Transkript
KINDERERNÄHRUNG
Ernährung im Kindesalter – Allergieprävention
Roger Lauener Philippe Eigenmann
Caroline Roduit 26 SZE 4|2015
Roger Lauener, Philippe Eigenmann, Caroline Roduit
Allergien gehören zu den häufigsten nicht übertragbaren Erkrankungen und im Kindesalter zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Die Ernährung spielt bei Allergien auf verschiedene Art eine Rolle: als modulierender und möglicherweise präventiver Faktor bei der Entstehung, aber auch als Trigger bei der Auslösung allergischer Reaktionen bei bestehender Allergie. Expertenmeinungen und systematische Reviews haben zu verschiedenen nationalen und internationalen Empfehlungen zur Allergieprävention geführt. Der Beitrag gibt einen Überblick über die verschiedenen Strategien und – wo möglich – auch Empfehlungen.
Stillen
Stillen hat eine ganze Reihe von günstigen Einflüssen auf die Mutter und die Entwicklung des Kindes und wird deshalb für alle Säuglinge empfohlen. Die Daten zum Zusammenhang zwischen Stillen und dem späteren Auftreten allergischer Erkrankungen sind jedoch nach wie vor widersprüchlich. Es wurden keine randomisierten Studien dazu durchgeführt, da dies als unethisch betrachtet würde. Die meisten Resultate basieren daher auf beobachtenden Studien mit deren methodischen Beschränkungen. Ein wichtiger, aber schwer zu kontrollierender Faktor, der Studienresultate beeinflussen könnte, ist zudem die umgekehrte Kausalität: Kinder aus Familien mit hohem Allergierisiko werden oft länger gestillt. Muttermilch enthält diverse immunmodulatorische Komponenten, die zwischen verschiedenen Müttern variieren. Bisher identifizierte Komponenten, die einen schützenden Effekt vor allergischen Erkrankungen haben, sind lösliches Immunglobulin A (sIGA), Isoformen des Transforming Growth Factor beta (TGF-β) und lösliches CD14. Eine systematische Überprüfung hat eine negative Assoziation zwischen dem TGF-β-Gehalt in der Muttermilch und der Entwicklung von allergischen Erkrankungen im frühen Kindesalter gezeigt. Lactoferrin ist ein weiteres, hauptsächlich in Muttermilch enthaltenes Protein, das verschiedene Eigenschaften aufweist, darunter auch eine antientzündliche Wirkung. Die Resultate hinsichtlich eines möglichen Einflusses auf die Entwicklung von Allergien sind aber nach wie vor inkonsistent.
Stillen und atopische Dermatitis
Es gibt Hinweise, dass Stillen das Risiko einer Entwicklung von atopischer Dermatitis reduziert, aber
nur bei Kindern mit einem hohen Allergierisiko. Eine Metaanalyse von 18 prospektiven Studien hat einen schützenden Effekt vor atopischer Dermatitis bei ausschliesslichem Stillen während der ersten 3 Lebensmonate gezeigt (OR: 0,68; 95%-KI: 0,52–0,88). Dieser Effekt wurde aber nur bei Kindern mit einer familiären Vorgeschichte bezüglich allergischer Erkrankungen sichtbar. Eine andere Geburtskohortenstudie zeigte ähnliche Resultate bei einer Verlaufskontrolle über ein Jahr bei Kindern mit erhöhtem Allergierisiko, die während der ersten 4 Lebensmonate ausschliesslich gestillt wurden (9,5%), oder wenn Stillen kombiniert wurde mit der Gabe von hydrolysierter Milch (9,8%). Die Auswirkungen der hydrolysierten Milch waren jedoch signifikant geringer, verglichen mit einer standardisierten Kuhmilchformula (14,8%). Eine neuere Metaanalyse von 27 prospektiven Studien beschreibt ein leicht erniedrigtes Risiko einer atopischen Dermatitis bei ausschliesslichem Stillen, obwohl kein statistisch signifikantes Resultat gezeigt werden konnte (zusammengefasste OR: 0,89; 95%-KI: 0,76–1,04). Daraus kann geschlossen werden, dass es keine starke Beweislage für den schützenden Effekt ausschliesslichen Stillens in den ersten 3 Lebensmonaten gegen atopische Dermatitis gibt, auch nicht bei Kindern mit einer familiären allergischen Vorgeschichte.
