Transkript
Ernährungskonzept für nephrologische Patienten
SYMPOSIUMSBERICHT
Annegret Czernotta
Rund 4000 Menschen sind in der Schweiz aufgrund einer terminalen Niereninsuffizienz auf ein Nierenersatzverfahren angewiesen. Die grosse Mehrheit (rund 3800 Patienten) beansprucht die Hämodialyse, der Rest die Blutwäsche über das Peritoneum (Peritonealdialyse). Die Ernährung stellt einen wichtigen Pfeiler in der Behandlung dieser Patienten dar. Sie soll vor Mangelernährung schützen, aber auch vor einem Überangebot an Phosphat und Kalium. Wie komplex und spannend die ernährungsmedizinische Beratung dieser Patienten ist, zeigte Irmgard Landthaler, staatlich anerkannte Diätassistentin mit Schwerpunkt Nierenerkrankungen in München, am Symposium «Ernährungskonzept für nephrologische Patienten».
«Früher galt bei Dialysepatienten das Paradigma ‹Was darf ich essen, was nicht?›, sagte Irmgard Landthaler einleitend. «Heute heisst es eher: ‹Es ist verboten zu verbieten.›» Stefan, ein junger Dialysepatient, war es beispielsweise gewohnt, morgens Nutella auf dem Brot zu essen. Nachdem seine Mutter gelesen hatte, dass nierentoxisches Palmöl in Nutella enthalten ist, musste Stefan auf sein geliebtes Nutellabrot verzichten, weshalb er kein Frühstück mehr wollte. Die Mutter kam verzweifelt in die Ernährungsberatung. Irmgard Landthaler sah sich das Ernährungsprotokoll an und entschied, dass Stefan sein Nutellabrot wieder essen darf. «Denn auf die Dosis kommt es an», erklärte sie. «Bei Stefan hätte es mehr geschadet, wenn er weiterhin auf das gewohnte Frühstück hätte verzichten müssen.» Ziel und Nutzen der Ernährungstherapie bei Dialysepatienten ist es, kurzfristig zu hohe Kaliumwerte und eine starke Überwässerung zu vermeiden. Langfristig gilt es, Folgeerkrankungen wie eine Hyperphosphatämie zu verhindern. «Aber auch eine Mangelernährung», betonte Landthaler. «Denn ein wichtiges Ziel in der Behandlung von Dialysepatienten sollte es sein, dass die Ernährung ein Teil der Therapie ist, aber auch die Freude am Essen erhält, denn sonst kann es auch zu einer Mangelernährung kommen.» Vor dem Beratungsbeginn lässt sie die Klienten ein Esstagebuch über einen Zeitraum von drei Tagen führen. Zudem fordert sie den
Arztbrief mit der Medikamentenliste an und zusätzlich die Laborwerte und die Art der Dialyse (Hämodialyse, Peritonealdialyse oder Zustand nach Transplantation). Als beispielsweise Maria B. in die Ernährungsberatung kommt, beklagt sich diese darüber, dass sie nicht mehr wisse, was sie noch essen solle, und dass sie ständig Durst habe. Die 65-Jährige wiegt 50 kg bei einer Grösse von 152 cm, das Serumalbumin liegt bei 32 g/l. Sie hat eine Abneigung gegen Fleisch und Wurst. An der Dialyse ist sie seit gut einem Jahr, und seitdem hat sie 3 kg abgenommen. Sie klagt über Müdigkeit und hat sowohl hohe Phosphat- als auch Kaliumwerte. Ihr Mann hat einen hohen Cholesterinspiegel, und Maria B. hat Angst davor, dass sie jetzt auch noch zwei verschiedene Menüs zubereiten muss. Das Beratungsprotokoll ergibt bei ihr einen Mangel in der Energie- und Eiweissaufnahme. Maria B. hätte einen Bedarf von 1800 Kalorien täglich, sie nimmt aber nur 1300 Kalorien zu sich. Und statt 70 Gramm Protein sind es bei ihr nur 40 Gramm täglich.
