Transkript
MUSKULATUR – DIE ROLLE DER ERNÄHRUNG
Muskulatur im Alter
Mit Tanz und Rhythmik die Mobilität erhalten
Reto W. Kressig
Der mit steigendem Alter zunehmende Abbau der Skelettmuskulatur (Sarkopenie) beeinträchtigt die körperliche Leistungsfähigkeit, reduziert Sicherheit und Mobilität im Alltag und erhöht das Sturzund Frakturrisiko. Die eingeschränkte Lebensqualität und der oft erforderliche, aber schwer hinnehmbare Verlust der persönlichen Unabhängigkeit tragen mit dazu bei, dass die Betroffenen ein deutlich erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko haben. Wie sich diese Entwicklung aufhalten oder zumindest hinauszögern lässt, erläutert Professor Dr. med. Reto W. Kressig, Geriatrie-Lehrstuhlinhaber an der Universität Basel und Chefarzt des Universitären Zentrums für Altersmedizin am Felix-Platter-Spital, in einem Gespräch mit der SZE.
SZE: Es lässt sich sicher nicht vermeiden, dass die Kräfte mit dem Alter nachlassen, allerdings scheinen die ersten Alterserscheinungen schon unerwartet früh aufzutreten! Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen darauf hin, dass die Bein- und Rückenmuskeln lange vor dem 40. Lebensjahr zu schwinden beginnen. Muss das bereits als erstes Anzeichen einer beginnenden Sarkopenie angesehen werden? Prof. Reto W. Kressig: Es ist tatsächlich so, dass sich die Muskulatur aufgrund physiologischer Veränderungen in ihrer Masse und Zusammensetzung zwischen dem 30. und 80. Lebensjahr langsam verändert. Das äussert sich vor allem in einem sukzessiven Abbau der Muskelmasse, wobei wir bis zu einem Drittel der Initialmuskelmasse verlieren. Ob das letztlich in einer Sarkopenie endet, hängt – ähnlich wie bei der Osteoporose – davon ab, wieviel Muskelmasse in jungen Jahren aufgebaut wurde. Sind die Ausgangswerte niedrig, wird man allein aufgrund des altersbedingten Muskelschwundes sicher rascher sarkopenisch werden.
Wie wird die Sarkopenie heute definiert? In der Definition der Sarkopenie gibt es
noch gewisse Divergenzen zwischen europäischen und amerikanischen Spezialisten. Aus klinischer Sicht sollte man jedoch dann von einer Sarkopenie sprechen, wenn der Muskelabbau auch klinisch ins Gewicht fällt. 2010 hat eine europäische Expertengruppe eine praxisorientierte klinische Definition der Sarkopenie bei älteren Menschen ausgearbeitet und entsprechende Kriterien festgelegt, die zur Diagnose herangezogen werden. Demnach wird die Sarkopenie als Syndrom bezeichnet, das durch einen generalisierten und progredienten Verlust der Masse sowie der Kraft der Skelettmuskulatur charakterisiert ist und mit einem hohen Morbiditätsrisiko sowie eingeschränkter Lebensqualität und frühem Tod einhergeht (1). Zur Diagnosestellung wird ein Screening empfohlen, das auf der Ganggeschwindigkeit basiert. Liegt diese über 80 cm/s, ist eine Sarkopenie unwahrscheinlich. Liegen die Werte aber darunter und ist die Muskelmasse reduziert, wird – ähnlich wie bei der Bestimmung der Knochendichte – eine DEXA-Messung vorgeschlagen. Wenn hier die alters- und geschlechtsspezifischen Normwerte der Skelettmuskelmas-
se nach unten abweichen, ist das Vorliegen einer Sarkopenie sehr wahrscheinlich. Klinisch mache ich zusätzlich noch den Ausschluss durch eine einfache Handgrip-Kraft-Messung. Wenn diese auch bei Gehgeschwindigkeiten von unter 80 cm/s noch normal ist, wird man davon ausgehen können, dass keine Sarkopenie vorliegt.
