Transkript
ERNÄHRUNG UND STOFFWECHSELERKRANKUNGEN BEI KINDERN
Vitaminabhängige Stoffwechselstörungen
BARBARA PLECKO, LUCIA ABELA1, CORNELIA MADDALON2
Barbara Plecko
Vitamine sind als Kofaktoren zahlreicher Enzyme wichtige Bestandteile unserer Nahrung. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche genetische Defekte im endogenen Vitaminstoffwechsel entdeckt. Diese können die Resorption, den Transport, die Bioverfügbarkeit oder die Aktivierung einzelner Vitamine betreffen. Für einen Teil der Erkrankungen sind diagnostische Biomarker und spezifische Therapien verfügbar. Der alimentäre Vitaminmangel ist in westlichen Ländern hingegen nur noch selten im Rahmen von Fehlernährung oder schweren Grunderkrankungen anzutreffen. Die Therapie vitaminabhängiger Störungen beruht in erster Linie auf dem Prinzip der Supplementierung mit einem überphysiologischen Angebot des betroffenen Vitamins.
Einleitung
In den westlichen Ländern ist der alimentäre Vitaminmangel nur noch selten im Rahmen von Fehlernährung oder schweren Grunderkrankungen anzutreffen. In diesem Zusammenhang ist vor allem der alimentäre Vitamin-B12-Mangel des Säuglings zu nennen, der bei stillenden Müttern mit veganer Ernährung oder intestinaler Vitamin-B12-Malabsorption auftritt, sowie der Thiaminmangel bei schwer erkrankten Patienten mit protrahierter Ernährungsstörung. In den Sechzigerjahren war in den USA ein endemischer, alimentärer VitaminB6-Mangel durch ultrahocherhitzte Säuglingsnahrung aufgetreten. In Israel kam es in den Neunzigerjahren durch eine fehlerhafte Zusammensetzung von sojabasierter Flaschennahrung bei Säuglingen zu schweren Thiaminmangelzuständen mit einzelnen Todesfällen sowie irreversiblen neurologischen Schäden.
1Research Fellow im Programm Filling the Gap der Universität Zürich, Abteilung Neurologie, Kinderspital Zürich, Eleonorenstiftung. 2Dipl. Ernährungsberaterin FH Bsc, Kinderspital Zürich, Eleonorenstiftung, Assistenzärztin.
In den letzten Jahrzehnten wurden jedoch auch zahlreiche genetische Defekte im endogenen Vitaminstoffwechsel entdeckt. Diese können die Resorption, den Transport, die Bioverfügbarkeit oder die Aktivierung einzelner Vitamine betreffen. Dabei können systemische Manifestationen mit zum Beispiel Gedeihstörung und Anämie oder organspezifische Symptome im Sinne einer isolierten Manifestation im zentralen Nervensystem (ZNS) auftreten (1). Für einen Teil der Erkrankungen sind diagnostische Biomarker und spezifische Therapien verfügbar. Bei vitaminabhängigen Störungen steht die Supplementierung mit einem überphysiologischen Angebot des betroffenen Vitamins im Vordergrund. Dabei muss eine eventuelle Toxizität sowie im Einzelfall die Liquorgängigkeit der verabreichten Vitamine berücksichtigt werden. Für die häufigste Form der Vitamin-B6-abhängigen Epilepsie durch Antiquitinmangel wird zurzeit die Wirksamkeit einer zusätzlichen lysinreduzierten Diät untersucht.
