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NAHRUNGSMITTELINTOLERANZEN UND -UNVERTRÄGLICHKEITEN
Nahrungsmittelallergien: Epidemiologie, Prävalenz und Diagnostik
Prof. Barbara Ballmer-Weber, Chefärztin Allergologie, Zentrum für Dermatologie und Allergologie, am Kantonsspital Luzern, ist eine national und international anerkannte Allergologin. Im Gespräch gibt sie Auskunft über neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Nahrungsmittelallergien (NMA).
SZE: Wie häufig sind Nahrungsmittelallergien
(NMA) in der Bevölkerung?
Prof. Barbara Ballmer-Weber: 2014 wurden im Rah-
Barbara Ballmer-Weber
men der neuen Guidelines der European Academy of
Allergy and Clinical Immunology (EAACI) (1) neue
Daten zur Nahrungsmittelallergie publiziert. Das
Fazit aufgrund der vorliegenden Datenlage lautet, dass
es zu wenig fundierte Studien respektive Metaanaly-
sen gibt, um die Frage der Prävalenz der Nahrungs-
mittelallergie abschliessend beantworten zu können.
Aufgrund der bereits vorliegenden Daten
können wir davon ausgehen, dass mindes-
Allergies alimentaires (AA):
tens 1 bis maximal 10 Prozent der Bevöl-
épidémiologie, prévalence et
kerung an einer NMA leiden. In der
diagnostic
Schweiz liegt die Zahl wahrscheinlich
deutlich über 1 Prozent. Bei der erwach-
Mots clés: recommandation pour la préven- senen Bevölkerung weisen zirka 18 Pro-
tion des allergies – allergies croisées – zent eine Sensibilisierung gegen Birken-
symptômes, anaphylaxie – obligation d'éti- pollen auf, die in 35 bis 50 Prozent mit
quetage
einer assoziierten NMA einhergeht (Kas-
ten 2). Aufgrund solcher Berechnungen
Le Professeur Barbara Ballmer-Weber, mé- würde es bedeuten, dass 4 bis 9 Prozent
decin-chef du service d’allergologie, centre der Schweizer Erwachsenen eine Nah-
de dermatologie et d’allergologie de l’hôpi- rungsmittelallergie aufweisen. Neue Daten
tal cantonal de Lucerne, fait le point lors aus dem EuroPrevall-Projekt, einem gros-
d’un entretien sur les nouveaux développe- sen, von der Europäischen Union geför-
ments dans le domaine des AA. Les AA sont-elles devenues plus fréquentes? Une prévention chez l’enfant en bas âge par l’exposition est-elle possible?
derten Projekt zur NMA, zeigen, dass 24 Prozent der Schweizer Erwachsenen IgE-Antikörper gegen mindestens ein Lebensmittel aufweisen. Da eine Sensibilisie-
rung gegen NM nicht gleichbedeutend ist
mit einer NMA, liegt die Zahl der Nahrungsmittel-
allergiker deutlich tiefer.
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Sind NMA in den letzten Jahren häufiger geworden? Barbara Ballmer-Weber: Auch dazu liegen sehr unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Angaben vor. Fest steht nur, dass die Inhalationsallergien auf Birkenpollen in der Zeit von 1900 bis 2000 zugenommen haben und dass entsprechend auch die Birkenpollen-vermittelte NMA zugenommen hat. Daten zur Häufigkeit der Erdnussallergie auf der Isle of Wight zeigen bei einer Kohorte des Jahrgangs 1989, dass 0,5 Prozent betroffen waren. In der Geburtskohorte mit Jahrgang 1994 bis 1996 waren es bereits
1,5 Prozent. Die Häufigkeit der Allergie auf Erdnuss hatte entsprechend zugenommen. Interviewdaten aus den USA zeigen demgegenüber eine ähnliche Häufigkeit in den Jahrgängen 2000 bis 2003 und 2005 bis 2007 von 1,3 und 1,6 Prozent.
Wie oft verlaufen diese Allergien lebensgefährlich? Barbara Ballmer-Weber: Eine australische Studie zeigt, dass anaphylaktische Reaktionen zunehmen. So hat die Anaphylaxierate über 10 Jahre bis 2009 um 350 Prozent für nahrungsinduzierte und um 230 Prozent für nicht nahrungsinduzierte Anaphylaxien zugenommen. In Europa zeigen Daten, dass die Lebenszeitprävalenz, das heisst, die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Verlauf des Lebens an einer Anaphylaxie zu erkranken, bei 0,3 Prozent liegt.