Sollten nicht auch Hausärzte solche Untersuchungen durchführen können? Dann wären die Chancen, frühzeitig einzugreifen zu können, möglicherweise grösser. Meiner Ansicht nach sollte das Screening im Sinne einer Ganguntersuchung bei Patienten ab 60/65 Jahren auch in der Hausarztpraxis routinemässig dazugehören. Wir wissen, dass die korrekt gemessene Ganggeschwindigkeit sehr viel über den gegenwärtigen Gesundheitszustand eines älteren Menschen aussagt. Sie ist zwar nicht sehr spezifisch, kann jedoch als ein allgemeines Symptom für eine allenfalls beginnende Frailty angesehen werden. Ergänzend noch eine Kraftmessung zu machen, wäre sinnvoll, weil Kraft, Muskelzustand und Sarkopenie eng mit
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der Ernährung verlinkt sind. Aus diesem Grund sollte dann auch ein Ernährungsscreening (Mini Nutritional Assessment MNA) erfolgen – das gehört für mich zusammen. Werden solche Untersuchungen beim Hausarzt regelmässig durchgeführt, fällt auf, wenn sich plötzlich die (Fitness-)Werte verändern; dann kann man schon früh mit Gegenmassnahmen beginnen.
Was löst den Alterungsprozess der Muskulatur aus? Kennt man die Mechanismen, die dafür verantwortlich sind? Sind hier auch unterschwellige Entzündungen oder altersbedingte hormonelle Veränderungen beteiligt? Vollständig geklärt sind die dieser Entwicklung zugrunde liegenden Prozesse noch nicht. Es sind verschiedene pathophysiologische Mechanismen daran beteiligt, dass die Muskulatur an Masse und Qualität verliert – darunter sicher auch alterungsbedingte entzündliche und/ oder hormonelle Vorgänge. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen. Ein schon lange bekannter Grund ist beispielsweise, dass nicht innervierte Muskulatur sehr schnell atrophiert und verschwindet. So wissen wir, dass die Alpha-Motoneurone im ventralen Rükkenmark, die die Muskelinnervation sicherstellen und für die willkürlich beeinflussbare Muskelkontraktion zuständig sind, sich mit zunehmendem Alter degenerativ verändern und zahlenmässig abnehmen. «Gealterte» Alpha-Motoneurone sind nicht mehr in der Lage, Signale auszusenden, sodass die Muskulatur zunehmend atrophiert und durch Fettgewebe ersetzt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass von diesem Alterungsprozess nicht alle Muskelfasertypen gleichermassen betroffen sind. Das wussten wir lange nicht. Wenn man jedoch das klinische Bild bei alten Menschen anschaut, ist das nachvollziehbar. Betroffen sind nämlich vor allem die schnellen Muskelfasertypen, die sogenannten Typ-2-Fasern. Im Gegensatz zu den langsam agierenden Typ-1-Fasern werden Typ-2-Fasern von Motoneuronen versorgt, die nur bei intensiven und/oder
sehr schnellen, explosiven Muskelbewegungen aktiviert werden. Man spricht dann im Englischen nicht mehr von «muscle strength», sondern von «muscle power». Es geht darum, wie viel Kraft in einer Millisekunde entwickelt werden kann. Dies spielt beispielsweise eine grosse Rolle, wenn man das Gleichgewicht zu verlieren droht. Für eine erfolgreiche Gegenreaktion ist hier nicht nur Kraft, sondern auch der Zeitmoment wesentlich, damit man sich auf den Beinen halten kann. Dieses Reaktionsvermögen fehlt älteren Menschen und steigert die Sturzgefahr. Das ist auch einer der Gründe, warum wir heute davon ausgehen, dass ein simples Krafttraining bei älteren Menschen vermutlich die falsche Komponente trainiert. Es ist viel besser, ein Muskelschnellkrafttraining zu machen; also nicht mit maximalen Widerständen zu arbeiten, sondern lieber Übungen zu machen, bei denen geringere Widerstände möglichst rasch zu überwinden sind. Es ist besonders die schnelle Kraftentwicklung, die zusammen mit gut funktionierenden haltungskorrigierenden, sogenannten posturalen Reflexen die Gangund Standsicherheit garantiert.
