Transkript
Teil 1: Trinknahrung im Alter
SERIE TRINKNAHRUNG
Lena J. Vogt
Die Bevölkerungsgruppe der «Älteren» umfasst sowohl bereits Menschen ab dem 65. Lebensjahr als auch Menschen mit 85 Jahren. In der Regel können sich gesunde und aktive Senioren vollwertig und ausgewogen ernähren, sodass sie keine oralen Trinknahrungssupplemente (Oral Nutritional Supplement, ONS) benötigen. Anders sieht es bei älteren Menschen mit einer Mangelernährung oder mit einem Risiko für Mangelernährung aus. Für mangelernährte Ältere werden Empfehlungen für den Einsatz von ONS ausgesprochen (1).
Die körperlichen Veränderungen, die im Laufe des Lebens auftreten, lassen sich zunächst in die Kategorien Körperzusammensetzung sowie Hunger- und Sättigungsregulation einteilen (2). Die Körperzusammensetzung verändert sich bereits mit einem Alter von unter 30 Jahren, indem Magermasse (v.a. die Muskulatur) reduziert und im Gegensatz dazu Fettmasse aufgebaut wird (3, 4). Ab dem 70. Lebensjahr beträgt die jährliche Reduktion der Muskulatur zirka 1 Prozent und kann Auswirkungen auf die körperliche Beweglichkeit haben (5). Aufgrund von möglichen körperlichen Einschränkungen können manche Senioren nicht mehr selbstständig Lebensmittel einkaufen, zubereiten oder verzehren, was wiederum die Nahrungsaufnahme einschränkt. Ein vermindertes Appetitgefühl sowie Beeinträchtigungen des Geruchsund Geschmackssinns können ebenfalls zu einer reduzierten Nahrungsaufnahme führen. Ferner steigt im Alter die Wahrscheinlichkeit, eine akute oder eine chronische Erkrankung zu entwickeln, die sowohl den Stoffwechsel als auch die Appetitregulation negativ beeinflussen kann. Die Einnahme von mehreren Medikamenten kann diesen Effekt zudem verstärken. Diese Altersveränderungen treten häufig nicht als isoliertes Phänomen auf, sondern in Kombination und erhöhen das Risiko für den älteren Menschen, eine Mangelernährung zu entwickeln (5). Von den ernährungsmedizinischen Gesellschaften der Schweiz (GESKES), Deutschlands (DGEM) und Österreichs (AKE) sowie von der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) wird empfohlen, eine Ernährungstherapie nicht erst zu beginnen, wenn eine schwere Mangelernährung manifest ist, sondern frühzeitig, sobald Hinweise auf ein Risiko zu beobachten sind (1, 6). Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass etwa bei der Hälfte aller älteren Menschen ein Risiko für eine Mangelernährung besteht (7). Zudem ist zahlreich belegt, dass eine Mangelernährung einen ungünstigen klinischen Verlauf für den Patienten bedeutet und die
Lebensqualität sowie die körperliche Leistungsfähigkeit beeinflusst (2, 8). Im klinischen Umfeld sollte ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Ernährungstherapeutinnen, Pflegefachkräften, Physiotherapeuten und Logopäden für die Behandlung beziehungsweise die Verhinderung einer Mangelernährung bei Senioren verantwortlich sein (9). Zu den Kennzeichen für das Vorliegen eines Risikos für Mangelernährung bei älteren Menschen zählen eine unzureichende Nahrungszufuhr, ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von 5 Prozent in 3 beziehungsweise 10 Prozent in 6 Monaten sowie ein Body-Mass-Index von unter 20 kg/m2. Um diese Kriterien zu überwachen, sollte in Pflegeeinrichtungen und in Spitälern ein regelmässiges Screening durchgeführt werden (10), wie zum Beispiel das Mini Nutritional Assessment (11, 12) oder das Nutritional Risk Screening 2002 (13).
