Transkript
KINDERERNÄHRUNG
Einflussfaktoren auf das Essverhalten von Säuglingen und Kleinkindern
Oskar Jenni
Oskar Jenni, Sepp Holtz, Christian Henkel
Viele Ängste und Unsicherheiten von Eltern bezüglich des Essverhaltens von Säuglingen und Kleinkindern beruhen auf ungenügenden Kenntnissen der normalen Entwicklung des Essens in den ersten Lebensjahren. Die hier vorgestellte Sichtweise ist Teil des 2015 publizierten Expertenberichtes «Die Ernährung während den ersten 1000 Lebenstagen – von pränatal bis zum 3. Geburtstag» und behandelt die normale Entwicklung des Essverhaltens und seine Einflussfaktoren aus entwicklungspädiatrischer Sicht und thematisiert Fehlentwicklungen aus einer kinderpsychiatrischen Perspektive.
«Das Erkennen von
kindlichen Sättigungssignalen durch die Bezugspersonen ist eine wichtige Voraussetzung, damit das
»Kind nicht überfüttert
wird.
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Physiologische Regulationsmechanismen
Die physiologische Regulation von Hunger und Sättigung wurde in den letzten Jahren intensiv erforscht und in verschiedenen Übersichtsarbeiten dargestellt. Das Essverhalten ist wie das Schlafverhalten homöostatisch reguliert. Physiologische Regulationsprozesse stellen sicher, dass der Energiehaushalt eines Individuums in einem stabilen Gleichgewichtszustand aufrechterhalten wird (Homöostase). Bei einem Energiedefizit wird eine physiologische Kaskade ausgelöst, die zur Appetitstimulation führt. Ist in der Folge ein bestimmter Sättigungsgrad erreicht, werden Hormonsysteme und weitere neuroendokrine und neuronale Signale aktiviert, welche die weitere Nahrungsaufnahme bremsen. Die homöostatisch regulierten physiologischen Systeme sollen Hungerperioden verhindern und das Risiko für eine Adipositas reduzieren. Die meisten Kenntnisse der physiologischen Ernährungsregulation stammen allerdings aus Tiermodellen oder von Untersuchungen bei Erwachsenen. Nur wenige Studien haben die Ernährungsregulation im Säuglings- und Kindesalter beschrieben. Soussignan und Kollegen berichteten beispielsweise, dass zwei Tage alte gesunde Säuglinge nach dem Stillen eine Abneigung gegen Milchgeschmack zeigten. Neugeborene scheinen also weniger an Nahrung interessiert zu sein, wenn sie gesättigt sind. Ähnlich wie die Schlafregulation ist also auch die Eigenregulation der Nahrungsaufnahme sehr früh im Säuglingsalter funktionstüchtig.
Stillzeit
Hunger- und Sättigungsregulation wie auch der Nahrungsbedarf sind bereits in den ersten Lebenstagen von Kind zu Kind sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Die grosse Variabilität ist durch die interindividuell sehr unterschiedlichen physiologischen Regulationsmechanismen des Energiehaushaltes bedingt. Es zeigen allerdings nur gestillte Säuglinge eine vollständig eigenregulierte Nahrungsaufnahme, während bei flaschenernährten Säuglingen zum grossen Teil die Eltern die Kontrolle über die Ernährung haben. Dies könnte ein wesentlicher Grund sein, weshalb flaschenernährte Kinder ein höheres Risiko für die spätere Entwicklung einer Adipositas zeigen als gestillte Säuglinge. Das Erkennen von kindlichen Sättigungssignalen durch die Bezugspersonen ist eine wichtige Voraussetzung, damit das Kind nicht überfüttert wird.
Übergangszeit zur Breiernährung
Es gibt gewisse Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umstellung von flüssiger auf feste Nahrung (z.B. Reifung des Stoffwechsels, der Verdauung und der mundmotorischen Fähigkeiten). Damit das junge Kind Brei essen kann, muss es in eine aufrechte und einigermassen stabile Position gebracht werden und die Breinahrung schlucken können, ohne sich zu verschlucken. Diese Entwicklungsschritte zeigen eine grosse Variabilität von Kind zu Kind.