Man sollte doch annehmen, dass automatisch alle Fasern trainiert werden, wenn ein gezieltes Muskeltraining durchgeführt wird. Wenn der Muskel gut ausgebildet ist, also genügend Masse aufweist, heisst das offensichtlich nicht, dass auch die Funktionalität gegeben ist – warum nicht? Man darf sich nicht durch eine grosse Muskelmasse verleiten lassen, Probleme zu übersehen. Es geht hier um die Qualität des Muskels. Der Muskel besteht aus zwei Muskelfasertypen: Die Typ-1-Fasern sind wichtig, um den Körper aufrechtzuhalten; es sind sehr statische Muskeln, aber für die Bewegung, insbesondere Bewegungen, die eine schnelle Kraftentwicklung erfordern, sind die Typ-2-Fasern verantwortlich. Je nachdem, wie ein Training gestaltet ist, wird mehr der eine oder der andere Muskelfasertyp trainiert. Wenn das Training zu einer Hypertrophie des Muskels führt, ist eine Verbesserung zu erwarten in der Funktion, für die der
entsprechende Muskelfasertyp verantwortlich ist. Diese Erfahrung haben wir in den 1990er Jahren gemacht. Damals haben wir zahlreiche Studien mit Krafttraining bei älteren Menschen durchgeführt und konnten beweisen, dass nicht nur die Kraft, sondern auch die Muskelmasse zunimmt – auch alter Muskel ist trainierbar! Aber: Die Leute sind munter weiter gestürzt! Auf die Sturzinzidenz hatte das Training also keinen Einfluss, weil – so glauben wir heute – das klassische Muskeltraining eben mit hohen Widerständen und maximalen Belastungen arbeitet und die eigentliche Muskelschnellkraft in diesem Programm zu wenig berücksichtigt wurde. Das richtige Muskeltraining muss also nicht nur die Zunahme der Muskelmasse im Visier haben, sondern auch die richtige Koordination der neu gewonnenen Muskelkraft, die für die Funktionalität im Alltag wichtig ist. Deshalb sind wir in der Altersmedizin immer mehr der Meinung, dass Bewegungsprogramme Kraft, Bewegung und Kognition gleichermassen trainieren müssen. Deshalb sind Interventionen wie Tai-Chi oder Tanz die effizientesten Trainingsformen für ältere Menschen. Hier sind neben reiner Bewegung auch die Bewegungskontrolle und die Kognition essenziell – mit solchen Massnahmen lassen sich Stürze verhindern und Mobilität erhalten.
Sie sprachen die Kognition an – gibt es Hinweise darauf, dass sich durch solche Interventionen auch die geistige Leistungsfähigkeit und damit das Demenzrisiko beeinflussen lassen? Dazu haben wir interessante Erkenntnisse aus eigenen Forschungsarbeiten gewonnen. So haben Tests mit älteren Menschen, die kognitiv keine besonders gute Fitness mehr aufwiesen, ergeben, dass diese ihre kognitiven Fähigkeiten nach etwa 6 Monaten deutlich steigern, wenn sie zum Beispiel regelmässig DalcrozeRhythmik (variiende Bewegungen zu ständig wechselndem Rhythmus) betreiben oder Dual-task-Situationen einüben, also bei einer Bewegung gleichzeitig kognitive Aufgaben lösen müssen. Ihr Gang wird viel sicherer und regelmässiger, wenn sie so trainiert werden. Das erfor-
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dert viel Konzentration und Koordinationsvermögen – es ist ein Multitasking par excellence, das offensichtlich auch das Gehirn trainiert. Inwieweit sich mit regelmässiger Bewegung allgemeine kognitive Verbesserungen erreichen lassen, ist noch nicht klar. Ich bin jedoch vom Nutzen solcher Aktivitäten überzeugt. Es gibt ein paar Schlüsselarbeiten, vor allem epidemiologische Untersuchungen, die zeigen, dass Leute, die regelmässig tanzen, ein um 80 Prozent geringeres Risiko haben, an einer Demenz zu erkranken. Dies spricht dafür, dass regelmässige Bewegung in Kombination mit kognitiver Aktivität für die geistige Leistungsfähigkeit vorteilhaft ist – vielleicht spielt auch die Musik hier noch eine Rolle.
