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Translokation und Sepsis und die Rolle des Mikrobioms
MIKROBIOM, PROBIOTIKA
Viele intensivmedizinische Patienten versterben an einer Sepsis, obwohl kein Infektionsherd nachgewiesen werden kann. Oftmals ist ein «Darmversagen» ein Vorläufer für die Entstehung eines Multiorganversagens. Die frühzeitige Ernährung scheint laut PD Dr. med. Martin Siegemund, Stv. Chefarzt der Operativen Intensivbehandlung und Forschungsgruppenleiter der Intensivmedizin am Universitätsspital Basel, bei intensivmedizinischen Patienten eine wichtige Massnahme zu sein, um das Mikrobiom und die Barrierefunktion des Darms zu unterstützen.
Martin Siegemund
SZE: Welche Rolle hat der Darm, beispielsweise in von der normalen Darmflora unterdrückt werden. Die
Bezug auf immunologische Faktoren?
von Clostridien ausgeschiedenen Toxine verursachen
PD Dr. med. Martin Siegemund: Der Darm wirkt wie Fieber, Schmerzen oder Diarrhö.
eine Barriere gegen Infektionen durch Bakterien aus
dem Innern des Darms. Insbesondere auf den Seit wann ist der Darm in Bezug auf die Intensiv-
Intensivstationen ist diese zentrale Stellung in den Vor- medizin von Interesse?
dergrund gerückt. Bei einem grossen Teil der Patien- Martin Siegemund: Mal stehen der Darm und seine
ten, bei welchen kein anderer Infektionsherd nach- Auswirkungen auf den Intensivpatienten im Fokus,
weisbar ist, wird angenommen, dass eine endogene dann wieder die Nieren. Das nächste Organ von spe-
Infektion aus dem Gastrointestinaltrakt eingetreten ist, ziellem Interesse wird wohl die Leber sein. Die
was als bakterielle Transloka-
Thematik wechselt. Der Darm
«tion bezeichnet wird: Die Bak-
terien oder bakterielle Toxine
steht aber bereits seit einigen
Die Minderperfusion aufgrund Jahren im Fokus, eben weil
durchdringen die Darmwand, eines zu niedrigen Blutdrucks ist
»kolonisieren regionale mesente- entscheidend.
riale Lymphknoten und in
durch die Translokation Bakterien übertreten und so zu einem generalisierten Infekt füh-
Folge die Leber und den gesam-
ren können. Die
ten Organismus. Daraus kann eine systemische Infektion bis hin zu einem septischen Schock resultieren. Als Auslöser wirkt häufig eine Hypotonie mit einer
Pathogenese ist aber nicht immer bekannt oder deutlich. Was bekannt ist: Insbesondere der Dünndarm ist auf eine Minder-
Translocation et sepsis, et le rôle du microbiome
Minderperfusion des Darms. Denn dieser ist zwar gut mit Gefässen versorgt, aber durch deren anatomische Besonderheit kann es zur Minderdurchblutung der Schleimhaut im Dünndarmgekröse kommen. Nach solch einer Minderperfusion verliert die Darm-
perfusion anfällig, die sich aber nicht unbedingt sofort systemisch zeigen muss. Die Folgen sind oftmals erst zwei bis drei Tage später sichtbar, wenn der Patient einen Kreislaufschock entwickelt. Ein früher
Mots clés: translocation – réalimentation précoce – sepsis/SIRS – décontamination dans le tractus digestif
schleimhaut ihre Schutzfunktion und wirkt dann nicht mehr als Barriere gegen Bakterien. Über die Darmschleimhaut hat das Immunsystem zudem maximalen Kontakt zum Mikrobiom im Darm. Darunter wird die Gesamtheit aller Mikroorganismen wie Viren, Bakterien und Pilze in und auf jedem Menschen verstanden. Beim Gesunden ist dieses Mikrobiom apathogen. Die Patienten auf der Intensivstation sind in ihrer Immunabwehr aber geschwächt, und das normalerweise vorhandene Gleichgewicht zwischen Darmkeimen und Immunsystem ist gestört. Hinzu kommt, dass sehr oft mit Antibiotika therapiert werden muss. Antibiotika reduzieren die Anzahl der bakteriellen Spezies im Darm stark. Übrig bleiben oftmals nur resistente Keime wie zum Beispiel Clostridium difficile, die sonst
Marker wäre in diesem Bereich wichtig. Dieser fehlt aber noch.