Mangelernährung bei Dialysepatienten
Die Eiweissaufnahme ist aber relevant, da bei einer Hämodialyse allein durch das Filtrationsverfahren dreimal pro Woche 4 bis 9 Gramm an Aminosäuren verloren gehen. Zudem ist eine versteckte Gewichtsabnahme aufgrund von Ödemen, Zystennieren oder
Aszites zu bedenken. Deshalb rät Landthaler dazu, den Eiweiss- und den Energiestatus regelmässig durch verschiedene Messungen zu bestimmen und zu überprüfen. Dazu gehören der Gewichtsverlauf, die Albuminwerte, das Ernährungsprotokoll, aber insbesondere auch das Subjective Global Assessment (SGA). Das SGA zeichnet den Gewichtsverlauf über die letzten sechs Monate nach, enthält aber auch Angaben über gastrointestinale Symptome, die funktionelle Kapazität und die körperlichen Zeichen einer Mangelernährung (Verlust von Muskel- und Fettmasse). Bei Maria B. zeigte dieser Test eine Mangelernährung an. Die Dialysepatientin isst ungern Fleisch und Wurst, aber gern Camembert und Parmesan, beispielsweise auf Pasta. Den Käse hatte ihr die vorherige Ernährungsberaterin aufgrund des hohen Phosphatwerts jedoch verboten. «Bei Maria B. stand aber ganz deutlich die Mangelernährung im Vordergrund», so Landthaler, «weshalb wir besprachen, dass sie in Massen diese Käsesorten essen durfte.» Eine weitere Möglichkeit wäre eine Trinknahrung gewesen, da sich diese durch einen hohen Proteingehalt auszeichnet.
Concept nutritionnel pour patients néphrologiques
Mots clés : malnutrition – excrétion de phosphore – potassium/protéines – soutien nutritionnel
En Suisse, près de 4000 personnes sont tributaires d’une méthode de substitution rénale en raison d’une insuffisance rénale terminale. L’alimentation constitue un important pilier du traitement de ces patients. Elle doit les protéger non seulement contre la malnutrition, mais aussi contre un excès de phosphore et de potassium. Le symposium « Concept nutritionnel pour patients néphrologiques » a clairement montré à quel point l’alimentation de ces patients est complexe et a fait le point sur les possibilités existantes.
2|2016 SZE 35
SYMPOSIUMSBERICHT
Ernährungsunterstützung für nephrologische Patienten
Die Proteinmangelernährung hat bei Hämodialysepatienten eine hohe Prävalenz. Rund 6 bis 8 Prozent sind stark mangelernährt, und 18 bis 56 Prozent sind mangelernährt. Das heisst, dass jeder zweite Dialysepatient an einem mangelhaften Ernährungszustand leidet (1). Ernährungsinterventionen sind über eine Anpassung der Ernährung oder mit Ernährungssupplementen möglich. Dazu zählen beispielsweise Trinknahrungen mit hohem Proteinanteil in Pulverform (87 Gramm in 100 Gramm Pulver), die zu 97 Prozent aus Molkeprotein bestehen. Für Patienten, die noch nicht an der Dialyse sind, aber an einer akuten Niereninsuffizienz leiden und deshalb mangelernährt sind, gibt es hochkalorische Getränke, die sowohl protein- als auch elektrolytarm sind und ein hochwertiges Fettsäureprofil aufweisen. Bei einem Mangel an Spurenelementen und Vitaminen wiederum können Easydrinks den Bedarf decken. Auch an der Dialyse selbst sind Ernährungsinterventionen enteral oder parenteral möglich. Eine intradialytische parenterale Ernährung dreimal pro Woche kann helfen, bei mangelernährten Patienten den Bedarf an Aminosäuren zumindest teilweise zu decken. Weitere Informationen: Fresenius Kabi
1. Kopple JD: Therapeutic Approaches to Malnutrition in Chronic Dialyses Patients: The Different Modalities of Nutritional Support. AJKD, Vol. 33, No 1, 1999; pp 180–185.
Zudem überprüfte Landthaler die Versorgung mit Vitaminen und Spurenelementen. Ein Mangel kann aufgrund des Verfahrens eintreten – die wasserlöslichen Vitamine werden herausdialysiert – und durch das kaliumarme Essen. Die Trinkmenge orientiert sich bei Dialysepatienten immer an der Restfunktion der Niere und ist deshalb individuell. Ideal wäre es allerdings, wenn pro Tag maximal ein Kilo (Liter) an Gewicht zugenommen wird. Den Durst sollte Maria B. lindern, indem sie kochsalzarm isst und vor allem die Mahlzeiten auch selbst zubereitet. «In Fertigprodukten sind oft hohe Mengen an Salz enthalten», erklärte Landthaler den Grund.