Biotinidasemangel
Biotin (Vitamin H) wirkt im Körper als wichtiges Koenzym in der Form aktiver Holocarboxylasen. Holocarboxylasen wirken im Lipid-, Kohlehydrat- und Proteinstoffwechsel und werden für die Glukoneogenese, aber auch in der Entgiftung von Eiweissabbauprodukten wie der Propionsäure benötigt. Da die Nahrungszufuhr von Biotin begrenzt ist, muss der Körper das in der Reaktion der Holocarboxylasen entstehende Biocytin wieder zu Biotin rezyklieren. Dies geschieht durch die Biotinidase. In Abhängigkeit der Enzymrestaktivität kann sich der schwere Biotinidasemangel bereits beim Neugeborenen mit einer akuten metabolischen Azidose, Hypoglykämie und Intoxikation bis zum Koma manifestieren. Bei einer Restaktivität über 5 Prozent kommt es zu einem späteren Krankheitsbeginn mit Ataxie und Epilepsie. Als systemische Zeichen können eine Alopezie und periorale Hautausschläge auftreten. Die lebenslange Gabe von 5 bis 10 mg Biotin pro Tag führt zu anhaltender Beschwerdefreiheit (2, 3). Aufgrund dessen ist der
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Abbildung 1: Vitamin-B6-Stoffwechsel und davon abhängige Epilepsien. PNPO: Pyridoxam(in)-5’-Phosphat-Oxidase; TNSAP: Tissue Non-Specific Alkaline Phosphatase; AASA: Alpha-Aminoadipinsemialdehyd-Dehydrogenase (Antiquitin), Pyrrolin-5-Carboxylat Dehydrogenase; PLP: Pyridoxal-5’-Phosphat; PL: Pyridoxal, P6C: Piperidein6-Carboxylat.
Abbildung 2: Schematische Darstellung des Folatstoffwechsels. Die Resorption im Darm sowie die Aufnahme über die Blut-Hirn-Schranke erfolgt durch den Folattransporter SLC46A1. Für die Aufnahme in das ZNS ist zusätzlich der Folatrezeptor FOLR1 verantwortlich. Im Folsäurezyklus entstehen die unterschiedlichen Folsäureformen mit spezifischer Kofaktorfunktion im Methionin- und Purin-PyrimidinStoffwechsel.
Biotinidasemangel in den meisten westlichen Ländern im Neugeborenen-Screening-Programm erfasst und wird präventiv behandelt. Bei Patienten mit Migrationshintergrund muss diese Erkrankung jedoch selektiv gesucht und gegebenenfalls durch Bestimmung der Biotinidaseaktivität im Serum ausgeschlossen werden.
Vitamin-B6-responsive
Enzephalopathien
Vitamin B6 wird aus pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln in verschiedenen Formen resorbiert und in der Leber in den einzigen aktiven Kofaktor Pyridoxal-5’Phosphat (PLP) oxidiert. PLP wirkt als Kofaktor in über 160 Enzymschritten im Aminosäure- und Neurotransmitterstoffwechsel (4). Im letzten Jahrzehnt wurden fünf angeborene Enzymdefekte im Vitamin-B6-Stoffwechsel identifiziert. Diese können in Defekte mit PLP-Inaktivierung (Antiquitinmangel und Hyperprolinämie Typ II), Defekte mit gestörter PLP-Synthese (PNPO-Mangel) sowie gestörter intrazellulärer Aufnahme (kongenitale Hypound Hyperphosphatasie) unterschieden werden (Abbildung 1) (4). Alle Defekte mit zerebralem PLP-Mangel können zum Bild einer epileptischen Enzephalopathie mit Beginn im Neugeborenen- oder Klein-
kindalter führen (5). Die Gabe von PLP ist bei allen Defekten effektiv, während Pyridoxin bei PNPO-Patienten meist keinen Erfolg zeigt, da es bei diesem Defekt nicht in die aktive Form übergeführt werden kann. PLP ist jedoch in hyperphysiologischen Dosen lebertoxisch und kann auch bei kurzfristiger Anwendung zu Transaminasenanstieg und langfristig zu Leberzirrhosen führen. Alle Formen der genetisch bedingten Vitamin-B6-abhängigen Epilepsien folgen einem autosomal rezessiven Erbgang (Wiederholungsrisiko 25%) mit der Möglichkeit einer molekulargenetisch basierten Pränataldiagnostik.