Wie überprüfen Sie die Funktionalität der Muskulatur bei Ihren Patienten? Wie lassen sich Defizite erkennen? Dazu stehen uns verschiedene Tests zur Verfügung. In unserer aktuellen Forschung nutzen wir vor allem den Continuous Physical Functional Performance Test (CS-PFP 10; [2]), ein standardisiertes, validiertes Verfahren, mit dem sich die persönliche Performance bei einfachen, aber wichtigen Alltagstätigkeiten (z.B. Waschmaschine ausräumen, Einkaufstasche tragen, Boden fegen) überprüfen lässt. Anhand der erreichten Scores lassen sich Koordinationsvermögen, Kraft, Gleichgewicht, kardiovaskuläre Fitness und andere der Testpersonen im Vergleich zur Normalbevölkerung bestimmen und die funktionellen Beeinträchtigungen einschätzen. Die Ergebnisse zeigen uns, ob jemand noch selbstständig leben kann oder bereits dem Pflegeheim nähersteht. Dieser Test ist ein ungemein sensitives Instrument, das wir jetzt im Moment in mehreren wissenschaftlichen Studien nutzen, um zu sehen, inwieweit kombinierte Interventionen von körperlicher Aktivität und Ernährungsmassnahmen einem älteren Menschen einen drohenden Pflegeheimeintritt ersparen können. Wenn wir zum Beispiel sehen, dass ein älterer Mensch vor allem ein Kraftdefizit an den unteren Extremitäten hat, wird die Behandlung des Physiotherapeuten genau dort ansetzen, bei Koordinations-
und Gleichgewichtsproblemen kommen natürlich andere passende Trainingsprogramme zum Einsatz. Und das Tolle ist: Wenn wir nach einer gewissen Zeit den Test wiederholen, sehen wir die Erfolge!
Wie lange dauert das in der Regel? Das hängt natürlich vom Ausgangszustand ab – erste Erfolge zeigen sich aber normalerweise schon nach drei Monaten. Wenn jemand fragiler ist, sieht man etwa nach einem halben Jahr die ersten Besserungszeichen. Selbstverständlich spielt auch hier die Compliance eine wesentliche Rolle – die Effekte verlieren sich sonst relativ rasch wieder.
Es gibt ja das Konzept der «Geriatrischen Rehabilitation» – gehört dieser PFP-10Test in Kombination mit dem nachfolgenden Training zu diesem Programm? Das ist so. PFP-10 kann als Rolls-Royce der Untersuchungs- und Behandlungsmethoden angesehen werden. Wir haben aber im geriatrischen Assessment auch einfachere Tests, um Bewegungs- und Funktionalitätsprobleme zu erkennen. Dazu gehören die erwähnten Handkraftmessungen oder der Timed-Up-and-GoTest zur Bestimmung der Mobilität; auch für das Gleichgewicht gibt es ähnlich einfache Untersuchungsmethoden (z.B. Berg Balance Scale), die es uns erlauben, entsprechende Massnahmen zu finden, um bestehende Defizite zu kompensieren. Das ist das typische Vorgehen der geriatrischen Rehabilitation. Allerdings möchte man sie in der Schweiz derzeit am liebsten aus dem Leistungskatalog streichen, da es zum einen bereits viele fachspezifische Rehabilitationen gibt und die wesentlich umfassendere geriatrische Reha relativ teuer ist. Allerdings ist sie ausgesprochen wirksam, da sie die Gesamtfunktionalität eines älteren Menschen beeinflusst. Rein organzentrierte Rehabilitationen bringen in der Geriatrie wenig, es geht hier im Wesentlichen darum, die allgemeine körperliche Fitness zu stärken. Im Rahmen des DRG-Regimes wurde inzwischen allerdings neu die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung eingeführt, eine akutgeriatrische Spezia-
lität, die für hospitalisierte ältere Patienten mit akutmedizinischen Erkrankungen angezeigt ist. Bei diesen Patienten will man durch interdisziplinäre Behandlungen und frühzeitig einsetzende, intensive Trainingsprogramme dafür sorgen, dass sie in der Krankheitsphase nicht weiter an Kraft und Funktionalität verlieren, sondern nach dem Spitalaustritt körperlich und funktionell möglichst fit sind und wieder nach Hause gehen können.