Lena J. Vogt
Ziele der Ernährungstherapie
Folgende Zielsetzung für die Ernährungstherapie wurde formuliert: «Während bei jüngeren Patienten die Reduktion von Morbidität und Mortalität oberste Priorität hat, stehen bei geriatrischen Patienten die Erhaltung von Funktion, Selbstständigkeit und Lebensqualität im Vordergrund» (1). In einem ersten Schritt sind zunächst die beschriebenen Ursachen für die Entstehung der Mangelernährung zu beheben. Zu diesem Zweck sind verschiedene Massnahmen möglich, wie zum Beispiel eine Behandlung beim Zahnarzt oder spezielles Besteck, um die Nahrungsaufnahme zu erleichtern. Bei der Auswahl der Lebensmittel ist darauf zu achten, dass die Aufnahme an Energie, Proteinen, Mikronährstoffen und Flüssigkeit den Bedarf des einzelnen Menschen deckt (1). Diese Empfehlungen be-
Série alimentation buvable: 1ère partie: alimentation buvable chez la personne âgée
Mots clés: modifications corporelles liées à l’âge – objectifs du traitement nutritionnel
En général, les seniors en bonne santé et actifs peuvent s’alimenter d’une manière complète et équilibrée, si bien qu’ils n’ont pas besoin d’avoir recours à des suppléments d’alimentation buvable par voie orale (Oral Nutritional Supplement, ONS). Il n’en va pas de même chez les personnes âgées présentant une malnutrition ou à risque de malnutrition. Les recommandations sur l’utilisation d’ONS les concernant sont précisées.
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SERIE TRINKNAHRUNG
«Um die Ernährungs-
ziele zu erreichen, sollte der Schwerpunkt bei der Lebensmittelauswahl auf Eiweissprodukte, Getreidebeilagen
»und gute Fette gelegt
werden.
züglich der richtigen Lebensmittelauswahl gelten im Übrigen nicht nur für mangelernährte Senioren, sondern auch für gesunde und aktive ältere Menschen. Aufgrund der sinkenden Muskelmasse ist eine ausreichende Proteinversorgung im Alter besonders wichtig. Experten gehen von einem erhöhten Proteinbedarf aus und empfehlen eine tägliche Proteinaufnahme von 1,1 g pro kg Körpergewicht anstatt den eigentlich für Erwachsene empfohlenen 0,8 g pro kg Körpergewicht, sofern keine Niereninsuffizienz vorliegt (14). Des Weiteren konnte in Studien beobachtet werden, dass die tägliche Portion Protein gleichmässig auf die drei Hauptmahlzeiten verteilt und nicht als alleinige Portion eingenommen werden sollte. Im besten Fall enthält jede Hauptmahlzeit 25 bis 30 g Protein, um einer Mangelernährung entgegenzuwirken (3). Neben der Proteinaufnahme spielen auch die generelle Energieaufnahme sowie eine adäquate Zufuhr von Mikronährstoffen eine wichtige Rolle. Um die Ernährungsziele zu erreichen, sollte der Schwerpunkt bei der Lebensmittelauswahl auf Eiweissprodukte, Getreidebeilagen und gute Fette gelegt werden. Unterstützend können energie- und proteinreiche Snacks zum Einsatz kommen und Mikronährstoffe wie zum Beispiel Vitamin D supplementiert werden (15).
Einsatz von ONS
Im Rahmen der Ernährungstherapie bei mangelernährten Senioren ist zusätzlich der Einsatz von ONS zweckmässig, um den Ernährungszustand zu stabilisieren und zu verbessern (9, 16). In der Leitlinie Klinische Ernährung in der Geriatrie werden in Übereinstimmung mit den ESPEN-Leitlinien für ältere Menschen mit einer Mangelernährung oder einem Risiko für Mangelernährung der Einsatz von ONS mit einem Evidenzgrad A empfohlen, um das Komplikationsrisiko und bei mangelernährten Patienten auch das Mortalitätsrisiko zu senken (1, 6). In Studien konnte beobachtet werden, dass die Gabe von ONS bei Senioren oft anspruchsvoll sowie zeitintensiv ist und daher verschiedene Massnahmen für eine gute Compliance der Patienten ergriffen werden sollten (1). Es wurde nachgewiesen, dass die Einnahme von ONS mit einer hohen Energiedichte besser von den Patienten