Antiquitinmangel Pyridoxinabhängige Anfälle wurden bereits 1954 als genetische Störung erkannt, aber erst 2005 folgte die Klärung des häufigsten zugrunde liegenden Stoffwechseldefektes im Lysinabbau auf Stufe eines Antiquitinmangels (Abbildung 1) (6, 7). Durch den Antiquitinmangel kommt es zum Anstau von Produkten (Alpha-Aminoadipinsemialdehyd und Piperidein-6Carboxylat [P6C]), welche im Körper zu einer Inaktivierung von PLP führen. Typischerweise kommt es bereits im Neugeborenenalter zum Auftreten massiver Krampfanfälle, welche nicht auf herkömmliche Antiepileptika ansprechen.
Selten sind Erstmanifestationen bis in das 3. Lebensjahr beschrieben. Die Gabe von Pyridoxin – 30 mg/kg als Einzeldosis p.o. oder i.v – führt meist zu einem prompten Sistieren der Anfälle. Um Patienten mit verzögertem Ansprechen zu erkennen, wird die Gabe von 30 mg/kg/Tag über drei Tage empfohlen. Im Rahmen der ersten Gabe sind schwere Atempausen möglich. Hoch dosiertes Pyridoxin führt zu einem Absinken der sich anstauenden Stoffwechselprodukte auf das 1,5- bis 3-Fache der Norm. In der Langzeittherapie kann es durch hoch dosiertes Pyridoxin zum Auftreten einer peripheren Neuropathie kommen. Pyridoxindosen von 300 mg (bis max. 500 mg/Tag) sollen daher nicht überschritten werden. 75 Prozent der Patienten mit Antiquitinmangel zeigen trotz früher Therapie ein kognitives Defizit unterschiedlichen Ausmasses. Dies führte ab 2012 zur Entwicklung einer lysinreduzierten Diät mit dem Prinzip der Substratreduktion (8). Die lysinreduzierte Diät hat das Ziel, die Konzentration des möglicherweise toxischen Alpha-Aminoadipinsemialdehyds weiter abzusenken. Mit der Diät kann ab dem 4. Lebensmonat begonnen werden; aufgrund des geringen Lysingehaltes ist Muttermilch die bevorzugte natürliche Eiweissquelle. Die Lysinzufuhr wird alters-
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abhängig auf 60 bis 70 Prozent der Norm reduziert. Die Supplementierung auf den altersabhängigen Eiweissbedarf erfolgt durch eine lysinfreie Aminosäurespezialmischung. Die Refundierung der schweizerischen Krankenkassen ermöglicht lediglich den Einsatz von lysinfreiem und tryptophanreduziertem GA-1-Pulver, dem bei Behandlung des Antiquitinmangels Tryptophan zur Deckung des altersgemässen Bedarfes wieder zugesetzt werden muss. Nach dem 1. Lebensjahr kann dann auf Aminosäuremischungen umgestellt werden, in welchen Tryoptophan enthalten ist und nicht nachträglich zugesetzt werden muss. Unter lysinreduzierter Diät sind regelmässige Blutkontrollen erforderlich, welche einerseits das Absinken der pathologischen Stoffwechselprodukte im Urin (und Liquor), andererseits die ausreichende Versorgung mit essenziellen Aminosäuren, Vitaminen und Spurenelementen belegen. Auch werden Längenwachstum und Gewichtszunahme regelmässig monitorisiert, was vor allem in den ersten Lebensjahren eine regelmässige Diätanpassung erforderlich macht.
