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NAHRUNGSMITTELINTOLERANZEN UND -UNVERTRÄGLICHKEITEN
IgE-vermittelte Nahrungsmittelallergien im Kindesalter
Raquel Enriquez, Peter Andreas Eng*
Besonders im Säuglings- und Vorschulalter treten Nahrungsmittelallergien häufig auf und können die Lebensqualität der betroffenen Kinder und deren Familien erheblich beeinträchtigen. Viele Nahrungsmittelallergien wachsen sich bis zum Eintritt ins Schulalter aus; andere Allergien bleiben lebenslang bestehen. Es gibt keine ursächliche Behandlung von Nahrungsmittelallergien. Die Eliminationsdiät bleibt daher das wichtigste Therapiekonzept. Kommt es trotz Ernährungsberatung zu einer versehentlichen Einnahme des Allergens, sind Notfallmedikamente die zweite Behandlungssäule. Eine gute Instruktion zur Handhabung dieser Notfallmedikamente ist essenziell.
Primäre und sekundäre Nahrungsmittelallergien
Bei Säuglingen und Kleinkindern handelt es sich überwiegend um primäre Nahrungsmittelallergien. Sie treten nach Ingestion und Kontakt des Allergens mit der Darmschleimhaut auf. Dies kann als Versagen der oralen Toleranzinduktion im Zusammenhang mit einer Unreife der kindlichen Darmschleimhaut gesehen werden. Mit zunehmender Reifung des Immunsystems und der Darmmukosa wachsen viele der betroffenen Kleinkinder ihre primäre Nahrungsmittelallergie bis zum Eintreten ins Schulalter aus. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingegen entwickeln sich Nahrungsmittelallergien hauptsächlich als Folge einer Sensibilisierung auf inhalative Atemwegsallergene, wie zum Beispiel Birken- und Beifusspollen (Pollenassoziierte Nahrungsmittelallergien). Die immunologische Grundlage dieser sekundären Nahrungsmittelallergien besteht in einer IgEKreuzreaktivität infolge hochgradiger Ähnlichkeit der 3D-Struktur und Aminosäuresequenz zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und Pollen. Viele auf Birkenpollen allergische Schulkinder mögen auf einmal keine Äpfel oder Pfirsiche mehr und manche Hausstauballergiker vertragen plötzlich keine Crevetten und andere Schalentiere mehr. In der Mehrzahl der Fälle beschränken sich die Beschwerden auf den Mund- und Rachenbereich (orales Allergiesyndrom). Sie treten unmittelbar nach dem Verzehr des entsprechenden Nahrungsmittels auf und manifestieren sich als Juckreiz an den Lippen, pelziges Gefühl auf der Zunge oder im Gaumen. Seltener kommt es auch zu
* Pädiater und Allergologe, Löwenpraxis Aarau und Kantonsspital Luzern
stärkeren Beschwerden wie Lippen- und Zungen-
schwellung, Heiserkeit, Atemnot und Erbrechen. Pol-
lenassoziierte Nahrungsmittelallergene sind labil und
werden durch Erhitzung und Verdauung
degradiert. Bei den sekundären Nahrungsmittelallergien reagieren die betroffenen Patienten in der Regel nur auf frische, un-
Allergies alimentaires médiées par des IgE dans l’enfance
verarbeitete Nahrungsmittel. Nach Erhitzung und anderer Verarbeitung der Nahrungsmittel werden diese toleriert. Für die Patienten und zur adäquaten Ernährungsberatung ist diese Unterscheidung wichtig.
Mots clés: allergies alimentaires primitives et secondaires – fréquence – diagnostic – manifestation clinique – traitement – allergie au lait de vache en particulier
Häufigkeit der Nahrungsmittelallergien im Kindesalter
De nombreuses allergies alimentaires disparaissent avant l’âge scolaire; d’autres allergies persistent toute la vie. Le lait de
In den letzten Jahrzehnten haben Nahrungsmittelallergien zugenommen, weltweit sind 6 bis 8 Prozent der Kinder betroffen – mit allerdings grossen geografischen Unterschieden. Die Häufigkeit sinkt mit zunehmendem Alter auf etwa 2 Prozent bei Erwachsenen (1). Kuhmilch ist das häufigste Nahrungsmittelallergen, 2 bis 3 Prozent aller Säuglinge und Kleinkinder sind betroffen. Beim Hühnerei sind es 1 bis 2 Prozent aller Säuglinge und Kleinkinder, wobei sich viele dieser primären Nahrungsmittelallergien in den ersten drei bis fünf Lebensjahren spontan auswachsen. Die Toleranzentwicklung ist aber abhängig vom Allergen. Sie kommt häufiger vor bei Kuhmilch-, Hühnerei-, Soja-
vache est le plus fréquent des allergènes alimentaires, suivi par l’œuf de poule. Une anamnèse minutieuse est la base du bilan allergologique. Les tests cutanés ainsi que des examens de laboratoire pour la mise en évidence d’anticorps de type IgE spécifiques confortent la suspicion clinique. Il n’existe pas de traitement causal des allergies alimentaires, raison pour laquelle le régime d’éviction reste le principal concept thérapeutique. Lorsqu’une ingestion accidentelle de l’allergène a eu lieu malgré le conseil nutri-tionnel, des médicaments d’urgence constituent le deuxième pilier du traitement. Dans le cas de l’allergie au lait de vache, il convient de veiller aux apports en calcium.
