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YAKULT-SYMPOSIUM BERLIN
Darmbakterien beeinflussen Gehirnentwicklung und Essverhalten
Die Darmbesiedelung wird längst nicht mehr nur mit einer gesunden Verdauung, sondern beispielsweise auch mit der Gehirnentwicklung und mit Auffälligkeiten des Verhaltens in Verbindung gebracht. So wird dem Darmmikrobiom zugetraut, in die Epigenetik einzugreifen. Auch Zusammenhänge zwischen der Darmfunktion und verschiedenen Formen von Autismus werden diskutiert. Diese und weitere aktuelle Forschungsergebnisse zum menschlichen Darmmikrobiom waren Inhalt des zweitägigen Yakult-Symposiums in Berlin.
Auf starkes Interesse stossen gegenwärtig potenzielle Schnittstellen zwischen dem Darmmikrobiom und dem zentralen Nervensystem (ZNS). Hintergrund dieser Überlegungen sind nicht nur Tiermodelle, die zum Beispiel eine Beeinflussung des Verhaltens durch Veränderung der bakteriellen Darmbesiedlung erkennen lassen, sondern auch Beobachtungen aus der Geschichte der Humanmedizin. Schon im frühen 19. Jahrhundert beschrieb unter anderem William Beaumont Auswirkungen von «Ärger» auf die Verdauung. Heute wird das Darmmikrobiom als wichtige Schnittstelle zwischen dem Immunsystem und dem neuroendokrinen System verstanden, wie Prof. Dr. John F. Cryan von der University of Cork – einer der führenden Experten für die «GutBrain-Axis» – am Yakult-Symposium ausführt: «Wir haben immer mehr Daten, die zeigen, dass das Darmmikrobiom mit dem ZNS kommuniziert – und zwar über neuronale, endokrine und immunologische Pathways. Auf diesen Wegen beeinflusst es Gehirnfunktionen und Verhalten. Beispielsweise finden wir immer mehr Hinweise, dass Darmbakterien Neurotransmitter wie Gammaaminobuttersäure (GABA) freisetzen und Fettsäuren produzieren, die im Gehirn benötigt werden» (1).
Eine wichtige Rolle bei der Erforschung dieser Zusammenhänge spielen keimfreie Mäuse, die zwar vordergründig gesund sind, sich jedoch in einiger Hinsicht von ihren bakteriell besiedelten Artgenossen unterscheiden. Beispielsweise haben keimfreie Mäuse keine voll funktionsfähige Blut-Hirn-Schranke. Diese entwickelt sich erst, wenn die Tiere mit Bakterien in Kontakt gebracht werden (2). Auch das Verhalten der Tiere ist betroffen. Beispielsweise zeigen sie weniger Angst – was gut zu den in experimentellen Studien nachgewiesenen erhöhten Spiegeln von 5-HT im Hippocampus passt. Im Gegensatz dazu ist die Expression des Wachstumsfaktors BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) bei keimfreien Mäusen reduziert – was zu schlechterer Perfomance bei Lerntests führt. Bei späterer bakterieller Darmbesiedelung vergehen die Verhaltensauffälligkeiten, während interessanterweise die biochemischen Unterschiede zu Kontrollmäusen bestehen bleiben.
Bessere Stressresistenz
durch Probiotika?