PNPO-Mangel Bei Defekt der PNPO kommt es zu einem systemischen Mangel an aktivem PLP (Abbildung 1). Für die PLP-abhängige Epilepsie existiert kein spezifischer Biomarker (9). Klinisch ist er vom Antiquitinmangel nicht zu unterscheiden. Bei PNPO-Mangel besteht jedoch eine sehr hohe Tendenz zu Frühgeburtlichkeit sowie einer postpartalen Gedeihstörung und Anämie (10). Patienten mit PNPOMangel zeigen zumeist kein Ansprechen auf Pyridoxin, jedoch promptes Ansprechen der Anfälle auf Pyridoxal-5’-Phosphat (PLP). Die übliche Testdosis beträgt 30 mg/kg/Tag über 3 Tage. Auch hier kann es bei Erstanwendung zu schweren Atempausen kommen. PLP ist ausserhalb Japans nur als Chemikalie erhältlich. Da die Erkrankung unbehandelt tödlich verläuft, scheint eine auf «informed consent» der Eltern beruhende Anwendung gerechtfertigt. PNPO-Patienten benötigen häufig höhere PLP-Dosen von 30 bis 50 mg/kg/Tag in 4 bis 6 Einzeldosen. Die
Substanz muss unmittelbar vor Gabe aufgelöst werden, um eine Oxidation und erhöhte Lebertoxizität zu vermeiden. Eine Kontrolle der Transaminasen ist auch bei kurzfristiger Anwendung (Testphase) angeraten.
Kongenitale Hypophosphatasie
Die kongenitale Hypophosphatasie wird durch einen Mangel der alkalischen Phosphatase (AP) verursacht und geht mit massiv erniedrigter AP im Plasma einher. Neben der Knochenmineralisation regelt dieses Enzym die Aufnahme von PLP in die Zellen. Patienten mit schwerem Phänotyp zeigen neonatal Pyridoxin-responsive Anfälle. Die Langzeitprognose ist von der schweren Knochenkrankheit und frühen Ateminsuffizienz geprägt. Eine Enzymersatztherapie ist in Entwicklung. Mild, aber persistent erhöhte Werte der AP können Hinweis auf ein Mabry-Syndrom sein. Das Mabry-Syndrom wird verursacht durch einen Gendefekt im PIGV-Anker, der die AP an die Zellmembran bindet, und geht mit einer kongenitalen Muskelhypotonie, fazialen Dysmorphie sowie einer ab dem Kleinkindalter auftretenden Epilepsie einher. Die Pyridoxin-Response scheint variabel.
Hyperprolinämie Typ II
Dieser Stoffwechseldefekt ist vermutlich durch den oft gutartigen Verlauf mit Fieberkrämpfen, Epilepsie und Ansprechen auf konventionelle Antiepileptika unterdiagnostiziert.
Folsäureabhängige Enzymdefekte
Die Folsäure und ihre aktiven Metaboliten sind wichtige Kofaktoren im Aminosäure-,
Abbildung 3: Schematische Darstellung der bis heute bekannten Defekte im Thiaminstoffwechsel. Abkürzungen: BBGD: Biotin Responsive Basalganglia Disease; DM: Diabetes mellitus; TPK1: Thiamin-Pyrophosphokinase 1; TPP: Thiamin-Pyrophosphat; PDHC: Pyruvat-Dehydrogenase-Komplex; BCKDH: verzweigtkettige Alpha-Oxosäuren-Dehydrogenase; a-KGDH: Alpha-Ketoglutarat-Dehydrogenase.
Purin- und Neurotransmitterstoffwechsel, speziell bei der Remethylierung von Homocystein zu Methionin und der Nukleotidsynthese von zum Beispiel Blutzellen. Darüber hinaus steuern Folate die Entwicklung des embryonalen Nervensystems. Die intestinale Resorption erfolgt durch einen Folattransporter, in der Leber erfolgen die Bildung von 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF) und weiter durch ein trifunktionales Protein die Bildung unterschiedlicher Vitaminformen. Die Aufnahme von 5-MTHF in die Zelle erfolgt mittels zweier Transporter (SLC46A1 und SLC19A1); der Transport über die BlutHirn-Schranke (BHS) mittels des Folatrezeptors alpha (FOLR1) (11) (Abbildung 2). Für die ZNS-Manifestation folsäureabhängiger Störungen spielt die Hyperhomocysteinämie vermutlich gegenüber dem Methioninmangel eine eher untergeordnete Rolle. Methionin ist hingegen eine wichtige Quelle für Methylgruppen und wesentlich für die Cholinsynthese und Myelinisierung sowie Regulation der Expression zahlreicher Gene.
