Transkript
NAHRUNGSMITTELINTOLERANZEN UND -UNVERTRÄGLICHKEITEN
Psychologische Aspekte bei Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten
Helena Kistler-Elmer
Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten können das Leben der Betroffenen stark beeinflussen. Die Restriktionen können zu Änderungen im sozialen Umfeld oder im Verständnis des eigenen Körpergefühls führen und sogar starke Ängste auslösen. Die ernährungspsychologische Beratung orientiert sich daran, «was möglich ist», und arbeitet ressourcenorientiert. Das Anthropologische Würfelmodell IKP® erweist sich im Beratungssetting als ein passendes Praxismodell, welches die Therapie wie auch die Beratung praktisch und hilfreich unterstützt.
Essen und Psyche sind emotional eng miteinander
verbunden. Essen kann als Ersatzbefriedigung dienen
oder hilft, seelische Bedürfnisse nach Nähe oder Ge-
borgenheit zu stillen oder Stress abzubauen. Auch
Nahrungsmittelallergien (NMA) und -unverträglich-
keiten beeinflussen Psyche und Soma und das damit
verbundene Wohlbefinden stets mit. Das reicht auf
der emotionalen Ebene von Unwohlsein, Erschöp-
fungszuständen, erhöhter Reizbarkeit und Nervosität
bis hin zu Minderwertigkeitsgefühlen oder Versa-
gensängsten.
Löst eine NMA oder -unverträglichkeit
Aspects psychologiques en cas d’allergies et d’intolérances alimentaires
auch noch sichtbare Symptome wie beispielsweise körperliches Unwohlsein, Hautausschläge oder Flush aus, kommen oft Schamgefühle, Rückzugstendenzen
Mots clés: manger et psychisme – le point de vue de la recherche – conseil psychonutritionnel – stratégies de conseil
und Angst vor Isolation hinzu. Das kann die Beziehungen zu anderen erheblich beeinflussen und vermindert die Lebensqualität.
Les allergies et les intolérances alimentaires peuvent avoir d’importantes répercus-
Im Zentrum einer ernährungspsychologischen Beratung steht dann die Frage nach
sions sur la vie des personnes concernées. der Verknüpfung von Essen, Psyche und
Les restrictions peuvent entraîner des mo- sozialem Geschehen und wie diese die Le-
difications de l’environnement social ou de bensqualität und das Wohlsein des Betrof-
la compréhension de sa propre sensation fenen und dessen Umfeld beeinflussen.
corporelle voire déclencher des angoisses Zusätzlich geht es darum, achtsam zu dif-
intenses. Le conseil psycho-nutritionnel ferenzieren, inwiefern sich hinter diesen
s’orientera sur ce qui est possible, et travail- Symptomen eine Essstörung, auch ein
lera de façon axée sur les ressources. Le drohendes Burn-out, eine Depression oder
modèle anthropologique des dés IKP® allenfalls eine Angststörung verbergen
s’avère être un modèle de conseil compati- oder abzeichnen kann. Frühzeitig gilt es,
ble avec la pratique, soutenant le traitement bei Bedarf das interdisziplinäre Zusam-
et le conseil de manière pratique et utile.
menspiel verschiedener Fachrichtungen
aufzugleisen.
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Aus der Sicht der Forschung
Aus der Sicht der Forschung gibt es bezüglich der Beziehung von Essen und psychosozialem Wohlbefinden nur sehr wenige Studien mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen, wie beispielsweise: • Psychosoziale Faktoren haben einen geringen Ein-
fluss auf die Genese, aber deutlich auf den Verlauf. • Stress kann zur Krankheitsaktivierung führen. • Bewältigungsstrategien haben Einfluss auf den
Krankheitsverlauf. • Es sind keine spezifischen Persönlichkeitsmerkmale
eruierbar. Faktisch existieren keine konkreten Leitlinien für Patienten mit NMA und -unverträglichkeiten, die einen spezifischen Leitfaden im Beratungssetting aufzeigen. In der ernährungspsychologischen Beratung zeichnen sich in der Regel drei wichtige Aspekte ab: • Reine Wissensinformation unterstützt den Patien-
ten nur bedingt in seiner Handlungsfähigkeit und führt nicht in jedem Fall auch zu einem positiven Krankheitsverlauf. • Essen und Psyche hängen zusammen! Die Restriktionen aufgrund der NMA und -unverträglichkeiten können das Wohlbefinden und die Lebensqualität sehr negativ belasten. • Die Beziehung zum Essen leidet in vielfältiger Art und Weise. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell nach Georg L. Engel geht davon aus, dass biologische, psychische und soziale Faktoren nicht eigenständig sind, sondern Teile eines verflochtenen Ganzen darstellen, welche interagieren. Diese dynamischen Wechselbeziehungen sind gemäss dem biopsychosozialen Modell kausal für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten. Symptome von Krankheiten spielen sich demnach zwar immer auf der Ebene des Individuums ab, aber Menschen sind wiederum selbst ein System aus
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vielen Subsystemen. Gleichzeitig ist der einzelne Mensch Teil umfassender Systeme wie beispielsweise der Familie oder der Gesellschaft, wobei der menschliche Geist planerisch auf biologische und soziale Systeme einwirken und diese verändern kann. Der Erfolg einer Behandlung ist deshalb oft abhängig von einer gut funktionierenden biopsychosozialen Gesamtkonzeption (Abbildung 1). Daraus lässt sich ableiten, dass Patienten mit einer NMA und/oder Nahrungsmittelunverträglichkeit für einen positiven Krankheitsverlauf im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtungsweise begleitet und behandelt werden müssen.
