Transkript
EDITORIAL
Lebensmittel als Risiko?
Die Qualität von Lebensmitteln umfasst zahlreiche objektive und subjektive Merkmale. Auch wenn bislang keine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Lebensmittelqualität vorliegt, so ist wissenschaftlich unstrittig, dass diese aus heutiger Sicht umfassend zu sehen ist und im Sinne der vielfältigen Bedeutung von «Essen» und «Ernährung» weit mehr beinhaltet als in der Vergangenheit betrachtet wurde. So wurden die klassischen Qualitätsmerkmale – Genusswert, Gesundheitswert und Eignungswert – inzwischen ergänzt um psychologische, sozio-kulturelle, ökologische und ethische Aspekte. Hinter jeder der genannten Dimensionen von Lebensmittelqualität verbirgt sich eine Vielzahl von Einzelmerkmalen, die bei der Lebensmittelauswahl eine Rolle spielen können. Interessanterweise sind es dennoch vor allem Fragen der lebensmittelassoziierten Risiken, die das Verbraucherinteresse wecken, nicht die positiven Eigenschaften von Lebensmitteln wie ihre gesundheitliche Bedeutung. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Erhebungen vor allem die «concerns» der Konsumenten erfragen – Bedenken, Besorgnis, Beunruhigung stehen im Mittelpunkt vieler wissenschaftlicher Betrachtungen und auch der medialen Aufarbeitung. Lebensmittel als Risiko! Eine von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) im Jahr 2010 in Auftrag gegebene Untersuchung («Special Eurobarometer 354 – Food Related Risks») zeigt beispielhaft die Ängste vieler Verbraucher. Auch wenn die Mehrheit der rund 27 000 Befragten in allen 27 seinerzeitigen Mitgliedsstaaten der EU das Thema Essen und Lebensmittel mit Genuss verbindet, so äusserten rund 80 Prozent der Studienteilnehmer gleichzeitig Besorgnis wegen der Lebensmittelsicherheit. 19 Prozent nannten spontan «Chemikalien, Pestizide und andere Stoffe» als wesentliche Bedenken. Bei einer Auswahl von 10 vorgegebenen Antwortmöglichkeiten waren jeweils rund 30 Prozent der EU-Bürger «sehr besorgt» im Hinblick auf Pestizide, Antiobiotika sowie Kontaminanten wie Quecksilber und Dioxine. Die Studie verdeutlicht auch die Bedeutung der Wahrnehmung von Informationen sowie die Vertrauenswürdigkeit der Informationsquellen bei der Bewertung von lebensmittelassoziierten Risiken. Fehleinschätzungen von Risiken sind die Folge.
Dieser Hintergrund gab den Anstoss, die vorliegende Ausgabe der SZE dem Schwerpunktthema Lebensmittelsicherheit zu widmen und exemplarisch einige Aspekte des facettenreichen Gebietes zu beleuchten. Über aller toxikologischen Erkenntnis steht zunächst das Problem der Risikokommunikation, dem sich Gaby-Fleur Böl angenommen hat. Den Unterschied zwischen echten und vermeintlichen Risiken zu verdeutlichen, heisst ebenso naturwissenschaftliche Erkenntnisse verständlich zu vermitteln wie bestehende Unsicherheiten transparent zu machen. Jürg Zarn und Barbara Engeli zeigen nicht nur, welche Fremdstoffe in Lebensmitteln vorkommen und wie ihre toxikologische Bewertung erfolgt. Sie verdeutlichen gleichermassen, dass auch «natürliche» Inhaltsstoffe von Lebensmitteln gesundheitlich bedenklich sein können – ein Aspekt, der angesichts eines bisweilen naiven Naturalismus beim Umgang mit Lebensmitteln nicht übersehen werden darf. Der engen Verzahnung von Umwelt- und Lebensmittelbelastungen gehen Regula Bickel und Raphael Rossier am Beispiel hormonaktiver Substanzen in Lebensmitteln nach – ein Thema, das gleichzeitig zeigt, dass der Verbraucher selbst einen Beitrag dazu leisten kann, die Schadstoffbelastung zu reduzieren. Der Tatsache, dass auch essenzielle Nährstoffe zu Giftstoffen werden können und ein «Zuviel» ebenso unerwünscht ist wie eine zu geringe Aufnahme, widmet sich ein eigener Beitrag (Andreas Hahn und Alexander Ströhle) – auf die richtige Menge kommt es an. Unser aller Ziel sollte sein, differenziert, seriös und offen zu lebensmitteltoxikologischen Fragen zu informieren. Warten wir also nicht länger auf Schlagzeilen wie «Jetzt sogar Natriumchlorid im Kochsalz nachgewiesen» oder «Ascorbinsäure in Zitronen verunsichert Verbraucher»; kommunizieren wir offensiv über Lebensmittelsicherheit – nicht Unsicherheit –, und lenken wir den Blick wieder darauf, dass Lebensmittel in erster Linie kein Risiko sind, sondern Mittel zum Leben in nie dagewesener Qualität und Vielfalt.
Prof. Dr. Andreas Hahn Institut für Lebensmittelwissenschaft und Humanernährung
Leibniz Universität Hannover
1 4/14