Die parallele Entwicklung von Darmmikrobiom und Gehirn weckt auch Hoffnung auf potenzielle Interventionsstrategien (3). Die einschlägigen Forschungen
gehen bereits in Richtung «Science-Fiction-Medizin». So wird dem Darmmikrobiom zugetraut, in die Epigenetik einzugreifen und damit die erworbenen Eigenschaften (und Erkrankungen) vererbbar zu machen (4). Cryan: «Offensichtlich werden Darmbakterien dringend für eine normale Gehirnentwicklung benötigt. Wir können also davon ausgehen, dass Probiotika ein starkes therapeutisches Potenzial haben.» Bei Tieren funktioniert das bereits recht gut. So konnte bei Mäusen durch Verabreichung von Lactobacillus rhamnosus eine verbesserte Stressresistenz erreicht werden. Als Bindeglied zwischen Darm und Gehirn wird hier eine vermehrte Expression von GABA-Rezeptoren vermutet (5). Studien zeigen auch, dass selbst komplexe Verhaltensänderungen durch Veränderungen der Darmflora hervorgerufen werden können. So konnte zwischen unterschiedlich ängstlichen Mausstämmen mittels Stuhltransplantation auch das entsprechende Verhalten «verpflanzt» werden (6). Beim Menschen werden nicht zuletzt Zusammenhänge zwischen der Darmfunktion und den verschiedenen Formen von Autismus diskutiert. Cryan verweist auf eine wachsende Zahl an Publikationen, die beispielsweise von gastrointestinalen Auffälligkeiten bei autistischen Kindern berichten. Mittlerweile gehen einige Forscher so weit, hier Chancen für Therapien zu sehen (7). Cryan hält dies für sehr optimistisch, weist dabei jedoch auf Erfahrungen aus dem Tiermodell hin, die in die gleiche Richtung deuten. Beispielsweise fallen keimfreie Mäuse einerseits durch eingeschränktes Sozialverhalten, andererseits aber auch durch repetitives Verhalten auf. Dies ist durch mikrobielle
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Besiedelung zumindest teilweise reversibel (8). Nicht zuletzt stellt sich im Zusammenhang mit dem Darmmikrobiom und der Gehirnentwicklung auch die Frage nach den möglichen Risiken einer Antibiotikaexposition im Kindesalter. Studien aus dem Tiermodell legen hier eine teilweise Entwarnung nahe. So traten bei männlichen Ratten, deren Mikrobiom in jungen Jahren geschädigt wurde, keine kognitiven Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten auf. Allerdings entwickelten die Tiere eine niedrigere viszerale Schmerzschwelle, was als Äquivalent des menschlichen Reizdarmsyndroms gesehen werden kann (9). Andere Gruppen bringen die Aufnahme kleinster Antibiotikadosen aus der Nahrung mit Störungen des Mikrobioms in Verbindung, die insbesondere in den USA zur derzeitigen Adipositasepidemie beitragen sollen (10).
Adipositas und Darmmikrobiom
Generell mehren sich die Hinweise, dass pathologische Veränderungen des Darmmikrobioms mit Adipositas in Verbindung gebracht werden können. «Zahlreiche Studien und Reviews unterstützen die Hypothese, dass Dysbiose – also inadäquate Veränderungen der Darmbesiedelung oder von deren Aktivität – typisch für übergewichtige, adipöse und diabetische Individuen ist», sagt Prof. Dr. Nathalie M. Delzenne von der Université Catholique de Louvain in Belgien. «Versuche an keimfreien Mäusen, denen das Darmmikrobiom adipöser Tiere implantiert wurde, legen nahe, dass hier kausale Zusammenhänge bestehen.» Typische Veränderungen des Mikrobioms in der adipösen Population sind bekannt. Delzenne spricht von einer Reduktion der Artenvielfalt im Sinne eines reduzierten «Gene Count». Auch typische Gattungen eines Adipositasmikrobioms wurden beschrieben. Dazu gehören Bacteroides, Staphylococcus und Ruminococcus gnavus. Allerdings dürfe man, so Delzenne, nicht in den Fehler verfallen, Bakterien als «gut» und «böse» zu kategorisieren. Vielmehr gehe es um Verschiebungen im Ökosystem Darm und nicht um einzelne Arten. Gesund sind diese Verschiebungen
nicht, denn die bei Adipositas typischen Veränderungen des Mikrobioms konnten unter anderem mit systemischer Inflammation und Insulinresistenz in Verbindung gebracht werden (11). Dies wird durch eine Beeinträchtigung der Darmbarriere begünstigt, die von einer Reihe von Bakterien (über eine Beeinflussung der Zusammensetzung des Schleims) verursacht wird (12). Angesichts der ständig wachsenden Datenmenge zur Bedeutung des Darmmikrobioms für die Entwicklung der Adipositas wird die Intervention mit Probiotika oder Stuhltransplantation zu einer immer vielversprechenderen Option. Dafür sprechen nicht zuletzt Berichte von Fällen, in denen die Beeinflussung des Mikrobioms in die falsche Richtung lief. So entwickelte eine normalgewichtige Frau, die wegen einer Infektion mit Clostridium difficile eine Stuhltransplantation von ihrer