Kann man Allergien präventiv entgegenwirken? Barbara Ballmer-Weber: Wie bereits erwähnt, sind Ende 2014 die neuen europäischen Leitlinien zum Management, aber auch zur Prävention von NMA herausgegeben worden. Ebenso sind 2015 die deutschen Leitlinien zum Management der Nahrungsmittelallergie veröffentlicht worden. Volles Stillen über die ersten 4 Monate hat beispielsweise Evidenzgrad A in der Prävention von allergischen Erkrankungen (Kasten 1). Diesbezüglich interessant sind zudem die Daten einer neuen Studie (2): Die Gruppe um Du Toit et al. hat neue Erkenntnisse bezüglich der Prävention einer Erdnussallergie gebracht: An der Studie nahmen 640 Kinder im Alter von 4 bis 11 Monaten teil. Die Kinder hatten unter einem schweren Ekzem gelitten oder wiesen eine schwere Hühnereiallergie oder beides auf und hatten damit ein hohes Risiko für eine weitere Allergieentwicklung. Eine Patientengruppe ass frühzeitig und täglich Erdnüsse, die andere nicht. Bei den Kindern, die keine Erdnüsse assen, kam es später in 13,7 Prozent der Betroffenen zu einer Erdnussallergie, bei Kindern mit Exposition nur bei 1,9 Prozent. Die frühe Einführung kann bei Risikokindern demnach das Risiko der Entwicklung einer Erdnussallergie verringern. Trotzdem wäre es zu früh, die Leitlinien umzuschreiben oder die Leitlinien zur Prävention anzupassen. Denn wir wissen nicht, ob wir aufgrund einer Lebensmittelallergie wie der Erdnuss-
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Kasten 1:
Empfehlungen zur Allergieprävention
Die S3-Leitlinie in Deutschland zur Allergieprävention umfasst folgende Bereiche und folgende Empfehlungen: A. Stillen: Empfohlen wird volles Stillen über die ersten vier Monate (Evidenzgrad A).
B. Ernährung von Mutter und Kind: Empfohlen wird • die Gabe hydrolysierter Säuglingsnahrung an Risikokinder in den ersten vier Lebens-
monaten, wenn nicht oder nicht ausreichend gestillt werden kann (Evidenzgrad A) • keine diätetische Restriktion bei Mutter (Schwangerschaft/Stillzeit) (A) und Kind
(B) aus Gründen der Primärprävention • keine Verzögerung der Beikost (A) • der Verzehr von Fisch durch Mutter und Kind (B) • die Vermeidung von Fettleibigkeit/Übergewicht (A).
C. Empfohlen wird in Bezug auf die Exposition gegenüber Inhalationsallergenen oder Luftschadstoffen: • die Vermeidung eines Innenraumklimas, das Schimmelwachstum begünstigt (hohe
Luftfeuchtigkeit, mangelnde Ventilation) sowie Minimierung der Exposition von Innenraumluftschadstoffen (B) • die Minimierung der Exposition gegenüber kraftfahrzeugbedingten Emissionen (B) • die Vermeidung aktiver und passiver Exposition gegenüber Tabakrauch – bereits während der Schwangerschaft (A).
D. Empfohlen wird in Bezug auf die Tierhaltung: • keine spezifischen Massnahmen zur Hausstaubmilbenallergenreduktion im Rahmen
der Primärprävention (B) zu ergreifen • keine Einschränkung der Haustierhaltung bei Nichtrisikokindern, keine Anschaffung
von Katzen bei Risikokindern (B).
E. Empfohlen wird in Bezug auf Impfen: • Impfen nach STIKO-Empfehlungen für alle Kinder unabhängig vom Allergierisiko (A).
F. Empfohlen wird in Bezug auf das Geburtsverfahren: • Bei der Wahl des Geburtsverfahrens sollte berücksichtigt werden, dass Kinder, die
durch Kaiserschnitt auf die Welt kommen, ein erhöhtes Allergierisiko haben.
Referenzen: 1. Muche-Borowski C, Kopp M, Reese I, Sitter H, Werfel T, Schafer T.: Allergy prevention. Dtsch Arztebl Int 2009;106: 625–631. 2. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF), eds. Leitlinien-Detailansicht: Allergieprävention. Registernummer 061-016. 2014. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/061-016.html. Zugegriffen: 01.09.2014
allergie direkte Rückschlüsse machen können auf die Prävention weiterer NMA. Ich denke, da müssen wir weitere Studien abwarten, obwohl die Studie von Du Toit et al. eine wirklich sehr gut gemachte ist.