Kindgerechte Erwachsenenernährung
Im Alter zwischen 6 und 10 Monaten brechen die ersten Zähne durch, sodass das Kind erstmals in der Lage ist, Nahrung abzubeissen. Die Entwicklung des Greifens und der Augen-Hand-Koordination erlaubt dem Kind zudem, beim Trinken die Flasche selbstständig zu halten. Gegen Ende des ersten Lebensjahres halten praktisch alle Kinder die Flasche selber und beginnen selbstständig aus der Tasse zu trinken.
KINDERERNÄHRUNG
Ab dem 1. Geburtstag beginnen die Kinder zu essen, was auf den Familientisch kommt. Speisen müssen aber immer noch häufig püriert und zerkleinert werden. Spätestens ab diesem Alter ist eine besondere Kindernahrung nicht mehr angezeigt. Eine kindgerechte Erwachsenenernährung ist ausreichend. Die Fähigkeit, feste Nahrung zu kauen, entwickelt sich im 2. Lebensjahr und steht in direktem Zusammenhang mit dem Durchbruch der ersten prämolaren Backenzähne (manche beginnen damit schon am 1. Geburtstag, während andere erst am 2. Geburtstag kauen können). Zur gleichen Zeit beginnen die Kinder den Löffel zu brauchen und selbstständig damit zu essen. Die Gabel brauchen die meisten Kinder erst im 3. Lebensjahr.
Kulturelle und soziale Einflüsse des Essverhaltens
Kulturelle Normen und Vorstellungen beeinflussen die kindliche Entwicklung wesentlich. In der frühen Kindheit hängen besonders die Schlaf- und Fütterungsrituale von kulturellen und geografischen Gegebenheiten ab. In manchen Kulturen wird das Essen der Säuglinge von den Bezugspersonen vorgekaut, während andere diese Praxis als unhygienisch und sogar gefährlich beurteilen. In wieder anderen Kulturen werden die Kinder während des Fütterns getragen und in anderen sitzt das Kind in einem Kindersitz. Die grosse Variabilität der kulturellen Praktiken zeigt, dass Säuglinge und Kinder sehr anpassungsfähig sind und darum rigide Empfehlungen bezüglich des Essverhaltens vermieden werden sollten. Im 2. Lebensjahr ahmen die Kinder das Essverhalten der Eltern häufig nach und wollen selbstständig essen und trinken. Dafür braucht es Vorbilder. Tatsächlich ist das Imitationsverhalten und das soziale Lernen der stärkste Lerntrieb des heranwachsenden Kleinkindes. Entsprechend gross ist die Verantwortung von Bezugspersonen als Vorbilder.
Nahrungsvorlieben
Obwohl sensorische Wahrnehmungsprozesse noch unreif sind, können sich Säuglinge und Kleinkinder in einem gewissen Mass gustatorisch und olfaktorisch an Nahrung gewöhnen. Nahrungsvorlieben von Schwangeren oder Stillenden beeinflussen das intrauterine Milieu und die geschmackliche Vielfalt der Muttermilch. Tatsächlich kommt die Ablehnung neuer Speisen bei ehemals gestillten Kindern weniger häufig vor als bei Flaschen-ernährten Kindern. Für Eltern besteht demnach die Möglichkeit, die evolutionsbiologisch beschriebene Gewohnheit des Sichhineinschmeckens auszunutzen, um Kinder an eine gesunde und vielfältige Ernährung und gewisse Nahrungsvorlieben heranzuführen.