angenommen wird als Produkte mit einer niedrigeren Energiedichte (17). Aus diesem Grund sollten energiereiche ONS für mangelernährte Senioren bevorzugt werden. Standard-ONS enthalten in der Regel 1 kcal/ml mit einer Portionsgrösse von 200 ml. Im Gegensatz dazu enthalten energiereiche Produkte 2,0 bis 2,4 kcal/ml bei einer Portionsgrösse von 200 ml beziehungsweise 125 ml. Aufgrund des erhöhten Proteinbedarfs sollte zusätzlich zum Energiegehalt auch auf den Proteingehalt der ONS geachtet werden. Ein ONS gilt als proteinreich, wenn mehr als 20 Prozent der Energie durch Proteine aufgenommen werden (18). Energie- und proteinreiche Produkte enthalten entweder 18 g Protein auf 125 ml oder 20 g Protein auf 200 ml. Die adäquate Dosierung an ONS ist abhängig von der aktuellen Nahrungsaufnahme
des Patienten, weil das Energie- und das Proteindefizit mithilfe der ONS ausgeglichen werden sollten. Liegen weitere Begleiterkrankungen vor, muss die Auswahl an ONS neben dem Energie- und dem Proteingehalt von weiteren Nährstoffen abhängig gemacht werden. Neben der richtigen Auswahl an ONS ist es für eine gute Compliance wichtig, dass der behandelnde Arzt respektive die Ernährungstherapeutin die Patienten über den Sinn und die Bedeutung der ONS aufklärt. Die Akzeptanz durch den Patienten ist höher, wenn der Einsatz der ONS gemeinsam mit dem Patienten auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt wird, zum Beispiel im Anschluss an eine Entlassung aus dem Krankenhaus, bis eine Stabilität der Ernährungssituation erreicht wurde. Die ONS sollten am besten als Zwischenmahlzeiten mit einem Abstand von etwa zwei Stunden vor den Hauptmahlzeiten verabreicht werden. Auch als Spätmahlzeit sind sie gut geeignet, da so die relativ lange Fastenspanne bis zum Frühstück verkürzt wird (14). Eine weitere Möglichkeit, die Akzeptanz bei den Patienten zu steigern, ist das Angebot der ONS abwechslungsreich zu gestalten, indem zwischen verschiedenen Geschmacksrichtungen gewählt werden kann. Auch die Konsistenz und die Temperatur der ONS können verändert werden und so Abwechslung in den Speiseplan bringen (1). Nach den Richtlinien der GESKES über Homecare, künstliche Ernährung zu Hause, stellt das Alter allein keine medizinische Indikation dar, die eine Kostenübernahme über die Grundversicherung hinreichend begründet. Gesunde und aktive alte Menschen benötigen in der Regel keine Unterstützung mit ONS. Zu den einschlägigen medizinischen Indikationen zählen beispielsweise Erkrankungen wie Kau- und Schluckstörungen, organbedingte Erkrankungen von Leber, Herz, Lunge oder Niere, neurologische Erkrankungen sowie intestinale Motilitätsstörungen. Da in den meisten Fällen der mangelernährten älteren Menschen mindestens eine dieser Indikationen vorliegt, kann der behandelnde Arzt ein Kostengutsprachegesuch stellen (19). Der Einsatz von ONS in der Ernährungstherapie älterer Menschen stellt eine wirksame Möglichkeit dar, den täglichen Energie- und Proteinbedarf zu decken und so einer Mangelernährung entgegenzuwirken. Sollte ein Patient aufgrund einer Erkrankung keine ONS oral aufnehmen können, sind gemeinsam im Team die Möglichkeit und die Sinnhaftigkeit weiterer ernährungstherapeutischer Massnahmen zu besprechen.
Korrespondenzadresse: Lena J. Vogt Kantonsspital Winterthur Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ökotrophologin MSc Brauerstrasse 15, 8401 Winterthur E-Mail: lena.vogt@ksw.ch
Es besteht kein Interessenkonflikt.
Ich bedanke mich bei Prof. Peter E. Ballmer, Direktor Departement Medizin und Chefarzt Klinik für Innere Medizin am Kantonsspital Winterthur, und Maya Rühlin, Leiterin Ernährungstherapie/-beratung am Kantonsspital Winterthur, für die Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Anmerkungen und Ergänzungen.