Was begünstigt die bakterielle Translokation? Martin Siegemund: Die Minderperfusion aufgrund eines zu niedrigen Blutdrucks ist entscheidend. Zudem zeigt sich, dass wir auch nicht zu viel Volumen geben dürfen, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten, weil der Druck intraabdominal bei zu viel Flüssigkeit intra- und extrazellulär ansteigt. Das wiederum beeinträchtigt den Blutfluss in den Kapillaren der intraabdominellen Organe und damit deren Versor-
De nombreux patients en soins intensifs décèdent d’un sepsis, bien qu’aucun foyer infectieux n’ait été mis en évidence. Bien souvent, une défaillance intestinale est un stade précurseur de défaillance multiorganique. Selon le Dr méd. Martin Siegemund, médecin-chef adjoint des soins intensifs opératoires et directeur du groupe de recherche en soins intensifs des hôpitaux universitaires de Bâle, la réalimentation précoce semble être une mesure importante, chez les patients en soins intensifs, qui permet de renforcer le microbiome et la fonction de barrière de l’intestin.
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MIKROBIOM, PROBIOTIKA
Der Gastrointestinaltrakt
gung mit Sauerstoff und Nährstoffen. Das wiederum begünstigt die Translokation.
Hat die Translokation eine Bedeutung in Bezug auf die Entwicklung eines SIRS (Systemic Inflammatory Response Syndrome) oder einer Sepsis, ist diese Unterscheidung in Bezug auf die Translokation überhaupt wichtig?
Martin Siegemund: Für den Patienten selbst ist die Unterscheidung nicht wichtig, für den Behandler aber schon. Beim SIRS liegen keine Mikrorganismen als Grund für den inflammatorischen Zustand vor. Wir verabreichen keine Antibiotika. Bei einer Sepsis liegen in der Regel immer Bakterien oder andere Mikroorganismen als Auslöser vor, und wir behandeln mit Antibiotika, welche wiederum als Nebenwirkung die Vielfalt der Darmflora negativ beeinflussen.
Bild: ©fotolia – yodiyim
Welche Bedeutung hat die enterale Ernährung? Martin Siegemund: Durch die enterale Ernährung wird das Mikrobiom aufrechterhalten und unterstützt, und die Darmdurchblutung wird angeregt. Die Magenfüllung wirkt beispielsweise wie ein Auslöser für Stoffwechselprozesse der Verdauung. Wir können demnach davon ausgehen, dass die Ernährung protektiv wirkt, aber bislang konnte das nicht mit einem Rückgang der Mortalität bewiesen werden.
Der Darm hat die hochkomplexe Aufgabe, den Organismus in Anwesenheit von Milliarden von Mikroorganismen mit lebensnotwendigen Nährstoffen und Wasser aus der Umwelt zu versorgen. Die Koexistenz mit der intestinalen Mikrobiota erfordert zum einen Mechanismen, die ein Eindringen der Mikroben in den Wirtsorganismus verhindern (Barrierefunktion), zum anderen Mechanismen, die eine schädliche Immunreaktion mit der intestinalen Mikrobiota verhindern. Das Mikrobiom des Menschen vereinigt ein breites Spektrum an Mikroorganismen: Viren, Bakterien, Archaeen, Hefen und Protozoen. Die Gesamtheit dieser Mikroben und ihrer Gene wird als Mikrobiom bezeichnet. Der Fokus der Wissenschaft liegt derzeit auf den Bakterien, da diese den überwiegenden Anteil des Mikrobioms darstellen. Der Darm ist unterteilt in Dünndarm (bestehend aus Duodenum, Jejunum und Ileum) und Dickdarm (bestehend aus Zökum mit Appendix, Colon ascendens, transversum, descendens, Sigma und Rektum). Der Dünndarm spaltet mithilfe von Enzymen die Nahrungsbestandteile in resorbierbare Moleküle. Er resorbiert Nährstoffe wie Proteine und Kohlehydrate und transportiert diese weiter: Fette auf dem Lymphweg Richtung Ductus thoracicus, alles Übrige auf dem Blutweg Richtung Leber. Nicht resorbierbare Stoffe transportiert er weiter in Richtung Dickdarm. Der Darm ist – entsprechend seiner intensiven Resorption – bestens mit Gefässen versorgt und hat eine grosse Oberfläche. An keiner anderen Stelle des Körpers liegen so viele Blutgefässe beisammen wie im Dünndarmgekröse: Es handelt sich um Äste der A. und V. mesenterica superior und inferior, die sich wiederum in Äste aufteilen, die sich mit den entsprechenden Ästen der Nachbargefässe vereinen. Aus diesen Bogen (Arkaden der ersten Ordnung) entspringen wiederum Gefässe, aus denen Arkaden der zweiten Ordnung entstehen und so weiter.