Hereditäre Folatmalabsorption Dieser autosomal rezessive Defekt im SLC46A1-Gen führt bereits in den ersten Lebensmonaten zu einer schweren systemischen Manifestation mit Gedeihstörung, Durchfällen, megaloblastärer Anämie und Mikrozephalie (12). Da der SLC46A1-Transporter die intestinale Resorption sowie den Transport über die BHS regelt, besteht ein in Plasma und Liquor messbarer Folatmangel. Die Therapie erfolgt mit Folinsäure, da Folsäure als unphysiologisches Vitamin die Rezeptoren an der BHS blockieren kann und
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Abbildung 4: Resorption und Transport von Vitamin B12. Im Magen wird Vitamin B12 an das R-Bindungsprotein gekoppelt, im Dünndarm von diesem abgelöst und durch den ebenfalls im Magen gebildeten Intrinsic Faktor im terminalen Ileum mittels eines spezifischen Rezeptors resorbiert. Im Blutstrom wird Cobalamin gekoppelt an Transcobalamin-II transportiert.
Abbildung 5: Intrazellulärer Cobalaminstoffwechsel mit zwei Reduktionsschritten und Bildung der beiden aktiven Kofaktoren Met- und Ado-Cobalamin. Bei kombinierten Defekten (Cbl C, D und F Mangel) sind sowohl Homocystein im Blut als auch die Methylmalonsäure im Harn erhöht; bei MetCbl-Defekten ist Homocystein im Blut erhöht und Methionin erniedrigt; bei Ado-Cbl-Defekten findet sich eine isolierte Erhöhung der Methlymalonsäure im Urin.
zudem selbst nicht liquorgängig ist. Die orale oder parenterale Substitution mit hoch dosierter Folinsäure behebt Gedeihstörung sowie Anämie. Der Therapieeffekt am ZNS ist meist inkomplett.
MTHFR-Mangel Dieser Defekt manifestiert sich meist im Säuglingsalter mit Trinkschwäche, zunehmender Mikrozephalie und Entwicklungsregression. Unbehandelt entsteht rasch eine schwere Hirnatrophie (12). Im Blut ist eine deutliche Hyperhomocysteinämie bei erniedrigtem Methionin sowie im Liquor ein schwerer MTHF-Mangel wegweisend für die Diagnose. Das Blutbild ist stets normal. Die Erkrankung spricht durch den Enzymblock im Folsäurezyklus schlecht auf Folinsäuregabe an, jedoch kann die Gabe von Betain und oralem Methionin eine rasche Besserung der Remethylierung bringen.
FOLR1-Mangel Patienten mit einem FOLR1-Mangel zeigen nach anfänglich unauffälliger Entwicklung ab dem 2. bis 3. Lebensjahr eine Gangunsicherheit, erworbene Mikrozephalie sowie therapieresistente Anfälle (12). MTHF im Liquor ist massiv erniedrigt (< 10 nmol/l), der Folsäurespiegel im Plasma sowie das Blutbild sind jedoch unauffällig. Die Diagnose wird durch molekulargenetische Analyse des FOLR1 gestellt.
Unter hoch dosierter Substitution von Folinsäure 3 mg/kg/Tag kann bei früher Diagnose eine rasche Besserung der Symptome eintreten. Vermutlich basiert dieser Therapieeffekt auf einer Diffusion von Folinsäure über die BHS.
Dihydrofolatreduktase(DHFR-)Mangel Ein Defekt der DHFR führt ab dem 3. Lebensmonat zu megaloblastärer Anämie, progredienter Entwicklungsstörung, Mikrozephalie und Krampfanfällen mit globaler Hirnatrophie (12, 13). Neben MTHF ist auch Tetrahydrobiopterin im Liquor erniedrigt, die Folsäurekonzentration im Plasma hingegen normal. 10 bis 30 mg Folinsäure pro Tag p.o. führen zu einer raschen Besserung.