Fehlentwicklungen des frühkindlichen Essverhaltens
Verlässliche Daten zur Prävalenz von gestörtem Fütter- und Essverhalten in den ersten drei Lebensjahren sind spärlich. Die wenigen Studien wenden unterschiedliche Definitionskriterien für eine frühkindliche Ess- und Fütterstörung an und sind schlecht vergleichbar. Hervorzuheben ist, dass Symptome eines gestörten Essverhaltens im ersten Lebensjahr mit einseitigem Essen und Verhaltens- und Interaktionsstörungen im 3. Lebensjahr korrelieren. In Populationsstudien zeigen 20 bis 25 Prozent der Kinder zwischen 0 und 3 Jahren ein gestörtes Essverhalten (z.B. Verweigerung der Löffelfütterung, Kopf wegdrehen oder Würgen, wenn der Schoppen angeboten wird oder nur essen, wenn abgelenkt). Die Anzahl der Kinder mit einer klinisch bedeutsamen Ess- und Fütterstörung liegt bei 2 bis 5 Prozent aller Kinder, zirka 0,5 Prozent der Kinder werden hospitalisiert, und 3 bis 4 Prozent haben eine Gedeihstörung, die auf eine zu geringe Kalorienzufuhr zurückgeführt werden kann.
«Die grosse Varia-
bilität der kulturellen Praktiken zeigt, dass Säuglinge und Kinder sehr anpassungsfähig sind und darum rigide Empfehlungen bezüglich des Essverhaltens
»vermieden werden
sollten.
Eltern-Kind-Interaktion
Verbote und ihre Folgen
Die Eltern-Kind-Interaktion spielt für das kindliche Essverhalten eine zentrale Rolle. Elterliche Erwartungen und Vorstellungen beeinflussen die physiologischen Regulationsmechanismen des Kindes ganz wesentlich. Besonders falsche Erwartungen und Vorstellungen können die Ernährungsregulation des Kindes übersteuern. So kann das Kind übermässig gefüttert werden, obwohl kein weiterer Nahrungsbedarf besteht. Es scheint, dass die soziale Umgebung und die Interaktion zwischen Kind und Eltern wichtiger sind als sensorische Wahrnehmungen wie Geschmack, Geruch und Konsistenz von Nahrung, die Genuss und Lust beim Kind auslösen. Studien haben darauf hingewiesen, dass Belohnungssysteme, welche die Lust auf bestimmte Nahrung steuern, in den ersten zwei bis drei Lebensjahren noch nicht reif sind und erst später eine zentrale Rolle in der Ernährungsregulation spielen.
Inzwischen gibt es Belege dafür, dass Verbote das Gegenteil bewirken von dem, was ursprünglich angestrebt wurde. Kinder, denen im ersten und zweiten Lebensjahr restriktiv Nahrung angeboten wurde, die Essen als Belohnung oder zur Beruhigung erhielten, ohne dass sie Hunger zeigten, entwickelten gehäuft ein zu Übergewicht führendes Essverhalten. Sie interessierten sich vermehrt für Nahrung, regulierten sich emotional über das Essen und die Suche nach Nahrung oder zeigten einen gesteigerten Appetit. Verbote fördern (ungesunde) Vorlieben. Kinder, die restriktiv in Bezug auf Süssigkeiten aufwachsen, schlagen über die Stränge, wenn sie die Gelegenheit erhalten, Zucker zu konsumieren. So essen Kinder im Kindergartenalter besonders gern farbig gekennzeichnete Schokolinsen, welche zuvor mit einem Verbot gekennzeichnet wurden. Obwohl sich Letzteres auf Kinder jenseits des 3. Lebensjahres bezieht, können die Ergebnisse auf das 2. und 3. Lebensjahr übertragen werden, denn
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bereits in dieser Entwicklungsspanne ist zu beobachten, dass Verbotenes besonders interessant ist.