und Weizenallergien, tritt aber selten auf
bei Fisch- und Erdnussallergien. Bei einigen Kindern
persistieren aber auch Kuhmilch- und Hühnereialler-
gien bis zum Erwachsenenalter (2).
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und Hühnerei sind die hauptverantwortlichen Allergene vor allem im Säuglings- und Kleinkindesalter. Erdnuss, Haselnuss, Weizenmehl, Fisch, Kiwi und Soja folgen in der Liste (13). Die Reihenfolge der häufigsten Nahrungsmittelallergene ändert sich je nach Altersgruppe (Tabelle 1).
Diagnostik
Abbildung 1: Prävalenz der klinischen Symptome bei 278 IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergien im Kindesalter (13)
Die wichtigsten Nahrungsmittelallergene bei Kindern sind in Tabelle 1 zusammengefasst; dort nicht genannte Allergene spielen im Alltag eher eine untergeordnete Rolle. Obwohl grundsätzlich jedes pflanzliche und tierische Protein eine allergische Reaktion auslösen kann, richten sich primäre Nahrungsmittelallergien häufig gegen eine begrenzte Anzahl von Nahrungsmitteln, insbesondere gegen hitze- und verdauungsresistente Allergene (3). Die Häufigkeit der Allergien auf einzelne Nahrungsmittel ist einerseits abhängig von den Ernährungsgewohnheiten und den Zubereitungsmethoden der Speisen in den einzelnen Ländern, andererseits vom Alter der Kinder bei Einführung der Nahrungsmittel. So gibt es in den USA eine hohe Prävalenz von Erdnussallergien, während Soja, Kuhmilch und Hühnerei die häufigsten Auslöser von Nahrungsmittelallergien in Japan sind. In Frankreich gibt es mehr Allergien gegen Senf, in Portugal und Spanien sind es Fische, in Italien Meeresfrüchte und Kuhmilch, in Skandinavien Nüsse und Sesam in Israel (4–12). Auch in der Schweiz ist eine kleine Anzahl von Nahrungsmitteln verantwortlich für über 80 Prozent der allergischen Reaktionen im Kindesalter. Kuhmilch
Die sorgfältig aufgenommene Patientenanamnese ist die Basis zur allergologischen Abklärung einer Nahrungsmittelallergie. Hauttestungen mit kommerziellen Extrakten und/oder nativen Nahrungsmitteln sowie laborchemische Untersuchungen zum Nachweis spezifischer IgE-Antikörper unterstützen den klinischen Verdacht. Der Nachweis einer Sensibilisierung mit positivem Resultat im Hauttest oder erhöhten spezifischen IgE-Antikörper in der In-vitro-Analyse bedeutet noch nicht eine klinisch manifeste Allergie. Erst eine Korrelation zwischen positiven Testresultaten und Anamnese bestätigt die Diagnose einer Nahrungsmittelallergie. In unklaren Fällen erfolgt zur Bestätigung der klinischen Relevanz der Sensibilisierung eine Provokationstestung mit dem verdächtigten Allergen (14). Solche standardisierten oralen Nahrungsmittelprovokationstestungen sind zeitlich aufwendig und beinhalten ein Risiko für schwere allergische Reaktionen und müssen beim Spezialisten oder in der Klinik durchgeführt werden.