Das klingt vielversprechend und ist für die Patienten sicher auch eine psychologisch wichtige und motivierende Massnahme. Wie sieht es denn im Bereich der Ernährungsinterventionen aus? Was wird empfohlen, und auf was ist zu achten? Zu beachten ist vor allem, dass ältere Menschen eine höhere Nährstoffdichte brauchen. Ältere Menschen brauchen durch den Muskelmasseverlust rund ein Viertel weniger Kalorien, die Nahrungsmittel müssen also kalorienärmer, aber viel nährstoffdichter sein. Das heisst, dass insbesondere Proteine sowie vitamin-, mineralstoff- und spurenelementreiche Nahrungsmittel aufgenommen werden sollen und leere Kalorien möglichst zu vermeiden sind. Dazu kommen altersbedingte Veränderungen des Gastrointestinaltrakts; so nimmt die Elastizität des Magens ab, er ist schneller gefüllt und wird langsamer entleert als beim jüngeren Menschen, was den Appetit senkt. Deshalb ist es für uns wichtig, dass eine allenfalls erforderliche Ergänzungsnahrung (Trinknahrung) so viele Nährstoffe wie möglich in einem möglichst geringen Volumen enthält, damit keine zusätzliche Sättigung auftritt, die von der regulären Nahrungsaufnahme abhält.
Welchen Einfluss hat die Proteinzufuhr für den Muskelaufbau? Der tägliche Proteinbedarf im Alter ist eher etwas höher als in jüngeren Jahren. Laut neueren Erkenntnissen liegt er bei älteren Menschen bei 1,2 g/kg Körpergewicht. Bei einem mittleren Körpergewicht von 70 kg sollte man also pro Tag 80 bis 90 g Proteine aufnehmen. Wir wissen inzwischen auch, dass es nicht optimal ist, diese Menge in einer Mahlzeit zu
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sich zu nehmen. Sie sollte besser möglichst gleichmässig auf die drei Hauptmahlzeiten verteilt werden, um die Muskelsynthese anzukurbeln. Offensichtlich sind essenzielle Aminosäuren, und hier besonders Leucin, für die Stimulation des Muskelaufbaus wichtig. Leucin ist vor allem in Milchprodukten und Molke enthalten. Molkenprotein gehört zu den schnellen Proteinlieferanten und steht in kürzester Zeit für die Proteinsynthese zur Verfügung – im Gegensatz zum Kasein, das wesentlich langsamer resorbiert wird. Wenn ältere Leute also Kraft- oder Bewegungstraining machen und so die Muskelsynthese stimulieren, sollte man kurz vorher oder danach sinnvollerweise schnell verfügbare Proteine zuführen. Da Molke grösstenteils aus Wasser besteht und der Proteinanteil relativ gering ist, kann man die Molke mit zusätzlichem Molkepulver «verdichten» oder generell auch Molkepulver anderen (kalten) Speisen oder Flüssigkeiten zufügen.