Klinische Formen von Essverhaltensstörungen
Frühkindliche Fütter- und Essverhaltensstörungen treten bevorzugt in den ersten beiden Lebensjahren auf. Das Risiko für die Entwicklung von Verhaltensstörungen im Kleinkind- und Vorschulalter ist erhöht, wenn eine klinisch relevante Essverhaltensstörung nicht frühzeitig behandelt wird. Die Entstehungsbedingungen sind oft multifaktoriell. Fehlentwicklungen betreffen meistens sowohl die eigenregulierte Essfähigkeit des Kindes als auch die intuitiven Kompetenzen der Eltern. In der Diagnostik und Behandlung werden dementsprechend elterliche, kindliche und interpersonale Faktoren einbezogen. Die Betreuung der Kinder und ihrer Familien gehört in die Hand erfahrener, gut vernetzter Fachpersonen und nach Möglichkeit in die Behandlung eines multidisziplinär zusammengesetzten Teams.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Oskar Jenni Abteilung Entwicklungspädiatrie Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: oskar.jenni@kispi.uzh.ch
KD Dr. med. Sepp Holtz Praxis «Kind im Zentrum» Mutschellenstrasse 189 8038 Zürich E-Mail: holtz@cybermail.ch
Dr. med. Christian Henkel Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: christian.henkel@kispisg.ch
Den Originalbeitrag mit allen Referenzangaben finden Sie online auf der Homepage des Bundesamtes fur Lebensmittelsicherheit und Veterinaärwesen unter: www.blv.admin.ch.
NEWS
Kindliche Entwicklung mit zusätzlicher Folsäure unterstützen
Medeiros et al. untersuchten, ob Eisensupplemente in Kombination mit Folsäure das kindliche Wachstum und die kindliche Entwicklung unterstützen können. Weltweit weisen viele Kinder eine Eisenmangelanämie auf. Die Studie führte das Autorenteam in Brasilien durch.
In Brasilien weisen 20,9 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 59 Monaten eine Eisenmangelanämie auf. Medeiros et al. ist das erste Studienteam, dass eine randomisierte, kontrollierte Studie zum Effekt von Folsäuresupplementen allein oder in Kombination mit Eisen auf die körperliche Entwicklung durchführte. Eingeschlossen wurden 188 Kinder im Alter von 6 bis 24 Monaten in ambulanten Gesundheitszentren der Stadt Goiania in Zentralbrasilien. 102 Kinder waren zu Studienbeginn anämisch (54,25%), 86 (45,75%) nicht. Die Kinder mit Anämie erhielten randomisiert täglich Eisensulfat (4,2 mg/kg/Tag) plus Folsäure (50 μg/Tag) oder Eisensulfat plus Plazebo, bei Kindern ohne Anämie wurde die Dosierung des Eisensulfats auf 1,4 mg/kg pro Tag
Foto: ruslanita - fotolia.com
reduziert, die Folsäuredosis blieb gleich. Durchschnittlich erhielten die Kinder 67 Dosen. Die Kinder in der Eisen-plus-FolsäureGruppe wiesen ein höheres mittleres Gewicht
auf als die Kinder, die nur Eisen erhielten, deshalb wurde der Effekt von Eisensulfat und Folsäure um das Eingangsgewicht adjustiert. Nach 3 Monaten lag die Prävalenz einer Anämie mit 14 Prozent in der Folsäuregruppe deutlich unter derjenigen in der Plazebogruppe (34,9%, p = 0,02). Bei den vor Studienbeginn nicht anämischen Kindern zeigte sich ein signifikant deutlicherer Hämoglobinanstieg bei zusätzlicher Folsäuregabe (p = 0,003). Die Kinder profitierten auch in ihrer körperlichen Entwicklung von der zusätzlichen Folsäuregabe und nahmen deutlicher an Gewicht zu als die Kinder in der Kontrollgruppe nur mit Eisensulfatgabe (p = 0,026), jedoch nicht im linearen Wachstum. Medeiros et al. zogen den Schluss, dass Folsäure keinen Einfluss hat auf das lineare Wachstum, aber die Gewichtszunahme positiv unterstützt – und das unabhängig von der Eisensupplementation. AC
Quelle: Medeiros DA et al.: The effect of folic acid supplementation with ferrous sulfate on the linear and ponderal growth of children aged 6–24 months: a randomized controlled trial. Eur J Clin Nutr 2015; 69: 198–204.
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