Klinische Manifestation
Nahrungsmittelallergien manifestieren sich mit einem breiten Spektrum klinischer Symptome. Dieses reicht von leichten Hautsymptomen bis zur schweren anaphylaktischen Reaktion mit Kollaps und Schock. Im Kindesalter äussern sich IgE-vermittelte Nahrungsmittelallergien in erster Linie an der Haut und am zweithäufigsten im Gastrointestinaltrakt mit Erbrechen und Durchfall. Respiratorische Beschwerden tre-
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Tabelle 1:
Häufigste allergieauslösende Nahrungsmittel (NM) in verschiedenen Altersgruppen
0–12 Monate NM-Allergen
Kuhmilch Hühnerei Weizenmehl Erdnuss Haselnuss Kartoffel Kiwi Zucchetti
% der Diagnosen NM-Allergie
37,9% 31,0% 10,3% 8,6% 5,2% 3,4% 1,7% 1,7%
13–36 Monate NM-Allergen
Hühnerei Kuhmilch Haselnuss Erdnuss Weizenmehl Fisch/Crevetten Sesam Soja
% der Diagnosen NM-Allergie
27,9% 20,5% 13,1% 10,7% 6,6% 3,3% 2,5% 2,5%
Mehr als 36 Monate NM-Allergen
Erdnuss Hühnerei Fisch/Crevetten Haselnuss Kuhmilch Kiwi Walnuss Soja
% der Diagnosen NM-Allergie
21,4% 14,3% 11,2% 10,2% 9,2% 4,1% 4,1% 3,1%
(mod. nach Ferrari G, Eng PA, Swiss Med Wkly 2007, s157: 13)
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ten vor allem bei Patienten mit vorbestehendem Asthma bronchiale auf (Abbildung 1). IgE-vermittelte Sofortreaktionen treten in der Regel innerhalb von zwei Stunden nach Einnahme der entsprechenden Nahrungsmittel auf (Abbildung 2). Zur genauen Allergiediagnostik und Erhöhung der Sensitivität und Spezifität positiver Resultate der In-vitro-Analyse werden heute zunehmend Testverfahren eingesetzt, bei denen nicht nur erhöhte spezifische IgE-Antikörper auf das ganze Extrakt (meist eine Mischung verschiedener allergener Proteine und anderer immunologisch nicht relevanter Substanzen), sondern auf Allergeneinzelkomponenten gemessen werden. Bei den primären Nahrungsmittelallergien gibt diese komponentenbasierte Diagnostik (CRD) wertvolle ergänzende diagnostische und prognostische Informationen (15). Die Interpretation der komplexen Resultate einer CRD-Diagnostik erfordert gute Kenntnisse der einzelnen Nahrungsmittelallergene und deren Risiko für persistierende und schwere allergische Reaktionen. Die CRD-Diagnostik soll deshalb dem Spezialisten überlassen werden. Tabelle 2 zeigt die bei primären Nahrungsmittelallergien des Vorschulalters am häufigsten involvierten Einzelallergene. Die meisten sind hitzeresistent, kommen also auch bei verarbeiteten Nahrungsmitteln vor. So zeigen zum Beispiel Kinder mit Hühnereiweissallergie und Sensibilisierung auf das hitze- und verdauungsresistente Ovomucoid (Gal d1) ein erhöhtes Risiko für allergische Reaktionen auch nach Genuss von gebackenen (Kuchen, Muffins), gekochten (Omelettes, Crêpes) und rohen Hühnereiern (Zabaione, Tiramisù, Glacé) sowie eine Persistenz dieser Allergie über das Kleinkindesalter hinaus (16). Bei erhöhten IgE-Antikörpern auf das hitze- und verdauungslabile Ovalbumin (Gal d2) und fehlender Sensibilisierung auf Ovomucoid (Gal d1) werden jedoch gebackene Eier in der Regel toleriert und allergische Reaktionen sind nur auf gekochte oder rohe Eier zu erwarten (17). Bei Kuhmilchallergikern korreliert oft die Sensibilisierung auf das hitze- und verdauungsresistente Kasein (Bos d8) mit systemischen allergischen Reaktionen, sodass in diesem Fall eine absolute Kuhmilchkarenz empfohlen wird. Bei Sensibilisierung auf die hitze- und verdauungslabilen Molkeproteine Alpha-Lactalbumin (Bos d4) und/oder Beta-Lactoglobulin (Bos d5) und fehlender Sensibilisierung auf Kasein (Bos d8) dürfen hingegen in der Regel gekochte Kuhmilch sowie Käse und Joghurt eingenommen werden (17). Bei Erdnussallergikern deutet die Sensibilisierung auf das hitze- und verdauungsstabile Speicherprotein Ara h2 auf ein erhöhtes Risiko für systemische allergische Reaktionen hin (18). Weitere hitze- und verdauungsresistente Allergene mit erhöhtem Risiko für systemische allergische Reaktionen sind das Lipid-Transfer-Protein Cor a8 oder Speicherproteine Cor a9 und Cor a14 bei Haselnussallergikern, Tri a19 (Omega-5 Gliadin) bei Weizenallergikern, die Speicherproteine Gly m5 und Gly m6 bei Sojaallergikern, die Parvalbumine Gad c1 und Cyp c1 bei Fischallergikern (Dorsch, Karpfen) und die Tropomyosine Pen a1 und Pen m1 bei Patienten mit Allergien auf Meeresfrüchte (19–24).