Welche Beschwerden zeigen sich bei einer NMA? Barbara Ballmer-Weber: Bei über 80 Prozent der NMA sind die Mundschleimhaut oder die Lippen betroffen. Dieses sogenannte orale Allergiesyndrom geht mit Juckreiz und Schwellung einher. Symptome äussern sich auch an der Haut in Form von Juckreiz, Flush, Urtikaria oder Angioödem. Weitere Zielorgane sind der Respirationstrakt, der Gastrointestinaltrakt und so weiter. Lebensbedrohlich ist die allergische Reaktion, wenn es zu einem Schock und/oder einer schweren Reaktion am Respirationstrakt kommt. Die Symptome können sofort oder innerhalb von 2 Stunden auftreten und sind akut zu behandeln. Betroffene, die eine Anaphylaxie entwickeln können, tragen in der Regel einen Adrenalin-Pen mit sich.
Wie erfolgt die Abklärung der NMA? Barbara Ballmer-Weber: Die Anamnese ist zentral, dann folgen Hauttests wie der Prick-Test, der Nachweis von IgE-Antikörpern im Blut und die orale Provokation in der offenen und/oder doppelblinden, plazebokontrollierten Form. Manchmal gelingt der Nachweis sehr leicht, dann wiederum kann die Diagnostik einer Lebensmittelallergie ein richtiges Detektivspiel sein.
Reicht die heutige Kennzeichnungspflicht der Lebensmittel aus? Barbara Ballmer-Weber: Die Angaben zu den 14 Lebensmitteln, die am häufigsten eine Allergie auslösen, sind obligat und werden unabhängig von der Menge
Abbildung: Prävalenz Sensibilisierung gegen Nahrungsmittel in Europa (Burney et al., Allergy 2014)
Kasten 2:
Kreuzallergien
Von einer Kreuzallergie wird gesprochen, wenn Immunglobulin-E-Antikörper, die gegen ein bestimmtes Allergen in einer bestimmten Allergenquelle gerichtet sind, auch andere Allergene in anderen Allergenquellen erkennen und bei Kontakt mit diesen eine allergische Reaktion auslösen. Ein Beispiel ist die Birkenpollen-vermittelte Nahrungsmittelallergie. Hier können IgE-Antikörper, die gegen das Hauptallergen in Birkenpollen gerichtet sind, ein ähnliches Protein in den meisten pflanzlichen Lebensmitteln erkennen.
aufgeführt. Steht dort «kann Spuren enthalten», heisst das: In der Rezeptur ist das Lebensmittel im Prinzip nicht enthalten, kann aber aufgrund der industriellen Produktion fälschlicherweise ins Produkt gelangen. Diese Kennzeichnung ist für Allergiker im Alltag schwierig, wenn es um den Kauf eines Produkts geht. Wenn Betroffene schwere NMA haben, sind auch Spuren von diesen Lebensmitteln zu meiden, da bei
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gewissen Patienten selbst kleinste Mengen Allergien auslösen können.
In Restaurants hat es Buffets, welche jene Nahrungsmittel deklarieren, die Allergien auslösen können. Reicht das aus, um NMA zu verhindern? Barbara Ballmer-Weber: Wenn der Selleriesalat neben dem Blattsalat steht, ist es wenig empfehlenswert, bei einer NMA auf Sellerie den Blattsalat zu nehmen. Das heisst, dass Patienten mit einer NMA über den behandelnden Arzt und die Ernährungsberatung bezüglich Gefahrensituationen respektive Gefahrenmahlzeiten gut instruiert werden müssen. Denn das Risiko ist wiederum individuell abzuwägen.
Am 1. November 2015 haben Sie die Chefarztstelle am Kantonsspital in Luzern für Allergologie am Zentrum für Dermatologie und Allergologie übernommen. Welches sind Ihre Ziele und die Schwerpunkte in den nächsten Jahren?
Barbara Ballmer-Weber: Mein Ziel ist es, mit dem Ko-Chefarzt Dr. Gerhard Müllner die Allergologie in Luzern zu einem Kompetenzzentrum auszubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, wünsche ich mir ein interdisziplinär arbeitendes Team, in dem alle Experten aus beteiligten Bereichen wie der Gastroenterologie, der HNO-Abteilung, der Pädiatrie, der Pneumologie und der Ernährungsberatung zusammenarbeiten. Die Grundlagen dazu sind in Luzern bestens gegeben. Auch die Forschung möchte ich weiter stärken.
Sehr geehrte Frau Prof. Ballmer-Weber, besten Dank für das Interview und viel Erfolg in Luzern!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Referenzen: 1. Allergo J Int 2015; 24: 256–93 DOI: 10.1007/s40629-015-0070-4 2. Du Toit et al.: Randomized Trial of Peanut Consumption in Infants at Risk for Peanut Allergy. N Engl J Med 2015: 372: 803–813.
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