Lassen Sie mich nochmals auf das Thema Bewegung zurückkommen. Sie haben in einem Ihrer Vorträge kürzlich von der wenig erfreulichen Compliance berichtet, die Schweizer Senioren hinsichtlich körperlicher Aktivität an den Tag legen. Woran liegt das? Eine Umfrage bei Schweizer Senioren hat tatsächlich gezeigt, dass weniger als 20 Prozent täglich regelmässig etwa 30 bis 60 Minuten körperlich aktiv sind. Die meisten der Befragten waren der Ansicht, sie machten genug. Offensichtlich ist das Bewusstsein, dass man sich täglich bewegen sollte, mehrheitlich nicht vorhanden – ganz im Gegensatz zu Erfahrungen, die ich in gewissen Regionen der USA gemacht habe, wo Senioren alles tun, um ihre körperliche Unabhängigkeit so lang wie möglich zu erhalten. Aus meinen Erfahrungen mit zahlreichen Unter-
suchungen bei älteren Menschen weiss ich allerdings auch: Je trockener und langweiliger ein Bewegungsprogramm, umso schlechter ist auch die Compliance. Wer dagegen Spass daran hat, hat keine Probleme, regelmässig aktiv zu bleiben. So sind beispielsweise bei der DalcrozeRhythmik 80 Prozent der Leute nach wie vor dabei, und zwar oft bis zu einem halben oder einem ganzen Jahr, was man bei einem reinen Krafttraining eher selten sieht. Als wir uns dann noch entschlossen haben, die Rhythmik nicht nur für Senioren, sondern auch für Kinder anzubieten und eine gemischte Gruppe gebildet haben, kamen wir sogar auf eine Teilnehmerrate von über 90 Prozent. Wenn wir also in unseren Angeboten innovativer werden und mehr Spass anbieten, wird die Aktivität zur Nebensache, vielmehr stehen dann der soziale Austausch und Kontakt im Vordergrund. Die Compliance profitiert also ganz entscheidend von der «Verpackung». Hier sind wir gefordert. Die besten Interventionen taugen nichts, wenn sie wegen fehlenden Interesses nicht durchgeführt werden. Das Dalcroze-Konzept ist inzwischen erfolgreich von verschiedenen Sturzpräventionskampagnen aufgenommen worden (Infos unter www.seniorenrhythmik.ch).
Dann wissen wir ja, was wir zu tun haben! Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor Kressig.
Das Interview führte Claudia Reinke.
Literatur: 1. Cruz-Jentoft AJ, Baeyens JP, Bauer JM, Boirie J et al. Sarcopenia: European Consensus on definition and diagnosis: Report of the European Working Group on Sarcopenia in Older People. Age Ageing 2010; 39 (4): 412–423. 2. Cress ME, Buchner DM, Questad KA et al. Continuous-scale physical functional performance in healthy older adults: a validation study. Arch Phys Med Rehabil 1996; 77 (12): 1243–1250.
Nachfolgende Zeilen werden dem Kirchenvater Augustinus (354–430, Bischof von Hippo, Philosoph und Heiliger) zugeschrieben. Wer auch immer der Autor war: Besser liesse sich das beim Tanzen ablaufende Zusammenspiel von Körper, Geist und Psyche nicht zusammenfassen. Ob der Kirchenvater das selbst auch beherzigt hat?
Ich lobe den Tanz Denn er befreit den Menschen Von der Schwere der Dinge Bindet den Vereinzelten Zu Gemeinschaft.
Ich lobe den Tanz Der alles fordert und fördert Gesundheit und klaren Geist Und eine beschwingte Seele.
Tanz ist Verwandlung Des Raumes, der Zeit, des Menschen der dauernd in Gefahr ist Zu zerfallen, ganz Hirn Wille oder Gefühl zu werden.
Der Tanz dagegen fordert Den ganzen Menschen Der in seiner Mitte verankert ist Der nicht besessen ist Von der Begehrlichkeit Nach Menschen und Dingen Und von der Dämonie Der Verlassenheit im eigenen Ich.
Der Tanz fordert Den befreiten, den schwingenden Menschen Im Gleichgewicht aller Kräfte.
Ich lobe den Tanz.
Oh Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit Dir nichts anzufangen.
Quelle: www.aphorismen.de
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