Abbildung 2: Zeit zwischen Aufnahme des Allergens und Auftreten erster Symptome (n = 1154, Anaphylaxie-Register, Meldungen ab Fragebogen – Version 4 von April 2010 bis Feb, 2012
Nahrungsmittelspezifisches IgG4 zeigt keine (drohende) Nahrungsmittelallergie oder -unverträglichkeit an, sondern stellt eine physiologische Reaktion des Immunsystems nach Kontakt mit Nahrungsmittelbestandteilen dar. Daher wird die Bestimmung von IgG4 gegen Nahrungsmittel als irrelevant für die Labordiagnostik einer Nahrungsmittelallergie oder -intoleranz angesehen und sollte bei Symptomen, die im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme auftreten, nicht durchgeführt werden (25).
Therapie: Diät und Allergiekarenz – Notfalltherapie
Die einzig mögliche Behandlung einer IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergie ist auch heute noch das Auslassen der allergieauslösenden Proteine. Dafür
Tabelle 2:
Wichtige Allergene bei den häufigsten primären Nahrungsmittelallergien
Nahrungsmittel Hühnerei
Kuhmilch
Erdnuss Haselnuss
Weizenmehl Soja Garnele Dorsch Karpfen
Allergen
Funktion/
Hitze-/Verdauungs- Sensibilisierung
Familie
resistenz
(% Allergiker)
Gal d 1
Ovomucoid
+
70
Gal d 2
Ovalbumin
–
60
Bos d 4
Alpha-Lactalbumin
–
12–53
Bos d 5
Beta-Lactoglobulin
–
43–82
Bos d 8
Kasein
+ 12–53
Ara h 2
Speicherprotein
+
–
Cor 1 8
Lipid-Transferprotein
+
–
Cor a 9/11
Speicherprotein
+
–
Tri a 19
Omega-5-Gliadin
+
–
Glym 5/6
Speicherprotein
+
–
Pen a 1/Pen m 1 Tropomyosin
+
> 90
Gad c 1
Parvalbumin
+
50–100
Cyp c 1
Parvalbumin
+
–
(mod. nach Jäger L., Nahrungsmittelallergien und -intoleranzen, Urban & Fischer 2008)
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sind eine gute Information der Patienten über das betroffene Protein und in diesem Zusammenhang zu vermeidende Nahrungsmittel unumgänglich. Falls nötig müssen die Patienten auch darüber informiert werden, wie einzelne Nährstoffe substituiert werden können. Das Weglassen wichtiger Grundnahrungsmittel kann vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern das Risiko für eine Fehl- oder Mangelernährung bedeuten. Deshalb ist es nötig, dass Auslassdiäten sehr restriktiv nach korrekter Diagnose durch den Spezialisten in Zusammenarbeit mit einer Ernährungsberatung verordnet werden. Da viele Kinder mit einer primären Nahrungsmittelallergie bis ins Alter von 3 bis 5 Jahren eine Toleranz entwickeln, sollen Auslassdiäten nur für eine beschränkte Zeit verordnet werden. Nach 6 bis 12 Monaten muss eine Re-Evaluation der Allergie erfolgen mit der Frage nach Wiedereinführung des entsprechenden Nahrungsmittels. Als Ansatz zur kausalen Therapie von Nahrungsmittelallergien wird zurzeit die spezifische orale Toleranzinduktion oder Immuntherapie in Studien untersucht. Obwohl erste Berichte vielversprechend sind, müssen grössere, prospektive Studien durchgeführt werden, um die Wirksamkeit und Nebenwirkungsrate zu evaluieren. Risikoallergene wie Erdnüsse mögen dabei aufgrund von unabsehbaren und schweren Nebenwirkungen weniger geeignet sein als die klassischen frühkindlichen Nahrungsmittelallergene Kuhmilch oder Hühnerei. Bevor aber nicht weitere Daten zur Wirksamkeit, zum Langzeiteffekt und zur Sicherheit vorliegen, kann diese Form der Behandlung noch nicht in den Alltag der Klinik und Praxis eingeführt werden. Trotz konsequenter Allergenkarenz ist eine akzidenzielle Ingestion von Nahrungsmittelallergenen nie auszuschliessen. Diese