Auswirkungen der gestörten Phosphatexkretion
Bereits in frühen Stadien der Niereninsuffizienz ist zudem die renale Phosphatexkretion gestört. Unbehandelt entwickelt sich praktisch immer eine Hyperphosphatämie, in deren Konsequenz sekundärer Hyperparathyreoidismus, renale Osteopathie, extraossäre und vor allem vaskuläre Verkalkungen voranschreiten. Dadurch steigen die kardiovaskuläre und die gesamte Mortalität der Betroffenen stark an. Der Patient bemerkt den hohen Phosphatgehalt oftmals durch den starken Juckreiz. Es kommt aber auch oft zu schmerzhaften Verkalkungen in den Weichteilen wie Gelenkkapseln, Muskeln, Haut, Herzklappen und Blutgefässen. Die Dialysebehandlung reicht in der Regel nicht aus, um den Phosphatanteil zu normalisieren. Der Mineralstoff ist an vielen lebensnotwendigen Vorgängen der Zelle, zum Beispiel der Energieübertragung, beteiligt und kommt deshalb überall in pflanzlichen und tierischen Zellen vor. Von den üblicherweise mit der Nahrung aufgenommenen Phosphaten stammen je ein Viertel aus Fleisch- und Wurstwaren, Milch und Milchprodukten sowie Backwaren und Nährmitteln. Der Rest verteilt sich auf Getränke.
Zusätzlich mit den natürlichen Phosphaten der Nahrung werden dem Körper auch die als Lebensmittelzusatzstoffe zugelassenen und zum Beispiel bei der Herstellung von Schmelzkäse oder Wurstwaren zugesetzten Phosphate zugeführt. Sie liefern nur Phosphat und kein Eiweiss, und sie werden zu fast 100 Prozent resorbiert. Solche Produkte sind zum Beispiel Colagetränke, Schmelzkäse, Instantprodukte und Backmischungen. Pro Tag wird deshalb im Schnitt eine Phosphatmenge von 1000 bis 1200 mg mit der Nahrung aufgenommen, von der 60 bis 70 Prozent (600–700 mg) gastrointestinal absorbiert werden. Demgegenüber steht die Entfernung von nur 700 bis 900 mg Phosphat pro Dialysebehandlung. Bei lediglich drei Dialysen pro Woche besteht somit eine positive Phosphatbilanz von 2000 bis 2500 mg! Eine anhaltende schwere Hyperphosphatämie
lässt sich nur vermeiden, wenn es gelingt, die Absorption dieser Phosphatmenge im MagenDarm-Trakt so gut wie möglich zu verhindern. Mit Phosphatbindern kann das gelingen, allerdings nur dann, wenn diese Medikamente zu jeder phosphathaltigen Mahlzeit und auch zu den Zwischenmahlzeiten eingenommen werden. Bei Maria B. zeigte das Ernährungsprotokoll, dass sie die Phosphatbinder nicht regelmässig eingenommen hatte. Ausserdem versuchte sie durch Kaugummi den Durst zu bekämpfen. Aber auch Kaugummi kann Phosphat enthalten. Auserdem zeigte der Ernährungsbefund, dass sie moderat mangelernährt mit Zeichen eines mässigen Muskelverlusts war. Die Eiweisszufuhr lag unter den Empfehlungen. Die deutliche Hyperphosphatämie liess sich bei ihr deshalb auch zum Teil durch Katabolismus erklären. Denn Katabolie ist ein Zustand, bei dem Phosphat freigesetzt wird. Die Hyperkaliämie wiederum konnte auf Katabolismus, Azidose und das Dialysatkalium zurückgeführt werden. Zusammenfassend hielt Irmgard Landthaler fest, dass die Ernährungstherapie in der Nephrologie immer individuell vorzunehmen ist und an die jeweilige Situation angepasst erfolgen sollte. Sie richtet sich nach dem CKDKrankheitsstadium (CKD: chronische Nierenerkrankung), den Begleiterkrankungen und den Folgeerkrankungen der chronischen Niereninsuffizienz. «Wichtig ist, dass wir unseren Patienten aber auch glauben», sagte Irmgard Landthaler abschliessend. «Und bei auffälligen Laborwerten nicht immer denken, dass er uns verschweigt, was er so alles isst.» Um die Ernährungstherapie in der Nephrologie zu optimieren, bringt ein prozessgeleitetes Arbeiten Struktur in die sehr komplexe Ernährungsproblematik.
Quelle: Ernährungskonzept für nephrologische Patienten. 2. März im Spital Zollikerberg, Veranstalter: Fresenius Kabi
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