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Literatur: 1. Volkert D, Bauer JM, Frühwald T, Gehrke I, Lechleitner M, LenzenGrossimlinghaus R, Wirth R, Sieber CC und das DGEM Steering Committee: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG: Klinische Ernährung in der Geriatrie – Teil des laufenden S3-Leitlinienprojekts Klinische Ernährung. Aktuel Ernaehr Med 2013, 38:e1–e48. 2. Volkert D: Leitlinie Enterale Ernährung der DGEM und DGG: Ernährungszustand, Energie- und Substratstoffwechsel im Alter. Aktuel Ernaehr Med 2004, 29: 190–197. 3. Paddon-Jones D, Rasmussen BB: Dietary protein recommendations and the prevention of sarcopenia: protein, amino acid metabolism and therapy. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2009, 12: 86–90. 4. Goodpaster BH, Park SW, Harris TB, Kritchevsky SB, Nevitt M, Schwartz AV, Simonsick EM, Tylavsky FA, Visser M, Newmann AB, for the Health ABC Study: The loss of skeletal muscle strength, mass, and quality in older adults: the health, aging and body composition study. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2006, 61: 1059–1064. 5. Bauer JM, Wirth R, Volkert D, Werner H, Sieber CC, Teilnehmer des BANSS-Symposiums 2006: Malnutrition, sarcopenia and cachexia in the elderly: from pathophysiology to treatment – conclusion of an international meeting of experts, sponsored by the BANSS Foundation. Dtsch Med Wochenschr 2008, 133: 305–310. 6. Volkert D, Berner YN, Berry E, Cederholm T, Coti Bertrand P, Milne A, Palmblad J, Schneider S, Sobotka L, Stanga Z et al.: ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition: Geriatrics. Clin Nutr 2006, 25: 330–360. 7. Kaiser MJ, Bauer JM, Ramsch C, Uter W, Guigoz Y, Cederholm T, Thomas DR, Anthony PS, Charlton KE, Maggio M et al.: Frequency of malnutrition in older adults: a multinational perspective using the mini nutritional assessment. J Am Geriatr Soc 2010, 58: 1734–1738. 8. Verlaan S, Aspray TJ, Bauer JM, Cederholm T, Hemsworth J, Hill TR, McPhee JS, Piasecki M, Seal C, Sieber CC, et al.: Nutritional status, body composition, and quality of life in community-dwelling sarcopenic and non-sarcopenic older adults: A case-control study. Clin Nutr 2015: 1–8. 9. Silver HJ: Food modification versus oral liquid nutrition supplementation. Nestec Ldt 2009, 12: 79–93. 10. Bauer JM, Kaiser MJ, Sieber CC: Evaluation of nutritional status in older persons: nutritional screening and assessment. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2010, 13: 8–13. 11. Guigoz Y, Vellas B, Garry PJ: Mini Nutritional Assessment: a practical assessment tool for grading the nutritional state of elderly patients. Facts Res Gerontol 1994, 4: 15–59. 12. Rubenstein LZ, Harker JO, Salva A, Guigoz Y, Vellas B: Screening for undernutrition in geriatric practice: developing the short-form mini-nutritional assessment (MNA-SF). J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001, 56: M366–M372. 13. Kondrup J, Allison SP, Elia M, Vellas B, Plauth M: ESPEN Guidelines for Nutrition Screening 2002. Clinical Nutrition 2003, 22:415–421. 14. Bauer JM: Nutrition in older persons. Basis for functionality and quality of life. Internist (Berl) 2011, 52: 946–954. 15. Bischoff-Ferrari HA, Rosemann T, Grob D, Theiler R, Simmen HP, Meyer O: Vitamin-D-Supplementation in der Praxis. Schweiz Med Forum 2014, 14: 949–953. 16. Milne AC, Potter J, Vivanti A, Avenell A: Protein and energy supplementation in elderly people at risk from malnutrition. Cochrane Database Syst Rev 2009, Apr 15: CD003288. 17. Hubbard GP, Elia M, Holdoway A, Stratton RJ: A systematic review of compliance to oral nutritional supplements. Clin Nutr 2012, 31: 293–312. 18. Cawood AL, Elia M, Stratton RJ: Systemativ review and meta-analysis of the effects of high protein oral nutritional supplements. Ageing Res Rev 2012, 11: 278–296. 19. Ballmer PE, Meier R, Möltgen C, Rühlin M: Richtlinien der GESKES über Home Care, künstliche Ernährung zu Hause. Gesellschaft für Klinische Ernährung der Schweiz, 2013.
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