Stillen und Asthma
Das Verhältnis zwischen Stillen und Asthma erscheint ebenfalls nicht schlüssig; verschiedene Untersuchungen kamen zu verschiedenen Resultaten, was durch Verschiedenheiten im Studiendesign und den in Beurteilungskriterien der Exposition erklärbar ist. Zusammengefasste Daten einer schwedischen und australischen Kohortenstudie zeigen ein reduziertes
KINDERERNÄHRUNG
Asthmarisiko bei Kindern im Alter von 4, 5 und 8 Jahren, die gestillt wurden und eine familiäre Vorgeschichte von Asthma aufwiesen. Eine dänische Studie zeigt, dass verlängertes Stillen das Risiko eines kindlichen Ekzems erhöht, aber das Risiko eines Asthmas und Wheeze (pfeifende Atmung, ein Hinweis auf Asthma) während der ersten 2 Lebensjahre reduziert. Diese Resultate könnten mit dem Schutz gegen virale Infektionen der tieferen Atemwege assoziiert sein, da Wheezing oft dadurch verursacht wird. In einer systematischen Überprüfung prospektiver Studien wurde die Verbindung zwischen ausschliesslichem Stillen in den ersten 3 Lebensmonaten und Asthma ausgewertet. Insgesamt wurde ein schützender Effekt zwischen Stillen und Asthma im Kindesalter nachgewiesen, mit einem stärkeren Effekt bei Kindern mit einer familiären Vorgeschichte von Asthma. In den meisten dieser Studien wurde Asthma im frühen Kindesalter diagnostiziert und durch eine ärztliche Diagnose von Asthma oder Wheezing definiert. Insgesamt kann belegt werden, dass Stillen einen schützenden Effekt gegen Wheezing im frühen Kindesalter hat, insbesondere in den ersten 2 bis 3 Lebensjahren. Die Wirkung des Stillens auf Asthma ist weniger klar. Es wurde gezeigt, dass Stillen mit einem verminderten Risiko für Wheezing bei Kindern unter 6 Jahren einherging, jedoch einen Risikofaktor für Asthma und wiederkehrendes Wheezing zwischen 6 und 13 Jahren darstellt.
Stillen und Nahrungsmittelallergie
Studien, die den Zusammenhang zwischen Stillen und Nahrungsmittelallergie untersuchen, gibt es nur wenige. Resultate einer grossen schwedischen Studie zeigten ein reduziertes Risiko einer Sensibilisierung auf Kuhmilch und Weizen bei 8-jährigen Kindern, die während der ersten 4 Lebensmonate ausschliesslich gestillt wurden. Es gibt aber auch gegensätzliche Ergebnisse. So zeigten Forscher aus Deutschland, dass 1-jährige Kinder, die in den ersten 5 Lebensmonaten ausschliesslich gestillt wurden, häufiger auf Hühnereiweiss sensibilisiert waren. Dieser Effekt verschwand jedoch im Alter von 2 Jahren und bei negativer familiärer Vorgeschichte bezüglich Allergien. Eine andere Studie beschreibt den Zusammenhang zwischen Stillen für mindestens 3 Monate und die Sensibilisierung auf Erdnüsse im Alter von 4 Jahren.
alle Säuglinge wird ausschliessliches Stillen in den ersten 4 bis 6 Lebensmonaten empfohlen, auch im Hinblick auf die Allergieprävention. Für Risikokinder wird, wenn Stillen/Vollstillen nicht möglich ist, in den ersten 4 Lebensmonaten ein Hydrolysat mit in klinischen Studien nachgewiesener Sicherheit und Wirksamkeit empfohlen. Es gibt keine Hinweise, die für die Empfehlung von sojabasierten Produkten für die Allergieprävention sprechen, auch nicht für Kinder mit hohem Risiko einer Allergieentwicklung.
Zusatzprodukte
Prä- und Probiotika: Trotz der grossen Anzahl von Studien, die die präventive Rolle von Prä- und Probiotika untersucht haben, kann bis heute keine Empfehlung zu deren Einsatz abgegeben werden. Der immunologisch schützende Effekt ist möglicherweise abhängig vom Bakterienstamm oder der Kombination von Bakterienstämmen. Trotzdem ist Säuglingsfertignahrung mit Prä- oder Probiotika in der Schweiz und anderen europäischen Ländern weiterhin erhältlich, vor allem wegen der Vorteile, die bezüglich Prävention von Diarrhöen bestehen. Fundierte wissenschaftliche Beweise für eine wirkungsvolle Allergieprävention sind, im Gegensatz hierzu, spärlich vorhanden. Derzeitige internationale Richtlinien geben keine Empfehlung für die Einnahme von Nahrungsmittelergänzung mit Präoder Probiotika ab. Auch für die Schweiz geben wir diesbezüglich keine Empfehlung ab. Vitamine und andere Zusatzprodukte: Die Prävention von Allergien mittels Vitaminen und anderen Nahrungszusätzen hat in verschiedenen Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt. Gemäss derzeitigen wissenschaftlichen Belegen können wir deshalb die Einnahme von Vitaminen oder anderen Nahrungszusätzen zur Prävention von Allergien nicht empfehlen. Bakterienlysate: Der präventive Effekt von Bakterienlysaten ist gut dokumentiert, jedoch vor allem experimenteller Art. Klinische Studien sind rar und haben bisher keine Beweise erbracht, die eine Empfehlung von Bakterienlysaten zur Allergieprävention fundiert erscheinen liesse.
