reaktion des Körpers auf diese Herausforderung ist viel interessanter und aussagekräftiger für den Gesundheitszustand als «nur» ein Messen im Ruhezustand, typischerweise nüchtern am Morgen. Anhand der Reaktion können wir dann beispielsweise erkennen, ob sich ein Parameter in den pathologischen Bereich verändert.
Das heisst, jeder Mensch hat ein persönliches Risikoprofil, auf das er sich einstellen könnte? Martin Kussmann: Jeder Mensch hat ein persönliches Biomarkerprofil, das für ihn relevant ist und etwas über seine Gesundheit aussagt. Wir müssen verstehen, welche Parameter für welche genomisch, geografisch und im Lebensstil homogene Bevölkerungsgruppe aussagekräftig und damit von diagnostischem Wert sind. Weicht dann das Profil ab, ist das als Hinweis auf eine gesundheitliche Veränderung zu werten. Die Konsumentengruppen müssen allerdings gross genug sein, damit dies wirtschaftlich relevant
ist, aber doch spezifisch genug, als Gegensatz zu «One size fits all». Das sind ganz neue Trends. Ein weiterer geht in Richtung «Selbstmessung». Eine App auf dem iPhone könnte beispielsweise nach einer Blutentnahme zu Hause über den Vitaminspiegel Auskunft geben. Aber auch da muss der Nutzen erkennbar sein, und die Kombination von Gerät, Informatik und Messung steht noch in den Anfängen.
Welche präventiven Bereiche sind noch relevant? Martin Kussmann: Mit der global alternden Gesellschaft wird die Alzheimer-Krankheit zu einem prioritären Forschungsgebiet. Wird die Diagnose gestellt, ist es bereits zu spät, da ein Grossteil des Gehirns befallen ist. Wir sind daran interessiert, früh einzugreifen. Ernährung wird Alzheimer nicht heilen, die Frage ist eher, wie sich der Gehirnstoffwechsel positiv beeinflussen lässt, um den Zerfall zu bremsen oder gar zu verhindern. Das wäre ein präventiver und kein reparativer Ansatz, denn wir gehen davon aus, dass Ernährung der Gesunderhaltung dient. Im Bereich der Epilepsie gibt es Formen, die sich behandeln lassen, falls der Stoffwechsel umgestellt wird. Eine Frage ist, ob dies bei Alzheimer ebenfalls möglich ist. Forschungsansätze zielen zum Beispiel auf die Mitochondrien, die entscheidend sind für den Energiestoffwechsel, oder auf die «Ernährung» von Hirnzellen wie Astrozyten.
Lassen sich schon heute personalisierte Ernährungsempfehlungen umsetzen? Martin Kussmann: Ich denke, total individualisiert können wir keine Ernährung anbieten. Wirtschaftlich ergibt das keinen Sinn. Ein Restaurant kann auch nicht bei 100 Sitzplätzen für 100 Personen ein jeweils einzigartiges individuelles Menü zusammenstellen. Aber machbar wäre ein Menü für 30 Speisegäste oder das ja schon bekannte «Menu à la carte» als Baukastensystem, bei dem aus einem Satz von Vor-, Hauptund Nachspeisen ein Menü ausgesucht werden kann. Ich denke, dass die Thematik der personalisierten Gesundheit missverstanden wird: Wir können nicht für jeden Einzelnen eine eigene Medizin oder Ernährung machen, aber wir können sie zuschneidern auf Personen mit den gleichen Bedürfnissen.
Sind Gentests, wie beispielweise die von «23andme», sinnvoll? Martin Kussmann: Die Frage ist eher, was Privatpersonen mit den Ergebnissen anfangen können. Die Tests sind gut für Fragen zur Herkunft. Für Vorhersagen oder für die Ableitung von Massnahmen sind die Gentests hingegen zurzeit noch wenig aussagekräftig: einerseits weil sich der Test nur auf die Gene bezieht, ohne die Umwelt und den Ernährungszustand miteinzubeziehen; andererseits weil Gen-GenInteraktionen fehlen. Es gibt Risikoprofile für alle möglichen Krankheiten, aber was bedeutet genau ein Risiko von zum Beispiel 1,12 für Diabetes? Ausserdem ist es meines Erachtens nur sinnvoll, das Risiko zu kennen, wenn eine Behandlung möglich ist.
«Jeder Mensch hat
ein persönliches Biomarkerprofil, das für ihn relevant ist und et-
»was über seine Ge-
sundheit aussagt.
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Korrespondenzadresse: Prof. Martin Kussmann Leiter der Gruppe «Systems Nutrition, Metabonomics and Proteomics» Nestlé Institute of Health Sciences (NIHS) EPFL Innovation Park, Bâtiment H 1015 Lausanne E-Mail: martin.kussmann@rd.nestle.com
Wie sieht die Ernährungsforschung der Zukunft aus? Martin Kussmann: Wir können heute anhand der Studien extrem viele Daten messen und erheben («Big Data»), wissen aber noch nicht, wie wir diese Daten vollständig in nützliche Information umwandeln können. Anders ausgedrückt: Wir befinden uns in einer wissenschaftlichen Ära mit «Oceans of data and droplets of knowledge». Es bedarf daher nicht nur mehr Messtechnologie, sondern auch neuer Studiendesigns und innovativer Auswertungsmethoden. Wir müssen unsere Modelle verbessern und klügere Fragen stellen. Man kann das mit einer Karte eines U-Bahn-Netzes vergleichen: Der Plan ist genau und zeigt uns, wie wir von A nach B kommen. Aber nicht bekannt ist, wann und wo wir den Zug bekommen. Die Karte ist nur eine grobe Orientierung. In Bezug auf den Stoffwechsel haben wir gute Karten, aber wir haben wenig Anhaltspunkte zur Arbeitsweise. In modernen Labors
bewegt sich beispielsweise die Forschung dahin, dass Modelle nicht mehr an Krebszellen erforscht werden, sondern an natürlichen Zellen. Der menschliche Stoffwechsel lässt sich dann besser in der Petrischale verfolgen. Das sind spannende Möglichkeiten und Entwicklungen.
Sehr geehrter Herr Prof. Kussmann, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Gespräch führte Annegret Czernotta.
Glossar: Nutrigenomik: Sie erforscht die Einflüsse der Ernährung auf die Gene und umgekehrt sowie genetische Interaktionen. Metabolomik: Untersucht die molekularen, biochemischen Veränderungen in lebenden Geweben und gewährt damit Einblick in Stoffwechseleigenschaften einer Zelle oder eines Gewebes oder Organismus. Proteomik: Untersucht die Gesamtheit der Proteine in lebenden Geweben und beleuchtet damit die Funktionsweise und Regulation von Zellen, Geweben oder Organismen.
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