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SYMPOSIUMSBERICHT
Ernährung bei neurologischen Erkrankungen
CLAUDIA REINKE
Patienten, die unter neurologischen Erkrankungen leiden, tragen ein relativ grosses Risiko, früher oder später eine Mangelernährung zu erleiden. Abhängig vom Krankheitsbild und der individuellen Symptomatik sind die Betroffenen oft nicht mehr in der Lage, sich ausreichend zu ernähren, denn häufig erschweren Schluckstörungen die orale Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Anlässlich des 18. Workshops «Moderne klinische Ernährung» in Bern konnten sich die Teilnehmer über das vielfältige Spektrum der neurologischen Erkrankungen sowie über das Ernährungsmanagement bei Schlaganfall, Dysphagie und Dekubitus informieren.
In seinem einführenden Vortrag gab Professor Dr. med. Heinrich Mattle, Chefarzt der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals, Bern, einen umfassenden Überblick in das breite Spektrum neurologischer Erkrankungen und informierte über die wichtigsten Symptome und Behandlungsansätze. Er legte damit eine gute Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen zur Langzeitbetreuung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen von Professor Dr. med. Jean-Marc Burgunder, Bern, der detaillierter auf Symptomatik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten einzelner Krankheitsbilder wie Schlaganfall, Morbus Parkinson, Chorea Huntington und Multiple Sklerose einging. So ist vor allem bei der Huntington-Krankheit darauf zu achten, dass die Patienten aufgrund ihrer Bewegungsstörungen einen erhöhten Energiebedarf (bis zu 4000 kcal/d) haben. Bedingt durch die fehlende Zungenkoordination sowie pharyngeale Störungen, die zu Ess- und Schluckstörungen führen, sollten die Patienten am besten mehrere kleinere Mahlzeiten pro Tag zu sich nehmen, die jeweils genügend Kohlenhydrate enthalten müssen.
Ernährungsmanagement
bei Schlaganfall
Aus einem neuen, 2014 publizierten amerikanischen Schlaganfallreport geht hervor, dass die Stroke-Inzidenz in den USA in den Jahren 1988 bis 2008 um 40 Prozent zurückgegangen ist, was sicher als Erfolg für die gängige medikamentöse Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen gewertet werden könne, wie Professor Dr. med. Reto W. Kressig, Extraordinarius für Geriatrie der Universität Basel, in seiner Einleitung berichtete. Als weiteres Positivum ist darüber hinaus zu werten, dass die Daten auch auf eine Abnahme der schlaganfallbedingten Mortalität hinweisen, das heisst, dass Patienten heute auch bessere Überlebenschancen haben. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist auch ein guter Ernährungszustand. Schlaganfallbedingte Begleiterscheinungen, die zur Behinderung der Nahrungsaufnahme und damit zur Mangelernährung führen (wie z.B. Dysphagie), sollten daher frühzeitig abgeklärt werden, damit rechtzeitig entsprechende Interventionen eingeleitet werden können. Als nützliche Grundlage für das klinische Vorgehen präsentierte Kressig die «Guideline clinical nutrition in patients with stroke» (1).