Biotinthiamin-responsive Basalganglienerkrankung (BBGD)
Thiamin wird durch den SLC19A3- sowie SLC19A2-Transporter in Körperzellen aufgenommen, in der Zelle in den aktiven Kofaktor Thiamin-Pyrophosphat umgewandelt und durch den SLC25A19-Transporter in das Mitochondrium aufgenommen, wo es im Pyruvatstoffwechsel wirkt (Abbildung 3). Die Erstbeschreibung genetisch bedingter Störungen erfolgte als infektgetriggerte Enzephalopathie des Kleinkinds mit Bewegungsstörung, Sprachstörung, Somnolenz und Epilepsie
mit symmetrischen Veränderungen der Basalganglien und Ansprechen auf hoch dosiertes Biotin. Überraschenderweise zeigte sich der zugrunde liegende Defekt jedoch in dem zerebralen Thiamintransporter SLC19A3 (14–16). Im Langzeitverlauf ist daher die dauerhafte Substitution von hoch dosiertem Thiamin die Therapie (200 mg/Tag) der Wahl, eventuell in Kombination mit Biotin. Auch hier basiert der Therapieeffekt vermutlich auf dem Prinzip der Diffusion bei hohen Plasmakonzentrationen. Defekte des SLC19A2Gens manifestieren sich als sogenanntes Rogers-Syndrom (Taubheit, megaloblastäre Anämie, Diabetes mellitus). Das Ansprechen auf Thiamin ist variabel und gilt in erster Linie für die Anämie.
Vitamin-B12-abhängige
Stoffwechselstörungen
Vitamin B12 oder Cobalamin ist als Nahrungsquelle ausschliesslich in tierischen Produkten verfügbar. Kein anderes Vitamin hat einen derart komplexen Resorptions- und Transportmechanismus sowie intrazellulären Stoffwechsel, bis schliesslich die zwei aktiven Kofaktoren Met-Cobalamin in der Remethylierung von Homocystein und der Methioninsynthese sowie Ado-Cobalamin im Abbau der Methylmalonsäure (MMA = Methylmalonic acid) zur Verfügung stehen (Abbildung 4 und 5). Auch sind der Cobalamin- sowie
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der Folsäurestoffwechsel die einzigen aneinandergekoppelten Vitamine im menschlichen Organismus.
Störungen in der Resorption und im Transport von Cobalamin Angeborene Defekte in der Resorption sowie im Transport von Cobalamin sind der hereditäre Intrinsic-Faktor-Mangel, der Mangel an R-Bindungsprotein (auch Transcobalamin-I-Mangel genannt), die intestinale Transportstörung (ImerslundGräsbeck-Erkrankung) sowie der Transcobalamin-II-Mangel (17). Alle Defekte manifestieren sich durch eine megaloblastäre Anämie und bei frühem Beginn eine schwere Gedeihstörung. Im Verlauf treten eine Myelopathie mit beinbetonter Schwäche oder langsam fortschreitender Spastik hinzu. Am frühesten manifestiert sich der Transcobalamin-II-Mangel mit systemischen Symptomen im Säuglingsalter. Bei allen Resorptions- und Transportstörungen ist der Cobalaminspiegel im Blut deutlich erniedrigt, Homocystein im Blut und die MMA im Urin sind erhöht. Differenzialdiagnostisch muss bei einem gestillten Säugling ein alimentärer Vitamin-B12-Mangel über die Muttermilch ausgeschlossen werden. Dies geschieht durch Bestimmung des Vitamin-B12-Spiegels im Blut des Kindes sowie der Mutter. Die Therapie der genetischen Resorptions- und Transportdefekte besteht anfänglich in einer täglichen intramuskulären Substitution von 1 mg Hydroxycobalamin, welche je nach Defekt durch niedrig dosiertes orales Hydroxy- oder Cyanocobalamin ersetzt werden kann. Die Therapie durch Folinsäure oder Folsäure kann die megaloblastäre Anämie bessern, verschleppt jedoch die Therapie des Vitamin-B12-Mangels mit dem Risiko neurologischer Spätfolgen.