adipösen Tochter erhielt, innerhalb weniger Monate selbst eine Adipositas. Angesichts solcher Fälle und anderer Berichte von Komplikationen nach Stuhltransplantation bezeichnet Delzenne Probiotika als die bei Weitem sicherste Intervention. Wie so oft, wenn es um das Darmmikrobiom geht, ist die Datenlage allerdings nach wie vor spärlich. Delzenne nennt einen noch nicht publizierten Review der bestehenden Studien zu Interventionen mit Probiotika in Adipositas-Tiermodellen, wobei meistens Lactobacillus und in einigen Fällen Bifidobakterien zum Einsatz kamen. Dabei zeigten die meisten Arbeiten Gewichtsreduktion, oft begleitet von Verbesserungen des metabolischen Profils. Eine rezente Interventionsstudie ergab, dass in Mäusen die negativen Auswirkungen einer fettreichen Ernährung durch Gabe verschiedener Probiotika signifikant reduziert werden können (13). Eine vergleichbare Arbeit zu Interventionsstudien beim Menschen – in denen fast ausschliesslich Lactobacillusspezies zum Einsatz kamen – ist bereits publiziert, verlief allerdings alles in allem negativ. In zwei der Studien nahmen die Probanden Gewicht ab, in vier weiteren wurde eine Verbesserung metabolischer Parameter erreicht (14). Angesichts dieser heteroge-
nen Daten stelle sich nicht zuletzt die Frage, ob man vielleicht die spezifischen Wirkungen der verschiedenen eingesetzten Bakterienspezies noch zu wenig verstehe. So konnte für Lactobacillus casei Shirota in einer kontrollierten Studie ein günstiger Einfluss auf eine unter extrem hochkalorischer, fettreicher Kost rasch auftretende Insulinresistenz nachgewiesen werden (15).
Auch der Dünndarm
ist bakteriell besiedelt
Während sich die Forschung bisher vornehmlich auf das Dickdarmmikrobiom, beziehungsweise Bakterien im Stuhl konzentrierte, wird seit Kurzem auch die bakterielle Besiedelung des Dünndarms erforscht. Prof. Dr. Michiel Kleerebezem von der Universität Wageningen in den Niederlanden gibt zu bedenken, dass der Dünndarm die erste Zone darstellt, in der die Nahrung auf das Mikrobiom trifft. Dieses ist im Vergleich zum Kolonmikrobiom charakterisiert durch deutlich geringere Keimzahlen sowie eine wesentlich geringere Zahl von anzutreffenden Spezies. Während im Dickdarm 1010 bis 1011 Bakterien leben, sind es im Dünndarm lediglich 104 bis 108. Über die Bedeutung dieser Keime ist wenig bekannt. Dies liegt vor allem daran, dass der Dünndarm in der Praxis schwer zu erreichen ist. Eine Keimsammlung mittels Katheter ist bei Gesunden nur in Ausnahmefällen möglich, und so stammen die meisten Untersuchungen von Patienten nach Ileostomie, bei denen das Lumen des distalen Ileums nicht invasiv zugänglich ist. Neue Optionen könnte ein Device namens Intellicap bieten. Dabei handelt es sich um eine ferngesteuerte Kapsel, die eigentlich dazu entwickelt wurde, Medikamente gezielt in bestimmten Bereichen des Darms freizusetzen. Diese Kapseln wurden nun so modifiziert, dass sie auch in die umgekehrte Richtung funktionieren, also gezielt Proben aus dem Darm einsammeln können. Erste Versuche mit Mikrobiomuntersuchungen wurden bereits durchgeführt, die Ergebnisse sind allerdings noch nicht publiziert. Gegenwärtig geht man davon aus, dass im Dünndarm lediglich eine zweistellige
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Zahl von Bakterienspezies leben. Häufig anzutreffen sind verschiedene Arten von Streptococcus, die in vielen verschiedenen Stämmen auftreten. Die verschiedenen Genera und Spezies stehen zueinander in einem typischen trophischen Verhältnis: Die Stoffwechselprodukte eines Bakteriums werden von einem anderen weiterverarbeitet. So entstehen auch kurzkettige Fettsäuren (16). Das Dünndarmmikrobiom hat sich gegenüber Einflüssen von aussen im Vergleich zum Dickdarmmikrobiom als deutlich instabiler erwiesen. Aufgrund der geringen Keimzahl führt beispielsweise die Zufuhr von Lactobacillus, der im Dünndarm normalerweise eine geringe Rolle spielt, zu einer deutlichen Verschiebung in diese Richtung. Die Frage sei nun, so Kleerebezem, ob sich dieser mikrobielle Shift auf die Biologie der Mukosa auswirke. Erste Studien mit Verabreichung verschiedener Probiotika und nachfolgenden Biopsien stehen vor der Publikation. Sie zeigen spezifische Muster der Genexpression in Abhängigkeit von der applizierten Bakterienspezies. Diese Muster können mit bestimmten klini-
schen Effekten wie Wundheilung, Stimulation der unspezifischen Immunabwehr oder Angiogenese in Verbindung gebracht werden. Kleerebezem: «Wir können also klinische Ergebnisse anhand der Veränderungen des Transkriptoms vorhersagen.» Die Überprüfung dieser Hypothese in klinischen Studien steht allerdings noch aus.