können in der Kinderkrippe, beim Kindergeburtstag oder im Restaurant geschehen. Deshalb müssen Patienten mit Nahrungsmittelallergien zu jedem Zeitpunkt im Besitze eines Notfallsets sein, und die Angehörigen sind in der Anwendung des Notfallsets zu schulen. Sie müssen auch instruiert werden, wie sich allergische Reaktionen manifestieren können. Bei schweren allergischen Reaktionen ist Adrenalin (Epinephrin) das Mittel der ersten Wahl. Oral verabreichte Notfallmedikamente wie Antihistaminika und Kortikosteroide sind in diesen Fällen nur eine Begleitmassnahme. Die intramuskuläre Verabreichung von Adrenalin mittels Autoinjektoren wird der intravenösen Applikation von Adrenalin vorgezogen. Jedes Kind mit einer potenziell lebensbedrohlichen Nahrungsmittelallergie soll einen Adrenalin-Autoinjektor zur Behandlung allergischer Notfälle auf sich tragen. Im Zweifelsfall sollte Adrenalin so schnell wie möglich und ohne schwerere Symptome abzuwarten, verabreicht werden. Risikopatienten für anaphylaktische Reaktionen sind Kinder mit Asthma bronchiale und Patienten mit Allergien auf Nahrungsmittel wie Erdnüsse, Nüsse, Fische und Schalentiere. Im Kindesalter gibt es keine absolute Kontraindikation für die Verwendung von Adrenalin.
Kuhmilchallergie im Speziellen
Eine Kuhmilchallergie ist eine Überempfindlichkeitsreaktion auf die Proteine in Milch, Säuglingsmilchnahrungen oder Milchprodukten. Dabei können die Kinder auf die verschiedenen Proteinfraktionen des Milcheiweisses sensibilisiert sein. Die Hauptallergenkomponenten der Kuhmilch sind Kasein sowie die Molkeproteine Alpha-Lactalbumin und Beta-Lactoglobulin. Kasein macht 80 Prozent des Gesamtproteins der Kuhmilch aus. Kuhmilch ist eines der bedeutsamsten Allergene des Säuglings- und Kindesalters. Insbesondere in dieser Altersgruppe kann sie sowohl Sofort- als auch Spätreaktionen sowie Kombinationen dieser Reaktionstypen auslösen. Zusätzlich ist Kuhmilch einer der relevantesten Auslöser der allergischen Säuglingskolitis, einer FPIES (Food Protein-Induced Enterocolitis Syndrome) sowie einer eosinophilen Ösophagitis, alles Erkrankungen, auf welche in dieser Arbeit nicht näher eingegangen wird. Kreuzreaktionen gegen andere Tiermilchen sind ebenfalls nicht selten. So reagieren nahezu 90 Prozent der Kuhmilchallergiker auch auf Ziegenmilch. Kreuzreaktionen gegen Schafmilch sind ebenfalls häufig. Bei Stuten-, Esels- oder Kamelmilch werden seltener Reaktionen ausgelöst. Gut 20 Prozent der Kinder mit einer Kuhmilchallergie haben auch eine Sensibilisierung gegen Sojamilch. Bei einer regelrecht diagnostizierten Kuhmilchallergie ist die einzige mögliche Behandlung eine konsequente Auslassdiät. Im Säuglings- und Kleinkindesalter sollte diese Auslassdiät immer von einer Ernährungsberatung begleitet werden, damit der Kalziumersatz gewährleistet ist. Säuglinge bedürfen einer hochhydrolisierten Ersatznahrung, welche die auslösenden Eiweisse nicht mehr enthält. Die Kuhmilchalbumine wurden hier in kurzkettige Peptide mit fehlender Allergiepotenz gespalten. Eine HA-Nahrung bei einer nachgewiesenen Kuhmilchallergie ist ungeeignet, da die Milcheiweisse ungenügend gespalten sind.
Korrespondenzadresse: Dr. Raquel Enriquez Oberärztin Pädiatrische Allergologie Klinik für Kinder und Jugendliche Kantonsspital Aarau Tellstrasse 5000 Aarau E-Mail: raquel.enriquez@ksa.ch
Es besteht kein Interessenkonflikt.
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