Ausgangslage im ernährungspsychologischen Beratungssetting
In der ernährungspsychologischen Beratung zeigen sich durch die Erkrankung weitere Belastungsfaktoren: Der Erkrankungsverlauf ist oft ungewiss, die Unverträglichkeitsreaktion unberechenbar und das häufige Unwohlsein eine grosse Einschränkung in der Lebensqualität. Meist sind die Patienten auch erschöpft, nervös, zeigen eine erhöhte Reizbarkeit und bringen Minderwertigkeitsgefühle oder auch Versagensängste mit in die Beratung. Weitere belastende Symptome sind zudem Scham oder Rückzugstendenzen. Hinzu kommt die Angst vor der bedrohlichen Lebenssituation durch eine allergische Reaktion auf Nahrungsmittel sowie die damit verbundene Gefahr der Komorbidität. Es tauchen auch dann Ängste und Zweifel auf, wenn sich die Ursachenfindung als langwierig und schwierig erweist. Nicht selten fühlen sich Klienten vom behandelnden Fachpersonal und dem sozialen Umfeld nicht ernst genommen, was wiederum Verunsicherung auslöst oder Zweifel schürt. Eine der grössten Befürchtungen sind die Folgen, die beim Essen ausser Haus auftauchen können. Patienten gehen daher immer weniger ausser Haus und entziehen sich dem sozialen Gefüge. Und dann entsteht eine Verunsicherung, ob der Alltag überhaupt noch zu bewältigen ist. Es zeigen sich dabei auch Angst und Scham vor Ausgrenzung. Nicht selten ist in der Negativspirale auch die Angst vor der Angst da. In der ernährungspsychologischen Beratung gilt es dann, achtsam zu differenzieren: • Inwiefern verbirgt sich beim Klienten bereits eine
Angststörung nach ICD-10 oder DSM-5? • Wo zeigt sich allenfalls eine Essstörung? • Wo sind Vorboten eines drohenden Burn-outs oder
einer Depression erkennbar? • Bei Anzeichen dieser Art ist ein frühzeitiges Auf-
gleisen eines interdisziplinären Zusammenspiels von weiteren Fachkräften aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie oder Psychiatrie unabdingbar.
Abbildung 2: Anthropologisches Würfelmodell IKP® nach Dr. Y. Maurer
Das ganzheitliche Modell als Beratungsansatz
Das Anthropologische Würfelmodell IKP® erweist Abbildung 3: Die 6 Lebensdimensionen in Bezug auf das Essverhalten sich im Beratungssetting als ein passendes Praxismo-
Abbildung 1: Biopsychosoziales Modell (nach George L. Engel)
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dell, das die Therapie wie auch die Beratung praktisch und hilfreich unterstützt. In ihm enthalten sind sechs Lebensdimensionen des Menschen, die seine Einheit wie auch seine Vielfältigkeit darstellen (2), wie beispielsweise die körperliche und psychisch-geistige Dimension und deren Vernetzung und Wechselwirkung untereinander (Abbildung 2) (3). Wird das Modell auf die ernährungspsychologische Beratung übertragen, beeinflusst die NMA und/oder die Nahrungsmittelunverträglichkeit die Balance im Körpererleben sowie das seelische und beziehungsmässige Erleben ebenfalls. Durch den Einbezug aller Lebensbereiche in den sechs Dimensionen lässt sich allerdings ein ganzheitliches Gesundsein und Gesundwerden fördern (Abbildung 3). Aus dem weiterentwickelten Anthropologischen Würfelmodell IKP® mit den sechs Lebensdimensionen und dessen Bezug auf das Essverhalten lassen sich zudem alltagstaugliche psychologische Massnahmen und Bewältigungsstrategien für die Praxis erarbeiten, die den Krankheitsverlauf nicht nur entlasten, sondern den Blick vermehrt auch auf mögliche Ressourcen und neue – allenfalls bis anhin unentdeckte – Lösungswege lenken.