Einführung von Beikost, einschliesslich potenzieller Allergene
Säuglingsfertignahrung
Es gibt Hinweise, dass hydrolysierte Kuhmilch auf Molke- oder Kaseinbasis einen präventiven Effekt bei Kindern im Alter von 4 bis 6 Monaten mit hohem Allergierisiko hat. Hydrolysierte Säuglingsnahrung enthält Kuhmilchproteine mit reduziertem Molekulargewicht sowie reduzierter Peptidgrösse, was eine verminderte Allergenizität zur Folge hat. Es gibt Anhaltspunkte für die Empfehlung von hydrolysierter, klinisch getesteter Nahrung zur Allergieprävention bis zum Alter von 4 bis 6 Monaten, wenn Stillen nicht möglich ist und ein hohes Allergierisiko besteht. Für
Klinische Richtlinien zur Prävention einer Sensibilisierung gegen häufige Allergene, seien es Nahrungsmittel oder Umweltallergene, beziehen sich auf zwei unterschiedliche und widersprüchliche Paradigmen: Die Exposition gegenüber potenziellen Allergenen sollte so lange wie möglich hinausgezögert werden, um von der Reifung des Immunsystems zu profitieren. Wenn dieses «gereift» ist, kann es sich besser gegen potenzielle Allergene wehren und entwickelt keine schädliche Sensibilisierung. Die frühe Exposition gegenüber Allergenen stimuliert das Immunsystem in Richtung einer allergenspezifischen Immuntoleranz.
«Studien, die
den Zusammenhang zwischen Stillen und Nahrungsmittel-
»allergie untersuchen,
gibt es nur wenige.
«Die Resultate hin-
sichtlich eines möglichen Einflusses auf die Entwicklung von All-
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Die bisherigen Empfehlungen sind vor allem den ersten Überlegungen gefolgt und haben gefordert, potenziell allergene Nahrungsmittel erst möglichst spät in die Ernährung des Kindes einzuführen. Trotz dieser Empfehlungen haben sich spezifische Nahrungsmittelallergien, wie zum Beispiel die Erdnussallergie, in den letzten 10 Jahren verdoppelt. Es ist erwiesen, dass kleine Mengen von Nahrungsproteinen die Plazentaschranke passieren und in der Muttermilch nachgewiesen werden können. Allergenvermeidung während der Schwangerschaft oder des Stillens geht allerdings nicht mit einer primären Allergieprävention einher. Die derzeitige Literatur liefert auch kaum umsetzbare Hinweise, wie feste Nahrung in die Ernährung des Säuglings eingeführt werden sollte, um Sensibilisierungen vorzubeugen. Während manche Studien in Familien mit hohem Allergierisiko ergaben, dass feste Nahrung nicht vor dem 5. Lebensmonat eingeführt werden sollte, zeigte eine spätere Einführung keinen zusätzlichen schützenden Effekt. Ungeachtet des Risikos einer atopischen Erkrankung kann Beikost zwischen dem abgeschlossenen 4. und 6. Lebensmonat eingeführt werden. Eine verzögerte Einführung von potenziell allergenen Lebensmitteln
zur primären Prävention ist nicht notwendig. Diese Lebensmittel können gemäss den allgemeinen Ernährungsrichtlinien eingeführt werden.
Korrespondenzadressen: Prof. Dr. med. Roger Lauener Chefarzt Pädiatrie Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6, 9006 St. Gallen E-Mail: roger.lauener@kispisg.ch
Prof. Dr. med. Philippe Eigenmann Hôpital des Enfants Hôpitaux Universitaires de Genève 6, rue Willy-Donzé 1211 Genève 14 E-Mail: philippe.eigenmann@hcuge.ch
Dr. med. Caroline Roduit Universitäts-Kinderklinik Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: caroline.roduit@kispi.uzh.ch
Den Originalbeitrag mit allen Referenzangaben finden Sie online auf der Homepage des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen unter: www.blv.admin.ch.
NEWS
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Biotin: Neues zur Neuroprotektion
Biotin oder Vitamin H scheint neuroprotektiv zu wirken. In hoher Dosierung (300 mg/Tag) wurde es in der Studie von Tourbah et al. bei Patienten mit primär oder sekundär progredient verlaufender multipler Sklerose untersucht. Die Ergebnisse sind ermutigend: In der Interventionsgruppe erreichten 12 Prozent der Verum- und 0 Prozent der Plazebopatienten den primären Endpunkt, nämlich eine Verbesserung ihrer Behinderung nach 9 und 12 Monaten. Der neuroprotektiven Wirkung soll nun in weiteren Studien nachgegangen werden. Der Grund für den Einsatz von Biotin liegt in dessen Bedeutung als Coenzym im Rahmen der Myelinsynthese und möglicherweise auch des Energiestoffwechsels.
Annegret Czernotta
Quelle: Tourbah A et al.: Effect of MD1003 (high doses of Biotin) in progressive multiple sclerosis: results of a pivotal phase III randomised double-blind placebo controlled study. Abstract O1216. 1. EAN, 2015.
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