Nachfolgend sind die wichtigsten Massnahmen zusammengefasst: 1. Alle Schlaganfallpatienten sollten einem
Dysphagie-Screening unterzogen werden. 2. Das klinische Assessment sollte bei
pathologischem Screening regelmässig – in der Frühphase täglich – wiederholt werden. 3. Screening für Malnutrition erforderlich (bis zu 50% der Schlaganfall-Patienten sind bereits vorher mangelernährt gewesen!). 4. Eine frühzeitige Sondenernährung bei schwerer Dysphagie und vorbestehender Malnutrition bietet Überlebensvorteile für die Patienten. 5. Bei zerebrovaskulärem Insult (CVI) bildet sich die Dysphagie in 73 bis 86 Prozent der Fälle innerhalb von 7 bis 14 Tagen zurück; ist eine prolongierte Dysphagie (≥ 7 Tage) mit unverändert grossem Aspirationsrisiko abzusehen, ist eine Sondenernährung unverzichtbar. 6. Bei ungenügender Nahrungsaufnahme und Unverträglichkeit der nasogastralen Sonde ist der Einsatz einer PEG-Sonde zu erwägen; dies ist auch bei länger dauernder nasogastraler Sondenernährung (mehr als 2 bis 4 Wochen) der Fall, obwohl diese Sonden mit weniger Todesfällen und weniger Decubiti einhergehen als PEG-Sonden, wie eine FOOD-Studie zeigte. 7. Für die nasogastrale Anwendung sollten dünne (8 French) Sonden zum Einsatz kommen, um Schleimhautverletzungen zu verhindern und die Verträglichkeit zu verbessern. Eine radiologische Lagekontrolle ist erforderlich. Die Sonde interferiert nicht mit dem Schlucktraining. 8. Angepasst an den Grad der Dysphagie sollte die Sondenernährung möglichst
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SYMPOSIUMSBERICHT
immer mit zusätzlicher oraler Ernährung kombiniert werden; dies fördert auch die Mundhygiene, auf die bei den Patienten zu achten ist. 9. Eine parenterale Ernährung sollte nur in Erwägung gezogen werden, wenn eine enterale Ernährung nicht möglich ist (s. dazu Leitlinien «Klin. Ernährung in der Geriatrie», 2).
Dysphagie – mit hohem Risiko für
Mangelernährung verbunden
Der normale Schluckakt ist ein hochkomplexer, präzis ablaufender zeitlichräumlicher Vorgang, an dem unter anderem mindestens 40 Muskelgruppen und 5 Hirnnerven beteiligt sind, erklärte der Logopäde Hans Schwegler vom Schweizer Paraplegikerzentrum Nottwil. Bei einer Dysphagie kommt es zu einer Transportstörung des Nahrungsbreis von der Mundhöhle bis zum Magen, die dazu führen kann, dass Bolusteile in den Kehlkopfeingang (Penetration) oder sogar in die Luftröhre gelangen (Aspiration), sodass die Gefahr einer Aspirationspneumonie besteht. Die Dysphagie ist bei neurologischen Erkrankungen eine häufige Begleiterscheinung – allein in der Akutphase des Schlaganfalls sind davon bis zu 50 Prozent, bei ALS nahezu 100 Prozent der Patienten betroffen. Schwegler erläuterte das Dysphagie-Screening und die diagnostischen Verfahren und erklärte, wie und woran sich Schluckbeschwerden erkennen lassen. Die Resultate dieser Abklärungen bilden die Grundlage für individuell angepasste Behandlungsmassnahmen, die einen hohen Stellenwert haben, da das Risiko, aufgrund bestehender Schluckstörungen eine Mangelernährung zu entwickeln, die wiederum mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht, sehr hoch ist. Neben den restituierenden (Übungen zur Verbesserung der Schluckfunktion) und kompensierenden Verfahren (Einüben spezieller Schlucktechniken) kommen auch adaptierende Massnahmen zum Einsatz, die von der dipl. Ernährungsberaterin Maja Dorfschmid, Zürich, vorgestellt wurden. Hierzu zählen unter anderem Modifikationen der Nahrungskonsistenz beziehungsweise der Fliesseigenschaften von Geträn-
ken, zum Beispiel durch Andicken oder Pürieren. Dadurch lässt sich der Schluckvorgang oft erleichtern, sodass eine signifikante Steigerung der Energie-, Proteinund Mikronährstoffzufuhr möglich wird und der Gewichtsverlust kompensiert werden kann. Um eine hohe Energie- und Nährstoffdichte zu erreichen, können die Speisen zusätzlich angereichert und in ihrer Beschaffenheit und Textur angepasst werden. Bei Bedarf lässt sich die Nährstoffund Proteinzufuhr noch durch den Einsatz spezieller Trinknahrungen oder Supplemente weiter fördern. Nicht zu unterschätzen sei auch eine schöne Präsentation der Speisen, um den Appetit anzuregen, meinte Dorfschmid. Bei ungenügender oraler Ernährung wird als kurzfristige Massnahme eine begleitende enterale Ernährung mit nasogastraler oder jejunaler Sonde, beziehungsweise bei länger erforderlicher Ernährungsintervention das Legen einer PEG-Sonde notwendig. Diese ernährungstherapeutischen Massnahmen tragen nicht nur zur Gewichtszunahme und -stabilisierung bei, sondern verbessern auch die Lebensqualität der Betroffenen. In seinem sehr praxisorientierten Vortrag ging Dr. med. Martin Rutz von der Rheinburg-Klinik, Walzenhausen, nochmals ausführlich auf die Besonderheiten und die erforderlichen esstherapeutischen Massnahmen bei der Rehabilitation neurologischer Patienten mit Schluckstörungen ein.
