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EDITORIAL
Mikrobiom: Noch sind die Kenntnisse rudimentär
Über Hunderttausende von Jahren hat sich eine kommensale und symbiotische Gemeinschaft zwischen der kolonisierenden Flora (Bakterien, Viren, Pilze) – in ihrer Gesamtheit als Mikrobiom bezeichnet – und dem menschlichen Wirtsorganismus herangebildet. Das Mikrobiom umfasst mehr als 90 Prozent der Zellen, die wir mit uns herumtragen. Die Symbiose zwischen Mikrobiom und Wirt ist für beide Seiten überlebenswichtig und beeinflusst ab der Geburt vielfältigste Funktionen des menschlichen Organismus wie die Verdauung, die Bereitstellung von Substraten (z.B. gewisse Vitamine, kurzkettige Fettsäuren usw.), die Entwicklung des Immunsystems und die Produktion verschiedener Hormone. Darüber hinaus scheint eine enge Interaktion zwischen dem Mikrobiom und dem Gehirn zu bestehen (Gut-Brain-Axis), deren Bedeutung in Hinblick auf die Kombination von intestinalen und psychischen/neurologischen Störungen nur in Ansätzen zu erkennen ist. Die genauere Erforschung des Mikrobioms wurde erst in den letzten Jahren möglich, zum Beispiel durch Genotyping und andere Analyseverfahren, und hat das Tor zu einem auch bis anhin noch aktuellen und weitgehend unbekannten, allerdings absolut faszinierenden Universum geöffnet.
In diesem Themenheft beschäftigen sich verschiedene Autoren aus verschiedenen Blickwinkeln mit diesem Thema. Neben einer Übersicht über den aktuellen Kenntnisstand (Artikel Stocker Seite 12 ff., Artikel Aeberhard et al. Seite 6 ff.) werden auch Ernährungsinterventionen mit Mikrobiota und Probiotika bei spezifischen Erkrankungen (Artikel Rogler Seite 24 ff.) und die Rolle des Mikrobioms bei der Translokation und der Sepsis (Interview Siegemund Seite 21 ff.) beleuchtet. In den Artikeln werden verschiedene Aspekte unterschiedlich interpretiert. Das ist Ausdruck der noch sehr rudimentären Kenntnisse, die wir zurzeit besitzen. Es bleibt abzuwarten, wann wir über das komplexe System der Mikrobiota genügend wissen, um zu einheitlichen Beurteilungen und, daraus abgeleitet, zu konkreten klinischen Konsequenzen in Diagnostik und Therapie zu gelangen.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Reto Stocker
Prof. Dr. med. Reto Stocker Leiter Institut für Anästhesie und Intensivmedizin Klinik Hirslanden Witellikerstrasse 40 8032 Zürich E-Mail: reto.stocker@hirslanden.ch
2|2016 SZE 1