Reno Barth
Reno Barth ist Redaktor bei Rosenfluh Publikationen.
Referenzen: 1. Cryan JF, Dinan TG. Mind-altering microorganisms: the impact of the gut microbiota on brain and behaviour. Nat Rev Neurosci 2012; 13 (10): 701–712. 2. Braniste V et al. The gut microbiota influences blood-brain barrier permeability in mice. Sci Transl Med 2014; 6 (263): 263ra158. 3. Borre YE et al. Microbiota and neurodevelopmental windows: implications for brain disorders. Trends Mol Med 2014; 20 (9): 509–518. 4. Stilling RM, Dinan TG, Cryan JF. Microbial genes, brain & behaviour – epigenetic regulation of the gutbrain axis. Genes Brain Behav 2014; 13 (1): 69–86. 5. Bravo JA et al. Ingestion of Lactobacillus strain regulates emotional behavior and central GABA receptor expression in a mouse via the vagus nerve. Proc Natl Acad Sci USA 2011; 108 (38): 16 050–16 055. 6. Collins SM et al. The adoptive transfer of behavioral phenotype via the intestinal microbiota: experimental evidence and clinical implications. Curr Opin Microbiol 2013;16 (3): 240–245.
7. Gilbert JA et al. Toward effective probiotics for autism and other neurodevelopmental disorders. Cell 2013; 155 (7): 1446–1448. 8. Desbonnet L et al. Microbiota is essential for social development in the mouse. Mol Psychiatry 2014; 19 (2): 146–148. 9. O’Mahony et al. Disturbance of the gut microbiota in early-life selectively affects visceral pain in adulthood without impacting cognitive or anxiety-related behaviors in male rats. Neuroscience 2014; 277: 885– 901. 10. Cox LM et al. Altering the intestinal microbiota during a critical developmental window has lasting metabolic consequences. Cell 2014; 158 (4): 705–721. 11. Cani PD et al. Involvement of gut microbiota in the development of low-grade inflammation and type 2 diabetes associated with obesity. Gut Microbes 2012; 3 (4): 279–288. 12. Everard A et al. Cross-talk between Akkermansia muciniphila and intestinal epithelium controls diet-induced obesity. Proc Natl Acad Sci USA 2013; 110 (22): 9066–9071. 13. Wang J et al. Modulation of gut microbiota during probiotic-mediated attenuation of metabolic syndrome in high fat diet-fed mice. ISME J 2015; 9 (1): 1–15. 14. Druart C. et al. Modulation of the gut microbiota by nutrients with prebiotic and probiotic properties. Adv Nutr 2014; 5 (5): 624S–633S. 15. Hulston CJ et al. Probiotic supplementation prevents high-fat, overfeeding-induced insulin resistance in human subjects. Br J Nutr 2015;113 (4): 596–602. 16. van den Bogert B et al. Diversity of human small intestinal Streptococcus and Veillonella populations. FEMS Microbiol Ecol 2013; 85 (2): 376–388.
Quelle: «The 8th International Yakult Symposium: Probiotics, a proactive approach to health», 23. April 2015 in Berlin (D).
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