Defekte im intrazellulären Cobalaminstoffwechsel – kombinierte Defekte Am häufigsten ist der CblC-Mangel (17). Dabei zeigen Säuglinge ab den ersten Monaten anfänglich unspezifische Symptome wie Trinkschwäche und Lethargie, es folgen muskuläre Hypotonie und neu-
rologische Verschlechterung bis hin zu Anfällen und Koma. Zumeist entwickelt sich ein sekundärer Mikrozephalus. Im Blutbild findet sich eine megaloblastäre Anämie, eventuell aber auch Panzytopenie, also eine Reduktion sämtlicher Zelllinien. Im Sinne der Multisystemerkrankung können eine Hepatopathie, Kardiomyopathie und ein Nierenversagen mit hämolytisch urämischem Syndrom auftreten. In den letzten Jahren wurden mehrere Patienten mit einem spät beginnenden CblC-Mangel beschrieben. Dabei kommt es nach oft vorausgehender Lernschwäche zu einem raschen demenziellen Abbau, psychotischen Störungen und erworbener Bewegungsstörung. In der Magnetresonanztomografie (MRI) kann eine Erkrankung der weissen Hirnsubstanz (Leukodystrophie) auftreten. Da sowohl ein Met-Cbl als auch ein Ado-CblMangel resultieren, sind das Homocystein im Blut sowie die MMA im Urin erhöht. In der Therapie wird als wichtigste Substanz Betain zur Verbesserung der Remethlyierung, aber auch täglich hoch dosiert parenterales Hydroxycobalamin verabreicht. Der Therapieerfolg ist auch bei früher Diagnose limitiert, da der Enzymdefekt nicht vollständig kompensiert werden kann.
Defekte im Met- sowie Ado-Cbl-Stoffwechsel Betrifft der Gendefekt lediglich das MetCbl (Cbl E, G und Cbl-Dv1 Mangel), so kommt es zu neurologischen Symptomen in Kombination mit Blutbildveränderungen, welche jedoch erst in der Spätphase der Erkrankung auftreten können. Im Blut ist Homocystein erhöht, Methionin erniedrigt oder normal, die MMA im Urin ist negativ. Die Therapie besteht aus der Gabe von Betain, Hydroxycobalamin sowie eventuell Folinsäure. Bei Defekten im Ado-Cbl-Stoffwechsel (Ado-Cbl-A- und -B-Mangel) kommt es durch die Triggerung kataboler Situationen wie einem Infekt oder Fastenperioden häufig zu akuten neurometabolischen Krisen mit dystoner Bewegungsstörung oder Koma. Einige Patienten zeigen zuvor ein mildes Entwicklungsde-
fizit. Das Homocystein im Blut ist normal, während die MMA im Urin deutlich erhöht ist und unter der Gabe von Hydroxycobalamin bei konstanter Proteinzufuhr rasch absinkt. Die Dauertherapie besteht in einer milden Proteinrestriktion (oder auch nur der Deckung der Proteinzufuhr entsprechend dem altersgemässen Mindestbedarf ) sowie wöchentlicher intramuskulärer Injektion von Hydroxycobalamin. Die Prognose ist vor allem bei Cbl-A-Mangel gut.
Zusammenfassung
Angeborene Defekte im Vitaminstoffwechsel können sich durch Multisystemerkrankungen oder aber durch organspezifische Symptome (Gehirn, Niere) manifestieren. Für die meisten Defekte können spezifische Laboruntersuchungen diagnostisch hilfreich sein. Eine normale Konzentration von Vitaminen im Blut schliesst angeborene Defekte im Vitaminstoffwechsel nicht aus. Selten ist hierfür die Untersuchung von Vitaminkonzentrationen im Liquor nötig. Für fast alle Defekte im Vitaminstoffwechsel sind gute Therapieerfolge möglich – sofern die Diagnose früh gestellt wird.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Barbara Plecko Abteilungsleiterin Neurologie Kinderspital Zürich, Eleonorenstiftung Universität Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: Barbara.Plecko@kispi.uzh.ch
Alle Abbildungen: Courtesy Prof. Dr. med. Barbara Plecko
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