Ernähren Sie auf der Intensivstation in Basel vom ersten Tag an enteral? Martin Siegemund: Wir ernähren Patienten auf der Intensivstation früh enteral, nicht aber am ersten Tag der Akutphase, wenn ein schweres Schockgeschehen vorliegt. Bei einem vorhandenen Reflux, den wir aufgrund der liegenden Magensonde nachweisen können, warten wir ebenfalls mit dem Beginn der enteralen Ernährung und unterstützen die Magenperistaltik mit Paspertin, auch Erythromycin, die zu einer besseren Magenentleerung führen. Was wir feststellen können: Die neuen enteral verabreichten Ernährungsprodukte sind besser verträglich! Beispielsweise kommt es so gut wie gar nicht mehr vor, dass wir einen Intensivpatienten nicht innerhalb von drei oder vier Tagen enteral ernähren können. Ich denke, das hängt mir der Zusammensetzung dieser Produkte zusammen. Sie beinhalten mehr Proteine, haben aber auch mehr Ballaststoffe und sind besser verträglich. Dazu zählen Produkte wie das hochkalorische Peptamen AF oder das normokalorische Nutrison oder Fresubin.
Kann man den Darm auch mit Probiotika unterstützen? Martin Siegemund: Bei den Probiotika liegen zumindest im Bereich der Intensivmedizin derzeit keine grossen randomisierten Studien vor, die einen Vorteil zeigen. Mein Wunsch wäre eine frühe enterale Ernährung mit Hefeweizen. Dieser enthält ausreichend Flüssigkeit mit einer guten Elektrolytverteilung, der Hopfen und der Alkohol wirken sedierend, und die Bierhefe (Saccharomyces) wirkt als Probiotikum. Von der Ethikkommission haben wir bereits grünes Licht für eine solche Studie erhalten. Leider fehlt uns noch ein Bierproduzent, der sich an der Studie finanziell beteiligen möchte.
Ist das Thema der selektiven oralen Dekontamination oder der selektiven Dekontamination im Verdauungstrakt noch aktuell?
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Martin Siegemund: Bei der selektiven Dekontamination würde man eine Dreifachkombination von Antibiotika und Desinfektiva oral und gastral applizieren. Bei der selektiven oralen Dekontamination würde man Chlorhexidin nur lokal im Mundraum applizieren. In Basel setzen wir dieses Verfahren ein, nicht aber die selektive Darmdekontamination, und auch international wird diese aufgrund der möglichen Resistenzbildung kontrovers diskutiert. Allerdings ist die Rate an resistenten Keimen im Vergleich zu anderen Ländern in der Schweiz auch sehr niedrig, da wir Antibiotika sehr gezielt einsetzen und Breitbandantibiotika nur dann, wenn diese notwendig sind.
In welche Richtung entwickelt sich die Forschung im Bereich der Translokation? Martin Siegemund: Da wir um die Bedeutung des Darms als Auslöser der Translokation wissen, sind wir dabei, einen Parameter zu suchen, der uns mehr über die Perfusion im Abdomen sagt. Denn die Minderperfusion aufgrund einer Hypotonie oder auch aufgrund einer Volumenüberbelastung und eines behinderten venösen Blutabflusses im Darm erhöht die
Gefahr der Translokation und des Übertritts von Bakterien ins Lymph- und Blutsystem. Derzeit sind wir dabei, verschiedene regionale Messwerte im Abdomen zu untersuchen, um eine Aussage über den regionalen Blutfluss und seine Dynamik im Bauchraum machen zu können. Anhand dieser Parameter könnten wir mehr über die Perfusion im Abdomen erfahren und davon ausgehend den Volumenersatz bei Patienten im Schock steuern. Derzeit untersuchen wir verschiedene mögliche Messgrössen im Rahmen der VoluKid-Studie. Ergebnisse liegen aber bis anhin noch nicht vor.
Sehr geehrter Herr PD Dr. Siegemund, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Martin Siegemund Stv. Chefarzt Operative Intensivbehandlung Forschungsgruppeleiter Intensivmedizin Departement Anästhesie, Intensivmedizin, präklinische Notfallmedizin, Schmerztherapie E-Mail: martin.siegemund@usb.ch