Strategien in der ernährungspsychologischen Beratung
Im ernährungspsychologischen Beratungssetting ist eine genaue Anamnese und Erfassung der komplexen Situation erforderlich. Es gilt, die Aufmerksamkeit auf folgende Punkte zu legen: • Erfassen der Verknüpfungen von psychosozialen
und -emotionalen Faktoren (analog einem ganzheitlichen Modell). • Heraushören von Ressourcen: Wo lässt sich Vertrauen schaffen beispielsweise in Bezug auf beschwerdefreie Momente? Welche Faktoren lindern die Angst vor dem Essen? • Sprache und Haltung zur Erkrankung: Was wird abgelehnt? Wo zeigen sich Widersprüche? Verbirgt sich eine Wut-Aggressions-Thematik hinter dem Krankheitsbild? Der Einbezug dieser Punkte kann zur primären Verbesserung von Wohlbefinden und Lebensqualität führen und darüber hinaus eine bessere Krankheitsbewältigung aufgrund erlernter Copingstrategien ermöglichen. Durch die emotionale Unterstützung verbessert sich auch die Adherence, und es kann zur Klärung und Versöhnung von verschiedenen Konfliktbereichen auf seelischer und/oder körperlicher Ebene kommen. Orientiert sich die Beratung zudem an den Ressourcen, lassen sich Stärken und Kräfte des Klienten dahingehend weiterentwickeln, dass dieser ein adäquates Stressmanagement oder ein entsprechendes Entspannungsverfahren erlernen kann.
Zusammenfassend betrachtet fokussiert die Behandlung nicht ausschliesslich und zwingend auf die Heilung, sondern bezieht auch die Krankheitsbewältigung mit ins Beratungskonzept. Dabei soll Krankheitsbewältigung in keinem Fall als etwas Statisches verstanden werden, sondern als ein Prozess ständiger Veränderung (4). Gemäss Edgar Heim bezeichnet Krankheitsbewältigung das Bemühen, bereits bestehende oder zu erwartende Belastungen innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln zu reduzieren, auszugleichen oder zu verarbeiten (5).
Fazit
In der Begleitung von Menschen mit einer NMA oder Nahrungsmittelunverträglichkeit braucht es eine achtsame Abklärung, welche mit dem ganzheitlichen IKPModell nach Maurer optimal unterstützt und ergänzt werden kann. Der Patient wird dahingehend beraten und angeleitet, dass er die Verantwortung für sein körperliches, seelisches und emotionales Wohlbefinden wieder für sich übernehmen kann. Die Beratung orientiert sich daran, «was möglich ist», und arbeitet ressourcenorientiert an den Schwerpunkten. Der Leitsatz lautet: «Weg vom Problem, hin zur Lösung – von der Belastung weg hin zur Entlastung». Lebensqualität und Wohlbefinden sollen sich schrittweise verbessern. Die begleitende Fachperson sollte sich neben dem ernährungsmedizinischen Wissen auch psychologische Kenntnisse angeeignet haben, wie einfühlsames, aktives Zuhören, bedingungslose Wertschätzung und Akzeptanz, sowie ein Grundverständnis für die Zusammenhänge von Körper und Psyche (im Sinne des ganzheitlichen, körperzentrierten Ansatzes) haben.
Korrespondenzadresse: Fit4food GmbH Helena Kistler-Elmer dipl. Ernährungsberaterin FH Beraterin in angewandter Psychologie Rosengartenstrasse 6 8853 Lachen (SZ) E-Mail: helena.kistler@fit4food.ch Internet: www.fit4food.ch
Quellen: 1. Engel GL: Schmerz umfassend verstehen: Der biopsychosoziale Ansatz zeigt den Weg. 1. Auflage. Verlag Hans Huber, 2011. 2. Künzler, Böttcher, Hartmann, Nussbaum: Körperzentrierte Psychotherapie im Dialog. 1. Auflage. Springer-Verlag, 2010; 19–20. 3. Maurer YA: Körperzentrierte Psychotherapie IKP – Ganzheitlich orientierte Behandlungskonzepte und Therapiebeispiele. 3. überarbeitete Auflage. IKP Verlag, Zürich 2002; 21–23. 4. Hofmann S, Hochapfel F, Eckhardt A, Heuft G: Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie. 9. überarbeitete Auflage. Schattauer-Verlag; 389– 391. 5. Heim E, Willi J: Psychosoziale Medizin – Gesundheit und Krankheit aus bio-psycho-sozialer Sicht, B2: Klinik und Praxis. Springer-Verlag, 1986.
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