Dekubitus verhindern
Wie Dr. med. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur, in seinem Vortrag zur Prophylaxe und Therapie des Dekubitus berichtete, spielen bei der Entstehung von Dekubitalulzera 3 Faktoren, nämlich Druck, Scherkräfte und Reibung, eine zentrale Rolle. Übersteigt nämlich der einwirkende Druck den Kapillardruck, kommt es zu einem Verschluss der kleinen Blutgefässe, da gleichzeitig freigesetztes Gewebethrombokinin die Bildung von Thromben fördert. Durch die schlechter werdende Sauerstoffversorgung sterben die Gewebezellen ab, es kommt sukzessive zur Bildung von Nekrosen und letztlich zur Entstehung von Dekubitalulzera. Wie rasch sich diese Gewebever-
änderungen entwickeln, hängt wesentlich von der Gewebetoleranz ab. Je grösser diese ist, desto länger können Druck und Schwerkräfte einwirken, ohne dass es zu Hautveränderungen kommt. Gerade ältere Menschen, deren Haut dünner und empfindlicher geworden ist, haben daher ein hohes Risiko, bereits nach relativ kurzer Liegezeit Dekubitalulzera zu entwikkeln. Da die Wundheilung oft durch eine gleichzeitig bestehende Mangelernährung beeinträchtigt ist, ist die Heilung solcher Wunden vielfach langwierig. Präventive Massnahmen, wie das regelmässige Umlagern der Patienten, der Einsatz spezieller Matratzen sowie die Druckentlastung gefährdeter Hautstellen, können entscheidend zur Prävention von Dekubitalulzera beitragen. Von besonderer Relevanz ist es aber auch, Fehl- und Mangelernährungszustände zu beheben, um die Heilung bereits bestehender Ulzera zu ermöglichen. Für den Wiederaufbau des Gewebes ist beispielsweise eine ausreichende Zufuhr von Proteinen (Synthese von Wundheilungsenzymen, Proliferation von Zellen und Kollagen, Neubildung von Bindegewebe) sowie von Vitaminen (insbesondere Vitamin C) und Spurenelementen (z.B. Zink) essenziell. Standard-Multivitamin- und Spurenelementsupplemente werden daher für Wundpatienten empfohlen, sollten aber auch vorbeugend eingesetzt werden, wenn Mangelzustände diagnostiziert oder vermutet werden, so Imoberdorf. Klinische Studien konnten inzwischen zeigen, dass eine solche nährstoffspezifische Therapie, beispielsweise durch entsprechend konzipierte Trinknahrungen, die Heilung von Dekubital-geschwüren unterstützen und erheblich beschleunigen kann.
Quelle: «Moderne klinische Ernährung», 18. Workshop: Ernährung bei neurologischen Erkrankungen; unterstützt von Nestlé Health Science und B. Braun. Mittwoch, 30. April 2014, Inselspital Bern.
Weiterführende Literatur: Wirth R, Smoliner Chr et al.; Guideline clinical nutrition in patients with stroke. Experimental & Translational Stroke Medicine 2013; 5:14. Volkert D et al; Klinische Ernährung in der Geriatrie. Leitlinien der DGEM, in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG. Aktuel Ernährungsmed 2013; 38:e1-38.
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